Der König war traurig. Dies war kein Zustand, von dem es zu behaupten galt, dass er selten eintrat. Fast schon waren die Untertanen geneigt, ihn als völlig normal anzusehen und die Tage, in denen die Fröhlichkeit durch die Gänge des Schlosses schwebte, waren äußerst selten.
Die Dienerschaft behauptete, dies jedoch nur hinter vorgehaltener Hand, dass die derzeitige Stimmung in den hochherrschaftlichen Kreisen selbst das Eis gefrieren lassen würde.
Viele aus dem alten Kriegsheer des Königs glaubten, dass ihm nur ein ordentlicher Kampf fehle. Immerhin herrschte seit über dreißig Jahren Frieden in dem kleinen Reich und diese Tatsache allein sei schon bedenklich genug.
Andere wiederum – und hierbei handelte es sich fast ausschließlich um den Hofstaat – meinten den Grund für diese Traurigkeit in der dekorativen Umgestaltung des Schlosses zu wissen, dessen sich die Königin seit einiger Zeit mit tiefster Hingabe widmete.
Die Anschaffung neuer Fackeln für den Thronsaal, deren Stiele im tiefsten Cyan leuchteten, mochte möglicher Weise noch als eine innovative Errungenschaft der Neuzeit durchgehen. Die Vorhänge, die auf Geheiß der Königin jedoch nicht durch am mächtigen Durchlass, sondern auch vor den Ausblicken angebracht und in der Farbstrahlung von ihr als mint bezeichnet wurden, waren doch äußerst gewöhnungsbedürftig.
Wie auch immer, nach diesem Angriff auf die kollektive Iris war der Hofstaat der unumstößlichen Meinung, dass der König sehr wohl über das Gestein aus dem die Mauern gebaut worden waren, herrsche, niemals jedoch über den Raum zwischen ihnen.
Ob es nun wirklich an der Kriegssehnsucht oder an der mangelnden Kenntnis innenarchitektonischer Finesse lag, blieb ungeklärt. Der König blieb weiterhin traurig.
Nun gab es in dem Land nur eine Person, die von sich selbst behauptete, die tiefsten Qualen der Seele zu kennen und ihr Linderung verschaffen zu können. Der Hofnarr, welcher sich zumeist auf den Stufen vor dem Throne hinlümmelte – dies im Übrigen nur aus beruflichen Gründen, hätte er doch viel lieber ordentlich mit beiden Ellbogen auf der Platte an einem Tisch gesessen – lächelte nur über die Mutmaßungen der Bewohner. Wie sollten sie, die dem König niemals wirklich näher als fünf Schritt kamen, ihm, der immerhin den Fußgeruch des Herrschers kannte, etwas über den seelischen Zustand des Chefs erzählen können?
Im Grunde, so urteilte der Narr, sei es doch auch vollkommen unwichtig, warum der König in diese Stimmung geraten sei, einzig die Frage, wie er aus ihr zu befreien sei, war doch interessant. Hierzu kannte er, und er allein, das Mittel. Eine Feier.
Er dachte nicht an ein gewöhnliches Fest, bei dem die Tische von Leckereien zu zerspringen drohten. Auch nicht an Orgien des alkoholischen und fleischlichen Genusses und schon gar nicht an seine gauklerischen Darbietungen, die so manchen trüben Gedanken zu vertreiben vermochten.
Er dachte an etwas Kulturelles, welches sowohl den König erfrischte, als auch den höfisch modernen Anspruch der Königin entsprach.
Im Dorf, so wusste eine Dienstmagd ihm zu berichten, waren seit einigen Tagen Musikanten eingekehrt. Dies fahrende Volk, welches sich sowohl durch Laute und Schellen als auch durch flinke Finger auszuzeichnen wusste, durchstreiften zuhauf die Gegend und sicherlich wäre es dem Narren nicht eingefallen, sich ihrer für einen großen Abend zu vergewissern, hätte es die Magd nicht gedrängt ihm ebenfalls zu berichten, dass es sich bei ihrer Art von Musik um eine vollkommen neuartige Form handelte, die die beiden Musiker selber als Jazz bezeichneten.
Der Narr war ein aufgeschlossener Mann, jedenfalls soweit er selber sich dafür halten konnte. Jazz, dieses Wort so neu für sein Gehirn und Zunge, vibrierte trotzdem auf seinen Lippen, dass er glaubte, es könne sich nur um heitere Weisen zur Befreiung der Seele handeln und so entschloss er sich, die beiden Musiker aufzusuchen.
In einem Gasthause bei einem Humpen Bier bestätigten die beiden ihm seine Vermutung, wie sehr der Klang des Jazz erquicke und als er ihnen von seinem Vorhaben berichtete, erklärten sich beide sofort bereit, einem Musikabend im Schlosse zu veranstalten.
Frau Königin, zwischen ihrer gedanklichen Beschäftigung von Vorhängen und Glasperlenschnüren, mit denen sie gerne die Raumdurchgänge zu verschönern gedachte, war über den Einfall des Hofnarren angetan und allein das Wort Jazz gefiel ihr so gut, dass sich den Schlossmönch in seinem kleinen Scriptorium neben der Kapelle anwies, ihr die Buchstaben als Bild zu fertigen, welches sie über ihre Bettstatt anbringen lassen würde.
Es war also beschlossen und der Narr von der Königin beauftragt, diesen Abend zu organisieren.
Der Hofstaat, ein Volk aus Rittern und Gelehrten, Burgfrauen und Fräuleins, erfreuten sich an dem Ausblick eines Festes und Jazz, diese neue, hochmoderne Musik, von der sie alle nun schon so viel gehört hatten und es nun endlich hier am Hofe Einzug gehalten hatte, versprach Rhythmen, neu beschwingend und fröhlich, dass sie die alten, düsteren Tage für immer in die Finsternis des Vergessens verbannten.
