Ob ich Feinde habe? Noch vor einem Jahr hätte ich diese Frage klar verneint. Na ja, da gibt es einen Ex-Mann, der nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen ist. Ich war als Kollegin nicht sehr beliebt, weil ich Karriere machen wollte und wenig Rücksicht auf meine Mitmenschen nahm, aber Feinde? Nein, nicht wirklich, das hätte ich gesagt, bis Ende Juni 2006.

Da habe ich meinen ganz persönlichen Feind kennengelernt und bin im wahrsten Sinne des Wortes an meine Grenzen gestoßen. Er hat sich noch nicht wirklich gezeigt, gab sich nicht richtig zu erkennen, aber seit diesem Tag ist er da – in meinem Kopf – und damit ein Teil von mir und meinem Leben. Mein Arzt schickte mich wegen unklarer Schwindelanfälle zum MRT. Angst? Eigentlich nicht. Was sollte man dort schon finden? Die Untersuchung dauerte nicht lange. Dann folgte die Besprechung. Vier Ärzte empfingen mich. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Das konnte einfach nichts Gutes bedeuten. „Wir vermuten einen Stammhirntumor, ein sogenanntes Gliom. Der Herd ist noch ziemlich klein, aber das muss auf jeden Fall unter Kontrolle gehalten werden.“ Und plötzlich war sie da, die Grenze, unsichtbar und doch real. Eine Grenze, die mich davon abhalten würde zu realisieren, was ich mir für die Zukunft noch vorgenommen hatte. Eine Grenze, die ich nicht überschreiten konnte. Wirklich nicht?

Ich hatte das in dem Moment noch gar nicht richtig realisiert. Sie drückten mir die Aufnahmen in die Hand und wie in Trance ging ich zu meinem Auto. „Ein Gehirntumor? Ich?“ Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Und dann begann sie, die aufkeimende Angst. Nicht vor dem Sterben an sich, nein, aber davor, krank zu sein und vielleicht hilflos. Da erkannte ich ihn ganz genau, den Feind in meinem Kopf, der von nun an versuchen würde, mein Leben zu vergiften und mir meine Grenzen jeden Tag aufs Neue vor Augen zu führen. Ich fühlte nichts in diesem Moment. Ich hatte einfach nur erkannt, dass Zeit für mich nicht mehr unendlich war. Und dass ich mir Gedanken machen musste, was ich mit der Zeit, die mir noch blieb, anfangen wollte. Und während ich nach Hause fuhr, wurde mir eines klar:

Ich würde ihn nicht gewinnen lassen, nicht einfach so, nicht kampflos. Was auch immer in der nächsten Zeit geschehen würde, ich wollte ihm ein ebenbürtiger Gegner sein. Wie fühlt man sich, wenn man so eine Diagnose erhält? Es fühlt sich an, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen. Man ist zornig, traurig und was man in diesem Moment ganz bestimmt nicht hören will, ist, dass das alles nicht so schlimm ist. Auch ich war zornig – auf mich, auf meine Familie, auf das Leben an sich, weil es mir so etwas antat und natürlich auf ihn, der sich da in meinem Kopf eingenistet hatte und mir Einschränkungen auferlegte, die ich nicht akzeptieren wollte. Wie eine tickende Zeitbombe habe ich ihn empfunden, aber eine Bombe, die hinter einer Grenze lag, die ich nicht überwinden konnte. Jeder kleine Schwindel, jeder Schmerz im Kopf erinnerte mich daran, dass da etwas in mir wuchs, was ich nicht haben wollte. Irgendwann verebbte der Zorn und wich der Verzweiflung. Ich habe versucht, sie zu verdrängen. Aber die Medikamente, die ständig wiederkehrenden Arztbesuche, das alles verhinderte ein Vergessen. Und also erinnerte ich mich daran, dass ich mir gesagt hatte, ich würde nicht kampflos aufgeben. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Vorstellung davon, wie mein Kampf aussehen könnte und wohin er mich führen würde. Aber ich wusste, ich muss ihn annehmen. Ein Gliom also. Ich wälzte Fachliteratur, kämpfte mich durch medizinische Seiten im Internet und eine Information war furchterregender als die Nächste. Bösartig, inoperabel – diese Worte sprangen mir entgegen und waren das Einzige, was ich wirklich begriff. Und nun? Ich versuchte immer wieder mir vorzustellen, was da in meinem Kopf passierte.

