Daidalos und Ikaros
Ballade

«Ich bin, ihr Bürger, mit Verlaub der Beste,
Niemand baute und erfand so viel.
Ich stehe im Zenit all meiner Kräfte,
Athen zu dienen, ist mein höchstes Ziel.
Der Griechen bester Künstler bin ich letztlich
Und für die Polis völlig unersetzlich.

Meine Schwester, welche hohe Ehre,
Vertraut mir an ihr allerliebstes Gut,
Gibt mir ihren Sprössling in die Lehre,
S’ist mir fast, als wär’s mein eigen Blut.
Dass er scheitern könnte, fürcht’ ich nicht,
Sein Geist ist heller als das Tageslicht.

Schon als Knabe bastelte er Dinge,
Wie die Welt sie nie gesehen hat.
Es scheint, als ob ihm jeder Wurf gelinge,
Fleiβig ist er, schnell und hochbegabt,
Wofür ich ihn mein Leben lang beneide,
Er schuf den Zirkel und die Töpferscheibe.

Ich spüre Hass und schmerzlichen Verdruss,
Obwohl ich ein berühmter Meister bin.
Mich quält des jungen Mannes Genius,
Mein guter Ruf, so scheint mir, schmilzt dahin.
Ihr Götter, warum habt ihr mich verlassen?
Ich wollt’ euch lieben, nun muss ich euch hassen.»

Talos kommt zurück vom Meeresstrand,
Das Rückgrat eines Fisches bringt er mit.
Aus Eisen formt er’s nach mit eigner Hand,
Gelduldig, Zahm um Zahn und Schritt für Schritt.
Völlig frei, an keinen Plan gebunden,
Hat der Kerl das Sägeblatt erfunden.

«Verflucht, mein Schüler hat mich übertroffen,
Ich werde rasend, wenn ich nur dran denke.
Von den Göttern hab’ ich nichts zu hoffen,
Dem Genie nur machen sie Geschenke.
Das Blatt zu wenden, reift in mir ein Plan,
Ich führ’ ihn aus, weil ich nicht anders kann.»

«Oheim, sag’, was kannst du mich noch lehren?
Mich dürstet nach der Weisheit letztem Grund.
Mein Wissen will ich ständig noch vermehren,
Ich sprüre, dass es wächst von Stund zu Stund.
Die letzten Tiefen will ich mir ergründen
Und tausend neue Dinge noch erfinden.»

«Lass auf die Akropolis uns gehen,
Der Griechen Götter sind wir hier zu fern.
In die Zukunft wollen wir dort sehen,
Am Himmel wächst ein neuer, heller Stern.
Den Göttern weihe nur dein ärmlich Leben,
Allein von ihnen kommt der Menschen Segen.»

Daidalos ist nah an seinem Ziel,
Ahnungslos steht Talos neben ihm.
Ein einzig weitrer Schritt ist schon zu viel,
Talos gibt sich ganz den Götter hin.
Ein kräft’ger Stoβ, ein Schrei, ein Händeringen. -
Ein Leichtes war’s, den Schüler umzubringen.

Athene greift in das Geschehen ein,
Des Jünglings hohe Künste will sie ehren.
Seine Schutzpatronin will sie sein
Und ihn der Todesgöttin Ker verwehren.
Ein Mythos zeugt von seinem Schicksal seither,
Verwandelt in ein Perlhuhn lebt er weiter.

Daidalos will seine Tat verstecken
Und versucht, den Leichnam zu begraben.
Doch man konnte ihn dabei entdecken,
Eine harte Strafe soll er haben.
Man stellt den Mörder vor das Blutgericht,
Das sein verdientes Todesurteil spricht.

Dem list’gen Daidalos gelingt die Flucht,
Doch zu gefährlich ist’s, im Land zu bleiben.
Er weiβ, dass man ihn allerorten sucht,
Zur Flucht nach Kreta muss er sich entscheiden.
König Minos nimmt ihn gerne auf
Als Trophäe für sein Königshaus.

Auf Kreta ist der Künstler wohl gelitten
Und wird ein enger Freund des Herrschers gar.
Sein guter Ruf bleibt völlig unbestritten,
Er dient dem König Minos Jahr für Jahr.
So manches ist’s, was er erschaffen hat,
Noch ahnt er nichts von seiner grössten Tat.

Minos hat Poseidon arg betrogen,
Er opferte dem Gott das falsche Tier.
Aus der Taufe wurde drauf gehoben
Ein Ungeheuer zwischen Mensch und Stier
Als Strafe für das stolze Königreich.
Es frisst nichts anderes als Menschenfleisch.

«Meister, du bist meine letzte Rettung,
Den verfluchten Stier sollst du mir bannen,
Sperr ihn ein in eine starke Festung,
Auf ewig sei das Untier dort gefangen.
Eng verschlugen sei dein Labyrinth,
Ein list’ger Irrweg, der kein Ende nimmt.»

Der Meister weiβ, dass ihm das Werk gelingt,
Seinen guten Ruf kann er vermehren.
Er macht sich auf und baut das Labyrinth,
Die Nachwelt wird ihn ewig dafür ehren.
Keiner merkt, was auβen ist und innen,
Aus ihm heraus gibt’s wahrlich kein Entrinnen.

«Mein lieber Sohn Androgeos ist tot,
Der König von Athen hat Schuld daran.
Zu einem Rachefeldzug fuhr ich fort,
Ich wusste, dass ihn bezwingen kann.
Jedes neunte Jahr zahlt er Tribut
Und zwar in Form von frischem Menschenblut. »

Den Athenern kommt das bare Grauen,
Den König brennt die Schmach wie Höllenfeuer.
Sieben Männer, gleich viel junge Frauen
Sind Menschenopfer für das Ungeheuer.
Ins Labyrinth soll man sie jeweils bringen,
Der Stier wird sie mit Haut und Haar verschlingen.