Und mancher von ihnen erinnerte sich nun, diese Art auf einen seiner Reisen schon einmal gehört zu haben. Mag es auf Camelot oder im fernen Bagdad gewesen sein, die Vielzahl der Reisen mochten die Erinnerung verwirren, niemals jedoch den Genuss, den dieses kulturelle Ereignis zu hinterlassen im Stande war.
Der Abend des Festes brach an und all die Plätze des Thronsaales waren gefüllt. Selbst die Mägde und Knechte standen an den Durchgängen und lugten hinein in das große Grau mit den mintfarbenen Vorhängen. Die blauen Fackeln warfen ihre Flammen empor und als wärmendes Licht sanken sie hinab auf die Edelleute, die sich zu Ehren dieses außergewöhnlichen Ereignisses die Kelche nur zur Hälfte mit Wein füllen ließen und ein wenig ungelenk an ihnen nippten.
Das Königspaar saß auf ihrem Throne und zu ihren Füßen räkelte sich der Narr, so scheinbar desinteressiert und doch wach genug im Moment, an dem die Spannung bis ins Unerträgliche stieg, einem der Wachleute einen Wink zu geben, woraufhin dieser die beiden Musikanten hinein in die Mitte des Raumes führte.
Es wurde ruhig und der König, so traurig wie ehedem, nickte den beiden zu, ihren Vortrag zu beginnen.
Welch eine Freude, als der eine von ihnen die Flöte zu seinen Lippen führte und nun eine Weise entlockte, so fremd und unschuldig, dass der König, so wie seine Gefolgschaft, bis ins tiefste Herz zusammenschrak.
Die Melodie erfüllte den Raum. Sie drückte und tönte, ächzte und kratzte. Und zwischendurch der Atem des Musikanten, der den letzten schwitzenden Ton erhaschte, ihn festhielt und zog, bis er ihn an einen der folgenden verknotete. Ein wogender, tobender Tümpel, der als reißendes Rinnsal den Saal durchflutete.
Die Königin saß starr und lauschte der Kultur. Der König dachte an den säuselnden Trompetenschall des Angriffs und sehnte sich mehr denn je. Die Diener eilten eifrig durch den Saal und füllten die Weinkelche der Edelleute nach. Die Musiker aber fochten ihren Kampf unbeirrt mit den fröhlichen Weisen der Abendmelodien.
Der Narr sprang auf und begann einen Reigen voll lustiger Sprünge und seltsamer Grimassen, auf das die Zuhörer ihm betrachten mochten.
Der zweite Musiker, ein Schellenspieler trat neben ihm und heftig klatschte das hölzerne Rad an seine Hand, auf das der Flötist zusammen zuckte und ein paar der Töne verlor. Doch dankbar war das Publikum, dass er sich nicht der Mühe unterzog, sie zu suchen.
Der König ergriff die Hand seiner Gemahlin und drückte sie fest. In seiner finstersten Stunde war er nicht allein.
Und als dies alles endete, der Flöte letzter Ton entfleucht, die Kelche des Weines geleert, die Musiker so weiß ob der Anstrengung, dass ihnen das Leben zu entfliehen drohte, erhob sich der König und still wurde es im Saal.
„Welch ein Genuss,“ so sprach er lächelnd, „ich dank euch wohl. Eine Belohnung habt ihr gar verdient.“
Mit einem Blick maß der Henker die beiden Musiker nach Größe und Gewicht. Doch wie enttäuscht war er, als er die nächsten Worte des Königs vernahm.
„Bleibt hier an diesem Hofe und dienet mir. Ich gebe euch Ruhestatt und Sold. Und nimmermehr müsst ihr umherziehen.“
Die beiden Musiker waren äußerst erfreut über dieses Angebot und schnell erklärten sie sich bereit, im Schloss zu verweilen. Wann immer der König ihrer Kunst verlangte, so würden sie zur Verfügung stehen.
„Nun, was dies betrifft,“ so erklärte der König lächelnd, „werdet ihr uns sehr oft erfreuen. Sogleich mag es beginnen und hierfür bekommt ihr einen eigenen Raum. Tief unten in Gewölben harrt euer Publikum darauf, sich an der Kunst zu ergötzen. Spielt ihnen auf!“
Der König winkte einer Wache zu und gebot ihr, die beiden Musiker hinunter in die Kellergewölbe zu geleiten.
„Es freut mich, meinen Gemahl wieder lächeln zu sehen. Aber sag, warum lässt du sie einkerkern, die dir einen solchen Dienst erwiesen haben?“ sprach die Königin und Mitleid regte sich in ihren Augen.
„Oh nein, Regentin meines Herzens. Einkerkern lass ich die beiden nicht. Sie dienen in der Folterkammer und niemals wieder werden wir eine Streckbank unseren Feinden zumuten. Der Jazz wird ihm die Wahrheit schon entlocken.“
Der Königin schauderte.
„Wie grausam du doch bist, mein König.“


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Warum Jazz im Keller gespielt wird"

Re: Warum Jazz im Keller gespielt wird

Autor: Schmusekatze   Datum: 08.09.2014 14:23 Uhr

Kommentar: dabei ist jazz soooo tolle musik =)

Re: Warum Jazz im Keller gespielt wird

Autor: Mark Gosdek   Datum: 08.09.2014 14:53 Uhr

Kommentar: Finde ich auch, aber als König hat man da andere Ansichten :-)

Re: Warum Jazz im Keller gespielt wird

Autor: Schmusekatze   Datum: 08.09.2014 14:58 Uhr

Kommentar: Möglich, mit der Musik dürfte mich der König lange foltern :D

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