Eines Nachts wachte ich schweißgebadet auf. Ich hatte geträumt. Ich hatte IHN gesehen. Eine bösartige kleine Fratze, die sich hämisch grinsend langsam vergrößerte und sich mit scheinbar unstillbarem Appetit durch meinen Kopf fraß. Ich stand auf, ging durch das dunkle Haus und dachte nach. Plötzlich hatte dieses Ding ein Gesicht bekommen. Ein Gesicht, das ich zwar nur geträumt hatte, aber ganz deutlich vor mir sah. Und zornig dachte ich:
„Du Gnom, ich werde nicht einfach aufgeben. Ich werde es Dir so schwer wie möglich machen. Du wirst mir nicht vorschreiben, wo die Grenzen in meinem Leben liegen. Ich bin bereit!“
Fast meinte ich, sein hämisches Lachen zu hören. Ich glaubte zu hören, wie er mir entgegnete: „Versuche es immerhin, aber ich werde gewinnen.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Das werden wir noch sehen!“

Hatte ich das laut gesagt? Egal. Ich war wieder da, wo ich zu Anfang schon einmal gewesen war. Bei meinem Entschluss, meinem Feind keinen Raum in meinem Leben zu lassen und Einschränkungen und Grenzen nicht zu akzeptieren. Er war ein ernst zu nehmender Gegner, sicherlich. Aber einen Feind, den man kennt, kann man auch bekämpfen. Und nun war ich wirklich bereit, diesen Kampf aufzunehmen. In dieser Nacht fing ich an, Zwiegespräche mit ihm zu führen. In meinen Gedanken nannte ich ihn nur „den Gnom“. Ich hatte gedacht, er würde mein Leben vergiften, aber dann fand ich heraus, dass er auch sehr nützlich für mich war. Und ich hatte deutlich das Gefühl, dass ihm das gar nicht gefiel.

Ich begann, Schritt für Schritt mein Leben zu ändern. Solange man glaubt, alle Zeit der Welt zu haben, die Dinge zu tun, die einem wichtig sind, verschiebt man sie ganz gern. Damit war jetzt Schluss. Bei allem, was ich anfing, fragte ich mich zunächst, ob es mir gut tun würde. War das nicht der Fall, ließ ich es einfach bleiben. Dadurch wurde ich viel ruhiger und ausgeglichener, eine Veränderung, die auch meine Umwelt mit Erstaunen und Freude zur Kenntnis genommen hat. Nur mein kleiner Gnom schien sich nicht zu freuen. Immer, wenn ich eine unangenehme Aufgabe an jemand anderen abgab, hatte ich das Gefühl, dass er zornig wurde. Manchmal schmerzte dann mein Kopf, so, als wolle er mich daran erinnern, dass er noch da ist und das er am Ende gewinnen wird. Aber diese Momente werden kürzer und seltener. Er mag es gar nicht, von mir ignoriert zu werden. Schließlich sitzt er doch in meinem Gehirn, dem Zentrum allen menschlichen Denkens und Seins. Und er will es zerstören. Ich weiß, ich könnte damit leben, nicht mehr gehen oder sehen zu können, aber nicht mehr denken? Nicht mehr in der Lage sein, eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen? Das durfte nicht geschehen.

Ich versuchte, einen Kompromiss mit ihm zu schließen.
„Du könntest Dich doch einfach darauf beschränken, dort zu sein, wo Du bist und mich ständig daran zu erinnern, dass Du Schaden anrichten kannst, wenn Du es willst.“
Er grinste.
„Aber genau das ist es ja, was ich will. Schaden anrichten, das ist meine Bestimmung. Ich kann doch nicht einfach hier herumsitzen und zusehen, wie Du Dein Leben weiterlebst.“ „Und warum nicht? Reicht es denn nicht, dass Du mein Leben jederzeit zerstören könntest? Dass Du mir aufgezeigt hast, wo meine Grenzen sind. Musst du wirklich die Zerstörung vollenden? Musst Du das wirklich tun?“
„Das verstehst Du nicht. Ich bin dazu da, etwas zu zerstören. Wenn ich das nicht kann, dann könnte ich auch nicht da bleiben, wo ich jetzt bin.“
Ich stellte mir vor, wie er sich aus meinem Kopf löste, herauskam und mir gegenübersaß. Ein kleiner, hässlicher Gnom, dessen Bestimmung es war, mein Leben zu beenden. Ich lächelte ihn an. Ich wusste, das mochte er gar nicht. Sein Gesicht wurde zornig.
„Wieso lächelst Du? Hast Du immer noch nicht begriffen, dass Du Dich nicht wehren kannst?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Das stimmt nicht. Ich kann mit Dir reden, ich kann Dich sehen, so, wie ich Dich sehen will. Du bist nichts weiter als ein bösartiges kleines Geschöpf. Du willst zerstören, was Dir nicht gehört. Und ich will und werde das nicht zulassen.“
Er lachte höhnisch.
„Du hast gar keine andere Wahl. Am Ende gewinne ich immer.“
Fast jedes unserer Zwiegespräche endete mit einem Satz, der so oder so ähnlich klang. Manchmal, wenn es mir nicht gut ging, fragte ich mich, ob er recht hatte damit. Würde er wirklich am Ende gewinnen? War alles sinnlos, was ich tat? Konnte ich diesen Feind tatsächlich nicht bezwingen, die Grenzen, die er mir setzte, nicht durchbrechen?