Theseus, Sohn des Königs von Athen,
Will die Schande länger nicht erdulden.
Auf nach Kreta soll die Reise geh’n,
Tribute soll er fortan nicht mehr schulden.
Das wilde Ungeheuer will er töten,
Erlöst sein soll Athen von seinen Nöten.

Das dritte Mal erreicht ein Schiff das Eiland,
Um den blutigen Tribut zu zollen.
Als sich Theseus auf der Insel einfand,
Spürt’ er Hände, die ihm helfen wollen.
Im Reich des Untiers kann er sich verlieren,
Doch des Königs Tochter wird ihn führen.

Ein Fadenknäuel soll den Prinzen retten,
Das Ariadne ihm zu Füssen legt.
Ihr ist, als ob sie sich verbündet hätten,
Seine Kühnheit hat sie tief bewegt.
Theseus schleicht hinein ins Labyrinth
Wie die Spinne, die den Faden spinnt.

Im Innern findet er das Ungeheuer,
Zerfleischen will es ihn in schierer Gier.
Entflammt von Todesmut und Siegesfeuer
Tötet er in wildem Kampf den Stier.
«Jetzt schnell hinaus und von der Insel fort!»
Dem Faden nach flieht er den blut’gen Ort.

Kretas König Minos kocht vor Wut,
Seine Tochter hat man ihm entführt.
Er trauert um das eig’ne Fleisch und Blut,
Er weiβ, wem letzlich grösste Schuld gebührt.
«Daidalos hat diese List ersonnen,
Die Strafe dafür soll er auch bekommen.

Ich sperr’ ihn ein ins eigne Labyrinth,
Sein Gefängnis hat er selbst erdacht.
Vermodern soll er dort mit seinem Kind,
Verrat und Unglück hat er mir gebracht.» -
Daidalos ist leider zu gescheit,
Den Ausgang findet er wohl jederzeit.

«Mein Sohn, wir müssen dieses Reich verlassen,
Minos hat uns seine Gunst entzogen.
Brauchen wird er uns und dennoch hassen,
Er lebt im Wahn, ich hätte ihn betrogen.
Zu Lande und zu Wasser herrscht der König,
Mit einem Schiff zu fliehen, nützt uns wenig.

Einen Ausweg, scheint es, gibt es nicht,
Auf ewig sind auf Kreta wir verbannt.
Lange dacht’ ich nach und fand ein Licht,
Eines, das bisher noch keiner fand.
Land und Wasser sind uns zwar verwehrt,
Der Himmel aber ist uns nicht versperrt. »

Die beiden sammeln Federn, Wachs und Schnur,
Es gilt, das Ganze kunstvoll zu verweben.
Zwei Paar leichte Flügel braucht es nur,
Um von Kretas Boden abzuheben.
Mit etwas Übung wird es gar gelingen,
Sich in freie Lüfte hochzuschwingen.

«Ikarus, mein Sohn, hör’ mir gut zu:
Du sollst stets zwischen Meer und Sonne fliegen.
Gib Acht, die Wellen packen dich im Nu,
Fliegst du zu hoch, wird dich die Sonne kriegen.
Zum einen ist dein Flügelpaar nicht wasserdicht,
Zum andern schmilzt dein Wachs im Sonnenlicht.»

Sie heben ab, der Vater fliegt voraus
Und Ikarus befolgt den weisem Rat.
Er fliegt recht gut und nicht zu hoch hinauf
Und zeigt, dass er den Sinn verstanden hat.
Es scheint, die beiden fliegen in ihr Glück,
Die Insel Kreta liegt schon weit zurück.

Plötzlich ist’s, als ob er’s besser wüsste,
Des Vaters Mahnung schlägt er in den Wind.
Hoch schwingt er sich hinauf in dünne Lüfte,
Wo die Sonnenstrahlen stärker sind.
Nach Kapriolen steht ihm nur der Sinn,
In der Sonne schmilzt sein Wach dahin.

Ein steifer Wind zerfetzt nun seine Schwingen,
Er rudert mit den Armen noch wie wild.
Sich zu retten wird ihm nicht gelingen,
Die Götter führen anderes im Schild.
Sein Körper wird ihm plötzlich viel zu schwer,
Der Knabe stürzt ins aufgewühlte Meer.

«Ikaros, mein Sohn, wo bleibst du nur?
Am blauen Himmel kann ich nichts erkennen.
Soeben flogst du noch in meiner Spur,
Was konnte uns denn voneinander trennen?» -
Ihm ist, als ob er nur ins Leere riefe,
Verzweifelt schaut er ängstlich in die Tiefe.

Federn sieht er auf dem Wasser schwimmen,
Das Meer hat seinen Rachen aufgesperrt.
Jetzt ist es ihm, als sängen die Erinnen,
Sein armes Dasein scheint ihm nichts mehr wert.
Ein Leben ohne Sohn ist ihm ein Graus,
Er schaut am Strand gebannt aufs Meer hinaus.

Poseidon spült den Knaben ans Gestade,
Im Sande gräbt der Vater ihn ein Grab.
«Oh Götter, warum kennt ihr keine Gnade?
Zahlt ihr mir heim, dass ich gemordet hab’?
Erbarmt euch meiner, denn ich leide sehr.» -
Am Strande hüpft ein Perlhuhn hin und her.

© Rudolf Burkhardt, Einsiedeln 2019


© Rudolf Burkhardt, Einsiedeln 2019


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