Wir wohnten in Bochum Riemke in einem der alten Bergarbeiterhäuser, das noch von meinem Urgroßvater stammte. In den zwanziger Jahren war er aus Ostpreußen gekommen und Arbeit auf der Zeche Constantin gefunden. Der Bergbau boomte zu der Zeit und Siedlungshäuser, in der Art, wie wir sie bewohnten, mussten damals förmlich aus dem Boden geschossen sein. Das wenigstens hatte mir mein Großvater erzählt. Er war schon hier in diesem Haus geboren worden. Bei meinem Urgroßvater war der polnische Akzent mit dem harten R noch klar zu hören gewesen, mein Großvater aber sprach in einer Mischung aus Ruhrgebietsdialekt und Masematte. Doch dies war das einzige, was die beiden unterschied und die Tatsache, dass der Immigrant als Schlepper arbeitete, während sein Sohn bereits Hauer geworden war.
Auch mein Vater begann eine Lehre auf der Zeche Constantin und sicherlich wäre auch er sein Leben lang Bergmann geblieben, wenn nicht Ende der fünfziger Jahre das Zechensterben begonnen hätte, wovon auch die Zeche Constantin betroffen war und bis 1973 vollends geschlossen wurde. Glücklicherweise entschloss sich General Motors zeitgleich zu der Kohlenkrise, ein Werk auf dem alten Gelände der Zeche Dannenbaum zu errichten und mein Vater, mit seiner hervorragenden Mechaniker Ausbildung, wechselte bereits 1962 ans Fließband und baute mit an dem Opel Kadett A. Hier arbeitete er mit Friedrich Juskowiak zusammen. Herr Juskowiak war unser Nachbar, fast zwanzig Jahre älter als mein Vater, und bewohnte mit seiner Frau den anderen Teil unseres Doppelhauses. Rita war seine zweite Frau. Die erste war gestorben, als sie Rudolf zur Welt brachte. Damals war Herr Juskowiak Mitte vierzig und meine Mutter machte sich Sorgen, wie er den Jungen nur allein großziehen wolle. Es muss wohl auch nicht so einfach gewesen sein, doch dann traf er Rita, die junge Frau Anfang zwanzig, die sich aus einem unerfindlichen Grund in den Kopf gesetzt hatte, einen Mann mit Kind zu heiraten und in unsere Siedlung zu ziehen.
Herr Juskowiak war ein ruhiger Mann. Es war nicht seine Art, große Reden zu führen und er trank auch nicht, dass er von meinem Vater als angenehmer Nachbar empfunden wurde. Das einzige Vergnügen was er sich gönnte war sein sonntäglicher Gang auf den Fußballplatz. Herr Juskowiak war ein leidenschaftlicher Anhänger von Wattenscheid 09 und in der Zeit als Hannes Bongartz und Carlos Babington noch für die Mannschaft spielten, träumte er sogar von der Bundesliga, was meinen Vater zu der Aussage verleitete, dass er damit bewiesen hätte, keine Ahnung von Fußball zu besitzen, da es in dieser Stadt nur einen Verein gäbe und das hieße nun einmal VfL Bochum.
Ansonsten aber verstanden sich die beiden gut, ebenso wie die Frauen. Meine Mutter kannte Frau Juskowiak noch von der Schule. Sie waren beide in eine Klasse gegangen. Später hatten sie sich dann aus den Augen verloren, bis Rita unseren Nachbarn heiratete. Zu der Zeit saß meine Mutter bereits als Kassiererin bei Schlecker, während Rita bei Standard Elektrik Lorenz arbeitete. Meine Mutter brachte mich erst spät zur Welt, dass Frau Juskowiak solange ich mich erinnern kann, für mich immer wie eine alte Frau wirkte, obwohl sie erst Anfang vierzig war.
Dies war ungefähr die Zeit, dass Herr Juskowiak in Rente ging und sich nur noch seinem Garten widmete. Mein Vater war neidisch auf ihn, aber nach eigenem Bekunden hatte er wohl noch mindestens fünfzehn Jahre zu arbeiten, um sich ebenfalls endlich zur Ruhe zu setzen. Für Herrn Juskowiak war dies eine wundervolle Zeit, zumal sein geliebtes Wattenscheid 09 es tatsächlich geschafft hatte, in die Bundesliga aufzusteigen und er nun samstags zum Lohrheidestadion zog, um sich die Spiele gegen Bayern München und Fortuna Düsseldorf anzusehen.