Aber dann sehe ich mich um. Ich sehe die blühenden Blumen in meinen Garten, ich sehe den Mann an meiner Seite, der mich liebt, ich sehe meine Kinder, meine Enkelkinder und viele gute Freunde. Ich bin ein glücklicher Mensch, denn ich werde geliebt. Und das alles soll nicht in der Lage sein, diese hässliche kleine Erscheinung in meinem Kopf in seine Schranken zu weisen? Vielleicht wird er am Ende wirklich gewinnen. Im Grunde weiß ich, dass ich gar nichts dagegen tun könnte. Aber eines schafft er nicht: Er wird mein Leben nicht vergiften. Er wird mich nicht dazu bringen, all diese schönen Dinge um mich herum nicht mehr wahrzunehmen und mich in die Angst vor Krankheit und Tod hinter der Mauer zu verkriechen, die er sich als Grenze für mich ausgedacht hat. Wenn es denn so sein soll, dass mein Leben in dieser Welt kürzer ist, als ich es mir erhofft habe, nun gut. Wenn es denn so sein soll, dass ein zorniger kleiner Gnom in meinem Kopf dafür sorgt, dass ich keine endlos lange Zeit mehr vor mir habe, auch gut. Aber eines weiß ich genau: Den größten Triumph, den er sich erhoffte, wird er nicht haben. Ich werde mich nicht verkriechen, ich werde nicht vor Angst zittern, wenn er sich rührt, wächst und mehr Raum einnimmt. Ich werde nicht die Freude an meinem Leben verlieren und ich werde nicht aufgeben. Er ist nun einmal ein Teil von mir. Ein Teil, mit dem ich leben muss, ob ich es will oder nicht. Und was er noch nicht weiß ist, dass ich alles, was zu mir und meinem Leben gehört, liebe. Und da, wo menschliche Kraft am Ende den Kampf aufgeben muss, kann die Liebe vielleicht doch noch ein Wunder vollbringen.

Ob ich Feinde habe? Ja, ich habe einem Feind in meinem Kopf. Niemand außer mir kennt sein Gesicht, niemand außer mir hört seine Stimme. Er ist immer da, mir immer gegenwärtig und zwingt mich tagaus, tagein in einen Kampf, der mich viel Kraft kostet. Und diese Kraft finde ich in meiner Liebe zum Leben, einem Leben, das er mir nehmen will – nicht heute oder morgen, aber irgendwann. Und darum enden unsere Zwiegespräche nicht mehr damit, dass er mir sagt, dass er gewinnt. Am Ende eines jeden Gesprächs bleibt der letzte Satz bei mir:
„Am Ende gehörst Du zu mir und meinem Leben und deshalb will ich versuchen, Dich zu lieben, wie alles andere, was zu mir gehört.“
Und manchmal, wenn ich dann in dieses böse kleine Gesicht sehe, habe ich das Gefühl, so etwas wie Achtung und Anerkennung in seinen Augen zu sehen. Und manchmal scheint es mir, als würde er schwächer, schwächer als ich es je sein werde. Und das gibt mir die Hoffnung, dass ich diesen Feind am Ende doch noch bezwingen kann.


© Renate Behr


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Beschreibung des Autors zu "Der Feind in meinem Kopf"

Wie geht man mit einer katastrophalen Diagnose um, die ein ganzes Leben nicht nur verändern, sondern vielleicht sogar vorzeitig beenden kann? Schreiben ist eine gute Möglichkeit, sich mit unangenehmen Dingen auseinanderzusetzen.

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Kommentare zu "Der Feind in meinem Kopf"

Re: Der Feind in meinem Kopf

Autor: noé   Datum: 28.01.2014 13:40 Uhr

Kommentar: Dein Text ist sehr ergreifend. Dein Mut, mit dieser Diagnose umzugehen, ist bewunderswert. Ich habe größte Achtung für Dich!
Aber Deinen Text finde ich nicht richtig positioniert. Bei "Esperimentelles Schreiben" wird ihn so schnell niemand finden, es sei denn, er (sie) heisst nightangell5 und macht andere darauf aufmerksam. Ich finde, dass er mindestens in die Kathegorie "Geschichten" -> "Lebensgeschichten" gehört, damit er die Würdigung erfahren kann, die ihm zusteht...
Viel Kraft wünsche ich Dir!
noé

Re: Der Feind in meinem Kopf

Autor: soistshalt   Datum: 25.04.2014 22:39 Uhr

Kommentar: Bewundernswert, wie Du kämpfst, Renate. Danke für diese Deine Geschichte, die mich wie noé berührt hat. Ich wünsche ich Dir diesen Kampfgeist und die nötige Kraft dazu weiterhin. Alles Gute für Dich. Gertrud

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