Keine Fiktion

Sie hatte das Gefühl ins Bodenlose zu fallen.
Wohin mit sich? Wohin mit ihrem schreienden Inneren, was sie seit so langer Zeit begleitete? Wohin mit ihrem Gefühl? Mit ihren Gedanken?
Der Punkt wo man merkt, dass man absolut alleine mit dem ist, was in einem abgeht, ja, dann ist man gewissermaßen abgestempelt. Soweit jedenfalls die Meinung der breiten Masse und derer, welche einfach nur nachplappern und keinen Bock haben, sich mit der Materie auseinanderzusetzen.
Und am Ende wird der Aufschrei gerade von denen am größten, die von genau Null eine Ahnung haben.
Aber man kennt es – wozu also noch seine Energie darauf verschwenden, diese ganzen Idioten zum Schweigen zu bringen?
Es bringt nichts. Ebenso wie manch anderes.


Ich habe mich (zumindest ab jetzt) doch dafür entschieden, in meine direkte Perspektive zu wechseln, bitte entschuldigen Sie die kleine Verwirrung gleich zu Beginn. Es ist so wohl einfach persönlicher und wirkt direkter aus mir heraus aufs Papier gebracht.
Ich möchte zudem noch einen gutgemeinten Hinweis loswerden: Das hier ist in keinem Sinne irgendeine fiktive Schnulze, rosarote Brille-Erzählung oder eine in irgendeinem Moment verschönerte Nacherzählung von etwas, was sich ggf. mal irgendwann eventuell zugetragen haben könnte.
Kurz und knapp – die Protagonisten sind real. Jeder einzelne existiert, nur nicht im selben Raum mit Ihnen. Es reicht ja wohl volkommen aus, wenn ich sie kenne, ansonsten wären die folgenden Seiten leer und für Sie wohl äußerst langweilig.
Wo wir das also kurz geklärt hätten, fange ich mal an:



Nur Geschwister...


Ich stand auf der Rolltreppe, in meiner Rechten das Handy, von dessen Display mir eine Nachricht entgegensprang, die ich meinem ungesteuert verblüfften Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wohl niemals erwartet hatte. Oder lag es eher daran, von welcher Person der Text kam?

Ich dachte du gibst deine Nummer nicht einfach so raus ;)

Ja, ist klar. Ich hatte ja auch nicht ihm die Nummer explizit gegeben, sondern sie notgedrungen doch zum Beitritt in die Oberstufengruppe verwendet, um über wichtige Themen informiert zu bleiben. Dabei war meine Intention bis zu diesem Zeitpunkt weitaus produktiver gewesen, als das, was mir dann als vermeindlich wichtig präsentiert wurde.

Ich muss ja einen Überblick behalten, irgendwie. Soll ja in der nächsten Zeit irgendwelche Infos wegen der Einnahmequellen bezüglich unserer Abifeier geben

Kurzum war das der Beginn einer Verkettung mehrerer Ereignisse gewesen, welche mich wieder lebendig werden ließ. Zumindest für eine Zeit. Und genau das ist dieses Gefühl, welches ich bis dato niemals geschafft habe, jemandem vollumfäglich begreiflich zu machen. Aber inzwischen ist es okay, dass ich mit der Gewissheit lebe, nur wenige auf dieser Welt zu wissen, welche nachempfinden können, was ich mal für einen bestimmten Menschen empfand. Es gehört mehr dazu, als bloßes Vertrauen, Hingabe und das Wissen, dass man einander liebt.
Diese Einschätzung teilten wir bis zum Schluss.

Meine Schritte auf einen bis in die Tiefe seines Inneren hinein unglaublich faszinierenden Menschen zu, begannen mit etwas Banalem: Eben jenen Zeilen, welche wir begannen auf dieser Rolltreppe am Bochumer Hauptbahnhof auszutauschen.
Bis zu meinem Anschluss zur Haltestelle nahe meines Wohnhauses, tauschten wir mehrere Nachrichten aus, welche vom Inhalt nichts waren, im Vergleich zu dem, was in den kommenden zweieinhalb Jahren folgen sollte.
Und ich würde lügen, wenn ich jetzt im Nachhinein sagen würde, dass ich nicht bereits in dieser Konversation eine Ruhe spürte, die mich zu einem leichten Lächeln verleitete. Es war der erste Moment, an welchem ich, noch unbewusst, Zeuge dessen wurde, was dieser Mensch für eine Wirkung auf mich hatte. Und in Gedanken an ihn immer noch hat.
Aus dem mich in zwei gemeinsamen Oberstufenkursen still beobachtenden Jungen mir schräg gegenüber, wurde der wohl bedeutendste Mensch in meinem Leben. Aus einem Zufall heraus. Eingeleitet von meinem zu dem Zeitpunkt leider nicht ganz perften Gemütszustand.

