Der letzte Tropfen Feuerwasser brannte schwach zwischen Zunge und Gaumen. Für heute würde es nichts mehr geben. Natürlich hätte sie gerne noch das eine oder andere Gläschen gekippt, aber es war keine Zeit mehr. Sie musste zum Kindergarten. Ihren Kleinen abholen.
Etwas wankend auf den Beinen begab sie sich zum Auto, traf beim zweiten Versuch das Schlüsselloch und stieg ein. Irgendwie erwehrte sich der Gurt ihrem Griff und das Einführen ins Verschlusssystem war auch nicht minder problematisch. War sie fahrtüchtig? Keine Zeit. Der Kleine wartete und sie musste noch mit der Kindergärtnerin reden! Sie wollte ihn nicht schon wieder stehen lassen. Sie wollte nicht mehr den vorwurfsvollen Blick und die fordernden Fragen ertragen müssen: „Mama, sei doch einmal pünktlich. Ich bitte dich, okay.“
Und woher hatte er überhaupt diese Höflichkeit her? Bitte, danke und das ganze Gedöns? Na, sicher von seinem Vater. Was brachte er ihm auch für Sachen bei – typisch. Unangepasst, weltfremd, immer in seinen Büchern versunken. Damit kommt man im Leben nicht weit. Das würde sie ihrem Kleinen direkt heute Abend verklickern. Und sie musste ihm auch erklären, wie man sich wehrt. Am Ende würde er versuchen irgendwelche Schlägertypen noch mit einem freundlichen „Bitte unterlasst diesen Akt der Gewalt“ aufzuhalten. Nein, nein, nein! Sie musste ihm zeigen, was ein Mann zu tun hat.
So, der Gurt war endlich drin, der Zündung brannte – ach, wie schön sie brannte, wie Whiskey oder Wodka, dachte sie –, das Auto setzte sich in Bewegung.
Noch zehn Minuten.
Sie beschleunigte und hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest umklammert. Die Augen auf die Straße fixiert. Der leichte Schwindel würde gleich vorbei sein … Ja, sie musste ihn erziehen. Auf niemanden war Verlass. Sie war allein. Und sie musste ein Vorbild werden. Also keinen Alkohol mehr. Die Treffen der AA waren zwar lästig aber notwendig. Das Jugendamt saß ihr im Nacken … „Niemals werde ich meinen Kleinen an diesen Bücherwurm abgeben. Was habe ich bloß damals an ihm gefunden? Wie konnte ich mich verlieben? Ach, mal was anderes, dachte ich, mal nicht so ein Assi, der säuft und sich rumprügelt.“
Bei der Einfahrt auf die Autobahn nahm sie Tempo raus und versuchte im dichten Berufsverkehr eine Lücke zwischen zwei Lkws zu finden. Keiner wollte Platz machen.
„VERDAMMT! Ich habe keine Zeit!“
Mit einem beherzten Lenkmanöver schnitt sie den Wagen hinter ihr und schlenkerte auf die Autobahn so heftig, dass sie gleich auf die linke Spur rausfuhr. Doch sie hatte alles im Griff … „Alles im Griff, ganz ruhig.“
Noch acht Minuten.
Das Hupen hinter ihr hörte sie nicht, da gerade Grönemeyer aus ihrem Radio grölte: „Alkohooooool, ist dein Anker und dein Rettungsboot ...“
„Jetzt einen Drink bei dem Stress. Das wäre es! Aber nein, du änderst dich, junge Dame! Für deinen Sohn. Sie werden sich noch umschauen. Ich werde eine tolle Mutter sein.“
Beim Blick in den Rückspiegel prüfte sie ihren Lippenstift. Seitenspiegel – alles frei – ab geht die Post.
Sieben Minuten.
Und jetzt kam das Unvermeidliche …“Ahh, Stau. Nein, nein, nein! Das darf doch nicht wahr sein! Mensch, fahr doch. Ich darf nicht zu spät kommen. Ich darf nicht... Die Standspur. Nein! Das geht nicht. Ich brauche meinen Führerschein. Ohne ihn bin ich meinen Job los. Schon fünf Punkte. Ach, was solls! Es sind nur noch zwei Kilometer.“ Ruckartig lenkte sie nach rechts und gab wieder Gas. Das Hupkonzert störte sie nicht. Ein Blick auf die Uhr:
Vier Minuten.
„Ja, da ist die Ausfahrt. Ich schaff es pünktlich, mein Kleiner. Was blinkt … fuck, die Bullen. Die Bullen. Nein, das darf doch nicht...“
Das Polizeiauto wartete am Unfallort. Die Beamten waren ausgestiegen und redeten mit den Beteiligten.
Panik stieg in ihr auf als sie das blaue Licht vor sich sah. Sollte sie halten? „Soll ich halten?“ Sie bremste. „Da ist keine Lücke. Mensch, mach doch mal ne Lücke! Da ist ja schon die Ausfahrt. Ich schaff es. Ja, das geht. Vorsichtig, vorsichtig. Ja!“
Von der Autobahn ab.
Noch zwei Minuten.
Die nächste rote Ampel stellte auch kein Problem dar. Der Alkohol machte mutig.
„Boah, nach diesem Ritt gönne ich mir erst einmal was. Einen Doppelten! Genau, für die Nerven. Und als Belohnung. Danach ist Schluss. Dann höre ich auf. Ich werde alles ändern, alles! Ich werde mich nicht mehr über das Leben beklagen, sondern es anpacken. Ja, das schaff ich.“
Kurz vor dem Kindergarten bemerkte sie eine kleine Flasche bei sich im Fußraum. Es war noch etwas drin. Sie beugte sich nach unten, tauchte kurz mit dem Gesicht hinter das Armaturenbrett in die Vorfreude auf den Drink ab und … ein Knall.
Ein Schock durchlief ihren Körper. Sie hatte jemanden überfahren. „Ich hab jemanden überfahren. Nein, das war nur der Bordstein. Ich muss raus und nachsehen was es war. Scheiße, da liegt jemand. Nein, das kann nicht sein. Nein, nein, nein. Ich kann mir das nicht leisten. Nein.“
Sie gab Gas.
„Ich rufe meinen Kleinen an und sage, dass ich später komme. Genau, so mach ich das. Wo ist das Handy? Ah, da. Gut, gut, gut. Ganz ruhig. Es hat keiner gesehen. Puh. Einatmen, ausatmen. Da ist die Nummer …“
Ein Handy klingelte mitten auf der Straße. Es sollte noch lange klingeln.


© koollook


4 Lesern gefällt dieser Text.




Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der letzte Drink"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Der letzte Drink"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.