Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Diagonal- und Überkreuzdenkens,

seit Jahrhunderten geistert sie durch Gedichte, durch Liebesbriefe und Predigten - die Sehnsucht danach, dass aus zweien „Eines“ werden möge. Selbst in Kriegsgesängen ist die Rede davon, dass der Kamerad an meiner Seite mir so nahesteht, „als sei's ein Stück von mir“.

Gerade neulich war ich Trauzeuge bei einem befreundeten Brautpaar, und auch in der kurzen Ansprache des Standesbeamten war immer wieder die Rede davon, dass es das höchste Glück auf Erden sei, wenn aus „zweien eine Einheit“ würde.

Ich musste in den folgenden Tagen oft daran zurückdenken, wobei sich mir aber mehr und mehr die Frage aufdrängte, ob es überhaupt erstrebenswert für zwei Individuen ist, eine Einheit zu werden. Nehmen wir ein Beispiel. Mann A ist der Meinung, dass Plausibilität, sorgfältige Prüfung und Abwägung einer Aussage besonders wichtig sei. Frau B jedoch hält Fantasie, eine Prise Verrücktheit, Unberechenbarkeit und Unlogik für viel wichtiger und meint, dass sich ein Bauchgefühl keinesfalls in Excell-Tabellen erfassen ließe.

Ich stelle es einmal als Selbstverständlichkeit hin, dass diese Rollen keinesfalls geschlechtsspezifisch sind, sondern bedenkenlos auch vertauscht werden könnten.

Nur tritt der Fall ein, dass die beiden eine Einheit werden. Natürlich nicht körperlich in Form eines miteinander verschmolzenen, somatischen siamesischen Zwillings, sondern dass sich die Weltbilder, die Lebenswünsche, die Seinsgefühle beider nahtlos zusammenfügen.

Werden sie dann zu einem Doppel-A, einem Doppel-B oder einem beständig schwankenden, zweifelnden und seine Aussagen ständig widerrufenden A-B-Wesen?

Nehmen wir die beiden Fälle A und B. In einem Falle wäre es eine bedingungslose Unterwerfung der Poesie, der Ahnung, des Fühlens unter das strenge Regiment der kalten, gnadenlosen Realität. Im umgekehrten Fall eine Unterwerfung der Vorsicht, der sorgfältigen und durchaus auch verantwortungsbewussten Prüfung aller verfügbaren Parameter unter das Diktat einer nebligen, nicht zu erfassenden Beliebigkeit.

Bleibt als dritte Möglichkeit der Fall A-B. Das bedeutete, dass das „Einssein“ durch ein Zwitterwesen verkörpert würde, in dem zugleich A und B wohnten. Doch ist es überhaupt möglich im zerreißenden Kraftfeld zweier Pole, die so gegensätzlich sind, wie sie nur sein können, zu einem erfüllten Leben zu finden?

Es gibt kluge Leute, die sprechen in einem solchen Fall von der Dominanz der Kompetenz. Je nachdem wie eine Konfliktsituation beschaffen ist, soll derjenige die Führung und die Dominanz übernehmen, dessen Kernkompetenzen in diesem einen Fall – und nur in diesem – relevant sind, lägen die Voraussetzungen anders, müsse das Szepter der Meinungsherrschaft unmittelbar an den anderen übergeben werden. Diese Übergabe geschehe jedoch immer aus Einsicht, niemals aus Macht- oder Unterdrückungshunger oder beim Gegenstück infolge der Charaktereigenschaft eines Menschen, den Botho Strauss so trefflich beschrieben hat, dass ich die betreffende Passage hier wörtlich zitieren möchte. Es handelt sich um eine Person...:

„, die sich in Gegenwart jedes Menschen, der eine feste Behauptung aufstellt, geradezu windet vor Zustimmung, der’s voller Bestätigungsdrang gar nicht erwarten kann, in ein erlösendes Nicken und Bejahen zu verfallen, sich von ganzen Herzen sinken lässt in die Zustimmung.“ *).

Genau betrachtet bedeutet das doch nicht anderes als einen Versuch, zwei nicht zu vereinbarende Lebensentwürfe bzw. zweierlei Formen des ins Leben-Geworfenseins zu einer Schimäre zusammenzuschweißen, Ist es wirklich wünschenswert, in solchen Fällen nach „Eins­sein“ zu gieren?!

Ich halte es unter solchen Umständen für weit erstrebenswerter, wenn die zwei zwei bleiben, in stolzem Gegenüber, jeder für seine Form der Weltsicht eintretend. Dies darf jedoch keineswegs bedeuten, dass dieser Stolz einen von beiden dazu verführt, die Meinung des anderen erst gar nicht vernehmen zu wollen.

