Als sie den kleinen Laden betrat, wurden die Straßen im Viertel schon mit dem gelblichen Licht alter Straßenlaternen beleuchtet. Ihr Blick war streng, wie jeden Abend. Ihre Gesichtszüge waren so markant, dass sich ein dunkler Schatten unter ihre Wangenknochen legte.
„Guten Abend, Theo“, sagte sie freundlich, aber nicht überzogen.
„Hallo“, entgegnete ich.
Ich griff schon in das Regal über der Theke, da bemerkte ich, dass sie vor dem großen Weinschrank stehen geblieben war. Sie ging in die Hocke, nahm eine Flasche heraus und studierte das Etikett. Ihre Haare fielen unordentlich über ihre Schultern. Als sie sich einige Strähnen hinter das Ohr strich, kam das gedehnte Ohrloch an der kahlen Seite ihres Kopfes zum Vorschein. Sie stellte die Flasche neben sich auf den Boden und schwang den alten, löchrigen Rucksack von ihrem Rücken nach vorn. Sie griff hinein und nahm ein schwarzes Portemonnaie heraus. Sie öffnete es, warf einen kurzen Blick hinein und steckte es wieder in ihren Rucksack. Sie erhob sich und griff in ihre Hosentaschen. Nach einer Weile zog sie einen zerknitterten Schein aus einer der hinteren Taschen und zählte das Kleingeld in ihrer Hand.
„Ich kann dir auch was auslegen.“, sagte ich.
Ich hatte ihren Namen vergessen, obwohl sie ihn mir schon einmal gesagt hatte. Aber es war nicht nötig, ihn zu nennen. Sie war die einzige Kundin.
„Trinkst du eins mit?“ fragte ich und hielt ihr eine Flasche Astra Rotlicht hin.
„Klar“, sagte sie und nahm mir das Bier aus der Hand.
Wir gingen Richtung Theke und setzten uns auf die alten Campingstühle, die neben dem DVD-Regal standen.
„Meine Tochter, die ist in deinem Alter. Aber sie ist ganz anders als du. Sie hat vor kurzem erst geheiratet.“
„Das ist schön! Glückwunsch“ Sie lächelte.
„Einen Albaner hat sie geheiratet.“
„Und wie war die Feier?“, erkundigte sie sich.
„Ich war nicht dabei.“
Die junge Frau schaute nach unten. Nach einer Weile hob sie die Bierflasche an und trank einige Schlucke. Als sie wieder absetzte, war die Flasche halb leer. Sie stellte sie neben ihren Stuhl auf den Boden und holte eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Jackentasche. Eine Lederjacke, alt, wahrscheinlich schon steif, kaputt an einigen Stellen. Sie öffnete die Schachtel und warf einen kritischen Blick hinein. Sie nahm den letzten ihrer Glimmstängel heraus und steckte ihn sich zwischen die blassen Lippen. Sie zog den Rauch tief ein, schloss die Augen und behielt ihn eine Weile in ihrer Lunge.
„Dein Zigarettenkonsum ist nicht mehr feierlich“, sagte ich.
„Ich weiß. Aber wir müssen alle sterben.“ Ihre Stimme klang müde, ihr Blick war versöhnlich.
Ich trank einen Schluck von meinem Bier. Nach einigen Sekunden und etwas mehr Bier, spürte ich einen leichten Druck auf meiner Blase. Ich war kurz davor, aufzustehen, da fragte ich mich, ob ich die junge Frau mit den wilden Haaren wirklich allein lassen sollte. In der Kasse befanden sich 150 Euro, aber für sie ist das wahrscheinlich nicht wenig. Der Ladenschlüssel lag gemeinsam mit ein paar Büroklammern und Kleingeld in seiner kupferfarbenen Schale in einer Ecke des Tresens. Als der Druck stärker wurde, versuchte ich erneut, mich zu überwinden.
„Ist alles gut?“, fragte sie.
Sie musste bemerkt haben, wie ich innerlich mit mir rang.
„Jaja, alles in Ordnung“, sagte ich. „Ich geh nur mal kurz auf die Toilette.“
Jetzt hatte ich es gesagt und musste gehen. Ich stand auf, stellte meine Bierflasche auf den Boden und ging durch den Vorhang neben dem Tresen. Ich zog ihn hinter mir zu und ging durch den kleinen Gang, der in den Innenhof führte, wo sich die Toiletten befanden. Ich drückte die Klinke nach unten und schaute hinaus. Es war dunkel. Überall lagen leere Bierflaschen, Müllsäcke, Essensreste. Die Graffitis an den Wänden der angrenzenden Häuser ließen sich im schwachen Licht der Laternen gerade noch erkennen.
Die Luft roch verbraucht.
Ich ließ die Tür wieder zu fallen und ging so leise wie möglich zum Vorhang zurück. Ich öffnete ihn einen winzigen Spalt und sah die junge Frau mit dem Rücken zu mir auf ihrem Stuhl sitzen. Sie trank immer noch an ihrem Bier und sie rauchte immer noch an ihrer Zigarette. Ich schloss den Vorhang, zögerte erneut. Vielleicht hatte sie mich ja gehört? Ein letztes mal warf ich einen Blick in den Laden. Noch immer saß sie da und blickte vermutlich in die Ferne. Sie zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch langsam wieder aus. Ich drehte mich um und ging so schnell wie möglich auf Zehenspitzen über den Gang. Ich bemühte mich, beim Öffnen der Eisentür keine Geräusche zu machen. Der Druck war mittlerweile unerträglich geworden. Ungeachtet des verursachten Lärms ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und rannte über den Hof.
Als ich den Vorhang aufzog, war sie nicht mehr da. Ich schaute sofort, ob etwas fehlte. Als ich an den Tresen herantrat, sah ich einen kleinen Zettel:
Hab abgeschlossen. Der Schlüssel liegt jetzt draußen unter der Fußmatte. Bis bald!
Eine Schachtel Lucky Strike und eine Flasche Schwarzriesling fehlten. Dafür lag ein zerknitterter 10 Euro-Schein neben dem Zettel. Ich ging zur Tür, trat heraus auf die Straße und schaute mich um. Dann hob ich die Fußmatte an und nahm den Schlüssel darunter hervor.
Die Luft roch verbraucht.


© ck


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