Meine Eltern wohnten während meiner Kindheit noch in einem kleinen Dorf am Rande des Odenwaldes, und ich ging - wie alle Kinder des Dorfes - in die Schule des Nachbarortes. Jeden Morgen um sechs Uhr klingelte der Wecker und riss mich unwiederbringlich aus meinen Träumen. Der Gang ins Badezimmer, das Ankleiden und das Frühstück waren schnell Routine, und schon bald schaffte ich es sogar, pünktlich in der Schule zu erscheinen. Oft aber war der Weg viel interessanter als das Ziel.

Ich erinnere mich noch sehr genau an einen Tag im November. Es war feucht und kühl, und Nebel lag über Feldern und Wiesen, die im Sommer von reifem Getreide und frisch geschnittenem Gras dufteten. Ich hatte mal wieder ordentlich getrödelt und war nun mit allerlei Verspätung auf dem Weg zur Schule. Meine Mutter hatte mir noch schnell ein paar Brote gemacht und sie mir in den Ranzen gesteckt, bevor ich das Haus verließ. Die Zeit war wieder einmal schneller vorangeschritten als ich, und so mußte ich mich tüchtig beeilen, um noch rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn in der Schule zu sein. Gerade an diesem Tag war es besonders wichtig, weil für die erste Stunde ein Diktat angesagt war, das ich nicht verpassen durfte. So rannte ich zunächst los, doch schon bald verfiel ich - unverbesserlich wie ich damals war - wieder in einen „Klüngelgang“, der mir viel mehr behagte und mir die Gelegenheit bot, meinen vielfältigen Gedanken und Überlegungen nachzugeben. Denn oft kamen mir unterwegs eine Menge Dinge in den Sinn, die mich dann für eine Weile beschäftigten, bevor wieder etwas anderes meinen Geist erfüllte.

Als ich so die schmale Straße entlangging, die aus unserem Dorf hinausführte, und ich gerade darüber nachsann, wie ich wohl die Menschheit mit einer bahnbrechenden Erfindung beglücken könnte, hörte ich ein zunächst leises und dann immer lauter werdendes knatterndes Geräusch. Ich schaute mich neugierig und erschrocken um und sah eines der wenigen Motorräder näherkommen, die es zu dieser Zeit schon gab. Es kam direkt neben mir zum Stehen. Der Fahrer steckte in einer braunen Lederkluft, und auf dem Kopf trug er einen ebenfalls ledernen Helm, wie er damals noch gebräuchlich war. Unter seiner alten Motorradbrille lugte ein dichter Schnäuzer hervor, an dem sich kleine graue Nebeltröpfchen gebildet hatten. Er schob die Brille nach oben und schaute mich an. „Gehst du zur Schule, Kleiner?“, fragte er, und ich nickte, vollkommen fasziniert von der riesigen Maschine und dem satten Motorengeräusch. Es war eine Triumph. Fachmännisch erkannte ich den Zweitaktmotor mit Luftkühlung. „Kannst du mir dem Weg erklären?“, fragte der Fahrer nun. Ich hörte ihn wie von ferne sprechen, als sei er mit seinem Motorrad aus einer anderen Welt. „Jjja,..., natür-lich“, stotterte ich. „Wohin wollen Sie denn?“ „Na zur Schule, Kleiner. Wenn du willst, nehme ich dich mit.“

Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen. Trotz der Warnungen meiner Eltern und meines Lehrers bestieg ich ohne Umschweife den Sozius der Maschine, und schon setzte sich das schwere Motorrad in Bewegung. Die kühle Novemberluft blies mir gewaltig ins Gesicht und nahm mir den Atem. Todesmutig krallte ich meine Finger in die Lederkluft des Fahrers und gab ihm von Zeit zu Zeit ein Zeichen, wenn er die Richtung ändern mußte. So schnell war ich noch nie zur Schule gekommen. Ich erschien so pünktlich zum Unterricht, daß ich mir richtig seltsam vorkam. Natürlich waren meine Gedanken noch eine ganze Weile von dem morgendlichen Ereignis abgelenkt, aber zur dritten Stunde wurde ich abrupt wieder aufmerksam. Kurz nach dem Bimmeln der Schulglocke betrat ein kräftig gebauter Mann mit einem dichten Schnäuzer das Klassenzimmer. Ich erkannte sofort meinen Motorradfahrer wieder, der sich als unser neuer Rechenlehrer vorstellte und sich wohl ebenfalls über das Wiedersehen freute. Er lächelte mich vielsagend an und begann mit dem Unterricht.

An jenem Novembertag veränderte sich für mich die Welt. Rechnen wurde mein Lieblingsfach, und ich freute mich jedesmal wieder auf die sehr unkonventionelle Art, mit der Dr. Helmke, unser neuer Lehrer, uns den Stoff vermittelte. Schon bald war für mich klar, daß mein späterer Beruf mit mathematischen Dingen zu tun haben mußte. Daß es nun doch nicht so gekommen ist, gehört zu einer anderen Geschichte, die ich später einmal gerne erzähle.


© Ulrich Kusenberg


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Beschreibung des Autors zu "Der Motorradfahrer"

Eine kleine Geschichte, die ich in den 80ern in einer Schreibwerkstatt geschrieben habe.

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Kommentare zu "Der Motorradfahrer"

Re: Der Motorradfahrer

Autor: Angélique Duvier   Datum: 30.11.2012 13:22 Uhr

Kommentar: Eine schöne Geschichte,lieber Ulrich. Ich verstehe nur nicht die Bindestriche zwischen einigen Worten.
Liebe Grüße und einen schönen ersten Advent, Angélique

Re: Der Motorradfahrer

Autor: JuuKay   Datum: 30.11.2012 13:43 Uhr

Kommentar: Herzlichen Dank für deinen Kommentar. Schön, dass die Geschichte dir gefällt. Die Bindestriche zwischen einigen Worten sind im Original ganz gewöhnliche Trennstriche, die leider beim Übertrag mit übernommen wurden. Ich habe sie nun beseitigt. Danke für den Hinweis und auch dir eine schöne Adventszeit.

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