Das Flugzeug von Berlin nach München war schon einige Minuten gelandet. Ohne ihn. Denn er saß zu der Zeit schon mehr als eine Stunde in einem bedingt schwenkbaren Sessel des Zuges, der ihn nach München erst am nächsten Morgen bringen sollte. Nach einer in Berlin sehr lustig und lästig verbrachten Woche war das eine echte Qual. Die Spree zählte die in sie eingeworfenen Metallstücke nach und kräuselte sich.

Er hatte seinen ehemaligen Schulkameraden Harry, den er seit einer Ewigkeit kannte, gebeten, ihn bis zum Bahnhof zu begleiten. Denn es gab schon Fälle, wo er Berlin nicht verlassen wollte und sich in eine ganz andere Richtung vom Bahnhof instinktiv begab. Einfach – weg davon. Der ewige Freund rannte nun neben ihm wie üblich rechts und mußte große grauen Luken und Fliesen im Asphalt überspringen, indem er sich auf sein Fahrrad stützte, welches dann am Wege nach Hause gefahren werden sollte. Mit seinen gelb-grünen, aufmerksamen und manchmal auch gutmütig verschmitzten Augen schaute Harry ihm tief in sein vergiftetes Gehirn hinein, sodaß er sich an Harrys Schwester erinnern mußte, die er, als er und Harry noch 12 waren, heiraten wollte. Die Spree fing an zurückzufließen.

Wenn der Zug ankam, war das Zittern des nebeligen Wartens schon vorüber. Er bestieg gewiß nicht den richtigen Wagon und hatte dadurch die tatsächliche Abteilbesitzerin, eine ältere Dame, die sich zur Unterstützung den Schaffner kommen ließ, erschrocken. Der sich mit Feige versetzte Kaffeegeruch hatte ihn bei seinem Wandern im Zuges Leib in den Wagon 12 begleitet. Hier war es kühler, deutlich breiter; er warf sich sofort in seinen zweitklassigen Sessel und schaltete sich von den spärlichen Überresten der Tagesrealität ab. Es ward endlich dunkel für eine Zeit.

Die aus den vorigen Nächten übriggebliebenen Bilder kamen nun hervor. Sie hatten aus einer Ecke des wackeligen Halbtraumes in die andere gedüst, sich dort eine Weile aufgehalten und waren dann auf die runde Szene gekommen. Diese ursprünglich flachen Bilder verkörperten sich auf der Szene, wurden greifbar und laut. Verdeckte Soffitten rissen sie in den Vordergrund heraus und die dunklen Ecken verrieten ungern ihr wortloses Dasein. Da kam der Schaffner mit seiner Fahrkartenkontrolle, und er wurde wach.
—Online-Ticket? Ihre Kreditkarte bitte.
—Wozu? Schon wieder mal zahlen?
—Um Sie zu identifizieren.

Aber dieses kleine gelbe Daihatsu. Ein UFO. Wie paßten wir alle da rein? Der Ausflug zu den Heilstätten in Preußen. Sagenhafte Pracht der Ruinen und großartige Vergeßlichkeit im Kieferwalde. Der Laubwald, mit dem die Dachgerüste bewachsenen sind, steckte tief in den Himmel. All solche Gebäude, die je mit erkrankten Patienten gefüllt waren, sahen nun mit weggerissenen Dächern wie der mit seinen Hörnern im Busche verwickelte Abrahams Opferlamm. Gut, daß es „Radler“ gibt, dessen Konsumierung auf der Tankstelle jedoch nicht gern gesehen wird.

Welche kranken Gedanken sind durch diese Dächer in das All gekommen, sodaß die Klinikstationen nun ohne Dächer da stehen? Warum denn das nur bei einigen Gebäuden und bei den anderen nicht? Woran liegt es? An der Verweilzeit der Patienten dort oder an dem Zweck der Gebäude? Vielleicht liegt das an den Ärzten, die diesen Gedankenstrom während ihrer klinischen Praktiken erweckten und hervorriefen? So dachte er, indem er sich immer weiter von seinen neuen Bekannten zurückzog, bis er sie aus dem Blick verlor. Kalt wurde es ihm. Sind es vielleicht die gleichen Praktiken, die sein Urgroßvater damals tief in Sibirien vollzog? Aber wie schön die Frida das Wort „Ja“ sagt!

Ein türkisches Stadtviertel mit feiner Pariser Eleganz inmitten Stadtrandes Berlins. Die drei- und vierstöckige Häuser mit runden Balkonen, die man beinahe anfassen könnte, wenn man die Hand hochstreckte. Sie wollten sich an der Stelle nicht trennen. Denn es war viel zu kalt, öde, herzlos im Kieferwalde umarmt von den leeren, mit tiefen, chaotisch zerstreuten Augenhöhlen da stehenden Gebäuden und es bedarf nun eines Opfers aus Fleisch und Blut, damit man sich wieder unverloren und beisammen fühlen konnte.
—Haben Sie Lammfleisch?
—Jah, wüviel wüllste ´aben?
—Das Stück bitte. Den Knochen bitte herausnehmen und das Filet kleinschneiden.
—15 Euro 30.