Immer ist in einer noch so gegensätzlichen Ansicht der Fetzen eines Gedankens, der Ansatz einer Idee enthalten, die geeignet ist, die eigene Meinung zu erweitern, ihren Wert als Lebensmotto zu steigern, ihr zusätzliche Perspektiven hinzuzufügen.

Deshalb bin ich für die Entschleierung des Mythos der Einswertung. Auch zwei vollkommen unterschiedliche Einzelmenschen können gemeinsam an dem Strang ziehen, mit dem man die Wahrheit näher zu sich herbeiholt, ohne dass einer mit dem jeweils anderen durch Verschmelzung „einswird“.

Mit dem Wunsch an Sie, eine Gegenmeinung niemals als Feindschaftsbezeugung sondern eher als Quell zusätzlicher Erkenntnis zu betrachten und zu nutzen, möchte ich mich für ihre heutige Aufmerksamkeit bedanken.

___________________________
*) Botho Strauss „zu oft umsonst gelächelt“ Hanser-Verlag 2019


© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Über den Mythos der Einswerdung (Episode 75)"

Fünfundsiebziger Vortrag des Professors Hirnzwick aus meinem leider unveröffentlichten und dadher auch unverkäuflichen Buch "Professor Anatol Hirnzwicks abenteuerliche Gedankenwelt"

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Kommentare zu "Über den Mythos der Einswerdung (Episode 75)"

Re: Über den Mythos der Einswerdung (Episode 75)

Autor: Michael Dierl   Datum: 21.02.2021 15:12 Uhr

Kommentar: Hmmm......ganz gelesen! Nette Idee, dass mit dem "Einswerden" NUR gibt es da leider die Polarität der unterschiedlichen Charakteren und wehe dem eines der Pole wird krank, d.h. gerät aus dem Gleichgewicht und so in eine Abhängigkeit. Da möchte ich nicht derjenige sein, der in diese Abhängigkeit gerät. Wie schnell wird dann so eine, von der Logik gesteuerten Gemeinsamkeit, in eine Einsamkeit. Wenn der Partner über die Vernunft hinaus nicht soviel Liebe geben kann ist eine solche Beziehungskiste keinen Pfifferling wert. Nur kann man das im Vorfeld schlecht abstecken in wie weit ein Partner dies kann! Deswegen ist auch hier das Glück eine der wichtigsten Variablen im Spiel der Gemeinsamkeit und natürlich der Hingabe oder sagen wir mal Liebe! Denn Liebe vergeht wie der Rauch im Wind! Es gibt Menschen, die können kein Leid ertragen und welche die einfach nie aufgeben. Die letztgenannten bewundere ich, weil es doch eine Riesen Aufgabe ist und hat auch nix mit religiöser Erziehung zu tun. Es gibt eben solche und andere Menschen. Wie es so schön heißt die Stecknadel für sich selbst im Heuhaufen zu finden ist eben nicht einfach! UND, jeder wird irgendwann mal krank! Dann weiß man mit wem man es zu tun hat!

LG Michael - schön geschrieben und mich nachdenklich gemacht!!!

Re: Über den Mythos der Einswerdung (Episode 75)

Autor: Verdichter   Datum: 22.02.2021 0:05 Uhr

Kommentar: Lieber Professor Schwurbelzwirn/ heute Hirnzwick, wie immer sind das alles sehr kluge Gedanken. Dies kann ich bedenkenlos anerkennen, denn ich teile sie in großen Teilen. ;)
Wer möchte aus schwarz-weiß schon ein verwaschenes Grau machen? Und doch gibt es noch mehr Möglichkeiten....wie das Symbol für Yin und Yang wunderbar veranschaulicht.

Gruß, Verdichter

Re: Über den Mythos der Einswerdung (Episode 75)

Autor: mychrissie   Datum: 22.02.2021 10:32 Uhr

Kommentar: Wow, das hab ich ja gar nicht verdient, für meine Gedanken, die ich "dank" des Corona-Lockdowns zu Ende schreiben konnte, so viel Feedback zu bekommen.

Übrigens dass Schwurbelzwirn heute anders heißt, hat einen guten Grund. so lässt sich jede, um neue Episoden erweiterte Ausgabe besser von den vorangehenden unterscheiden. :-)))

Ist ja auch bei anderen menschen so. Wenn sie sich entscheiden, Künstler zu werden, also ihr Leben ändern, legene sie sich ja auch oft einen anderen Namen zu.

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