Rudolf war nun bereits Mitte zwanzig und von zu Hause ausgezogen, dass nur noch das Ehepaar nebenan wohnte. Obwohl Herr Juskowiak nun den ganzen Tag über zu Hause war, wollte seine Frau weiterhin arbeiten. Ihre Firma Standard Elektrik Lorenz war 1986 an Alcatel verkauft worden und schließlich 1988 an Nokia. Nun arbeitete sie in der Produktion von Telefonen und mochte die Tätigkeit auch eintönig sein, so schien sie doch damit zufrieden.
Manchmal trafen sich meine Eltern am Sonntag mit ihnen im Garten zum Kuchenessen. Frau Juskowiak backte ausgezeichnet und im Gegenzug brachte meine Mutter eingemachtes Obst auf den Tisch. Für mich waren diese Gesellschaften immer langweilig. Die Erwachsenen saßen zusammen und redeten. Ich konnte den Sinn darin nicht sehen. Manchmal kam es mir so vor, als ob auch Herr Juskowiak sich dabei langweilte. Meist hörte er nur den Frauen zu und einzig, wenn mein Vater von Fußball redete, war er für eine halbe Stunde abgelenkt. Wenn ich bei diesen Treffen einen Spielkameraden gesucht hätte, so wäre er mein erster Kandidat gewesen. Aber er war schon zu alt und begnügte sich damit, mir gelegentlich zuzuzwinkern. Ich habe Herrn Juskowiak immer als freundlichen Mann in Erinnerung behalten.
2005 starb er. Das war auch das letzte Mal, dass ich Rudolf sah, der zur Beerdigung kam. Danach wurde es ruhig im Nachbarhaus. Nur noch Rita Juskowiak, inzwischen Mitte fünfzig, wohnte dort und da sie nun eine alleinstehende Witwe war, kam sie häufig zu meiner Mutter herüber. Manchmal kam sie mir einsam vor, aber sie behauptete stets, dass es ihr gut ginge und sie genügend Menschen bei ihrer Arbeit treffen würde.
Die Stadt stöhnte auf, als bekannt wurde, dass Nokia das Werk in Riemke schließen wolle. Zu dieser Zeit arbeiteten 2.300 Menschen dort und neben Opel war es ein fester Bestandteil der Bochumer Beschäftigungskultur geworden. Als die Mitarbeiter aus Angst vor der Zukunft auf die Straße gingen, um zu protestieren, war auch Rita dabei. Sie hielt sich im Hintergrund, doch war sie bei jeder Aktion dabei. Manchmal begleitete sie meine Mutter aus Solidarität. Oft saß Frau Juskowiak nun abends bei uns und meine Eltern gaben sich redlich Mühe, sie zu beruhigen, was ihnen auch leidlich gelang. All die Protestaktionen halfen nichts. 2008 wurde das Werk nach Rumänien verlagert und zweitausend Mitarbeiter verloren ihre Arbeit. Rita war eine von ihnen und zum ersten Mal, seit ich sie kannte, sah ich wie der Mut in ihren Augen erlosch. Meine Mutter meinte, dass es nicht so schlimm sei und sie alles tun würde, dass Rita bei Schlecker arbeiten könne. Doch wenn meine Eltern allein waren, gestand meine Mutter, dass es wirklich schlimm sei und heutzutage nichts mehr als sicher angesehen werden konnte. Mein Vater entgegnete, dass er wirklich glücklich sei, bei Opel zu arbeiten.
Als Rita ging war sie Ende fünfzig. Ihr letzter Arbeitstag war ein Dienstag und danach kehrte sie still in das kleine Zechenhaus zurück. An diesem Abend kam sie nicht zu uns herüber. Und auch am folgenden Tage nicht. Erst am Freitag wurde sie von meiner Mutter in ihrem Bett gefunden. Sie hatte eine Überdosis Schlaftabletten genommen.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Als Rita ging"

Re: Als Rita ging

Autor: noé   Datum: 10.05.2014 17:39 Uhr

Kommentar: Das liest sich erschütternd in seinem Pragmatismus.
Du machst es durch Deinen Stil interessant, wie ein Blick in fremde Fenster.
noé

Re: Als Rita ging

Autor: Mark Gosdek   Datum: 10.05.2014 17:53 Uhr

Kommentar: Danke, Noé. Mir ist das auch erst klar geworden, als ich es geschrieben habe. Zeche, Opel, Nokia, Schlecker, all die Unternehmen gehörten zum normalen Leben der Bochumer. Ich glaube, solch ein Arbeitsweg war in Bochum durchaus denkbar. Mark

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