Als sie in die Wohnung hochgestiegen waren, geriet das fleißig vorbereitete Filet sofort in den Topf und, bestreut von dem Daihatsu-Profi mit viel Pfeffer, fing an gedünstet zu werden. Der dunkle blutrote italienische Wein floß in die hohen Gläser jede zehnte Minute aus dem sicheren Vorrat. Harry saß zu Hause ohne sich abzuspiegeln. Es ward wärmer, es roch säuerlich nach Heim, Essen, Feier und fast nach Liebe. Frida erklärte ihm Passagen aus dem Norwegischen, Gilbert wollte nach seiner Gitarre enthüllen und wurde rechtzeitig gestoppt.

Er fühlte etwas in sich, was nun langsam und schläfrig zu tanzen begann. Von den Wänden schauten ihn die Gemälde an, die er aus seinen uralten Alpträumen kannte. Die in Bilder verkörperten Gespenster. Nur dessen Hintergrund war nun weiß und nicht schwarz wie damals – wer weiß warum? Verlieren die Gespenster den Hintergrund, wenn sie sich verkörpern? Die im Walde aufgenommenen Fotos haben sich beim Überspielen gelöscht – vielleicht aus Unvorsichtigkeit. Das Dach war aber noch da. Und der chinesische Wodka schließlich auch.

Stunden später fuhr der gelbe Daihatsu weiter – von einem Schwullokal zum anderen. Der Daihatsu-Profi freute sich über die Gelegenheit, dem hereingeflogenen Gaste seine Welt vorzustellen. Die blauen Schilder und die hitech-artige Ausstattung der Lokale wußten ihren Job gut und sicher auszuführen: da gab es Leben. Als ihm von den Stammgästen der Lokale nur weißlich graue Augen in sein Gedächtnis eindringen konnten, bat er den Profi, ihn nach Hause zu bringen. Das Treppenhaus war unheimlich lang. Die Spree verzog sich fürsorglich und die Lichter des DDR-Museums erloschen langsam, bis er die Wohnungstür endlich aufgesperrt hatte und unausgezogen eingeschlafen war.

Es war endlich mal hell und, durch das von Harry aufgemachte Fenster, nicht mehr so schwül. Als er auf die Uhr geschaut hatte, war es kurz vor 8, und Harry schlief noch fest mit seiner Lana. Ein aus der Siemens-Bundeswehr-Kooperation stammender Telefonapparat stand bescheiden am Rande des konsolidierten Arbeitstisch-Krames. Schön grün wie Absinth. Seine Tasten knarrten wie der brennende Zucker.
—112. Es ist mir wahnsinnig übel.
—Äh? Sie haben sich verwählt. 110.
—110. Übel ist mir.
—Wie übel?
—Ich habe so blöde Gedanken, die sich so ganz schnell abwechseln.
—Wie ist Ihr Name?
—Franz-Joseph.
—Aha. Und wann sind Sie geboren?
—Das muß Ihnen aus der Geschichte doch bekannt sein.
—Gut. Wie war bitte nochmals Ihr Name?
—Franz-Ferdinand. Sagte ich doch.

Die von ihm freigelassenen Gespenster wurden nun beim Tageslicht nicht ersichtlicher, sondern spürbarer, dessen Hindergrund war aber wieder ein schwarzer. Sie wurden jetzt nicht zu Bildern, sie wurden nun Objekte des Alltags und der Umgebung. Sie vermischten sich mit den Gespenstern, die von anderen je produziert und in die Luft geblasen wurden. Und die Objekte verschwammen sich, rissen sich aus der greifbaren Realität heraus und wurden zu einer rein geistlichen Wahrnehmung: die Spree, die Kaimauer, die Kinder, die Lehrer und die massiven Gebäude. Sie konnten somit wie ein Gespenst wahrgenommen, erzeugt, erzogen, angesprochen und ignoriert werden.

Die Hotels und deren Barkeeper hatten zu der Uhrzeit ihr Einsehen hierfür, wie er merken konnte. Die Hostels aber nicht und hatten hostil gesperrt. Nur die Spree nickte und winkte ihm rufend zu. Sie wußte, wie unablässig die Gespenster sich vermehren können und nach neuen, greifbaren Opfern ihres Daseins herumschauen. Sie wußte, aber Isar noch nicht, und er trug seine Wässer ruhig in Richtung Wien.


© 2012


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Beschreibung des Autors zu "Die Bärliner Kultuhrtreger"

Berlin, Europa, Freunde, Einsamkeit, Spree

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