Das erste Treffen fand nach längerem schriftlichen Kontakt bei mir in einem Park statt, schräg gegenüber eines Spielplatzes. Wir saßen einfach nur dar, er hörte mir zu, als ich langsam auftaute und ihm offenbarte, wie bescheiden es mir eigentlich ging.
Und er unterbrach mich nicht.
Er urteilte nicht.
Er hörte einfach nur zu und sah mich hin und wieder ruhig von der Seite an.
Wie wir dann irgendwann aufstanden und ein wenig gemeinsam spazieren gingen, habe ich noch so deutlich vor Augen, als wäre es erst gestern gewesen. Weil sich da zum ersten Mal unsere Finger berührten, während er mir etwas zusteckte. Die erste Hilfe, die er mir zukommen ließ, da ich ihm bereits alles anedere als egal war.
Ich nahm es noch etwas unsicher entgegen und verstaute was ich erhalten hatte in der Tasche meiner Jacke, während wir unseren Weg hinaus aus dem Park und an der Hauptstraße entlang fortsetzten. In diesem Moment machte ich mir Gedanken darum, was sich da gerade abspielte. Aber alles was ich klar sagen konnte, war, dass ich mich ruhig fühlte. Und zwar so wie schon Wochen nicht mehr. Ruhig und auf gewisse Weise sicher. Und das ohne das ich nochmal seinen Blick spürte. Nein, es war einfach seine Anwesenheit.

Das seine und meine Mutter in allem was danach geschah eine tragende Nebenrolle spielen würden, war uns zu diesem Zeitpunkt noch in keiner Weise klar. Er fing zwar beim zweiten Treffen, wieder am Spielplatz, langsam an von seiner Familie zu erzählen, jedoch alles noch sehr oberflächlich. Doch ich begann mich merklich zu entspannen.
Wir gingen bei diesem Treffen kurz nach dem Ausflug in den Park zu mir nach Hause, ich holte meine Tasche, verabschiedete mich wieder von meiner Mutter, die ihn das erste mal im Flur zu Gesicht bekam, da ich ihn bat draußen zu warten. Während ich im Zimmer mein Portemonnaie einsteckte, hörte ich sie unten miteinander reden. Das war jetzt im Nachhinein betrachtet der erste und letzte Moment, wo Tim ihr unvoreingenommen und entspannt begegnete.
Wir fuhren in die Stadt, die ganze Zeit in unserem Redefluss versunken, bis wir schlussendlich am Starbucks ankamen. Dort suchten wir uns mit unseren Getränken einen Platz weiter hinten am Fenster, in einer der Sofaecken und vertieften uns wieder. Zwei Stunden vergingen so wie im Flug. Und ich fühlte mich immer wohler, ohne das ich mir erklären konnte woher genau das kam.

Es ist dieses Gefühl, was ich bis heute habe, sobald ich an ihn denke. Eine tiefe Ruhe, die niemand vor ihm oder, bisher, nach ihm fähig war mir zu schenken. Und er tat es allein durch sein Wesen.
Und es war der Grund dafür, dass ich ihn bereits nach diesem Treffen auf Teufel komm raus nicht mehr missen wollte. Dieser Mensch war innerhalb kürzester Zeit so unbeschreiblich wichtig für mich geworden…

Mit dem dritten Treffen, ging dann unser Versteckspiel los. Es war die vierte Woche der Sommerferien und wir sagten uns auf unserem Stammplatz ins Gesicht, dass wir einander so wichtig waren, wie Geschwister. Eine glatte Lüge beiderseits, aber das konnten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Die Äußerung entstand schier aus der Angst heraus, man könne den anderen verlieren…
An diesem Tag kam es das erste Mal dazu, dass wir unseren Sitzplatz verlagerten und uns auf die Bank am Sandkasten setzten, wo aufgrund der Bewölkung keine Kinder spielten. Und dann sah ich auf einmal eine kleine Maus an einem der Randsteine ganz in der Nähe.
„Nein, wie süß. Guck mal da.“
Es war der Augenblick, in dem er mir zum ersten mal dieses unvergleichlich liebevolle Lächeln schenkte, scheinbar angetan von meiner Reaktion auf die unverhoffte kleine Besucherin. Mir schlug das Herz bis zum Hals und wir sahen uns direkt in die Augen, aber keiner gab seine Deckung auf. Auch nicht, als er mir irgendwann sein Handy wegschnappte und von mir weghielt um zu demonstrieren, wie klein ich doch sei. Jaja ;)
Wie kam ich da dran? Kurzer Prozess, indem ich mich kurzerhand auf seinen Schoß setzte und es mir angelte. Mein strafender Blick führte zu in Ergebung ausgestreckten Händen und einem schiefen Grinsen. Und wäre ich meinem wirklichen Gefühl gefolgt, dann hätte ich ihn dort bereits das erste Mal geküsst. Aber wir hielten uns weiter an unsere Deckung.

































Angst dich zu verlieren...


Ich hielt es dann nach der dritten beinahe schlaflosen Nacht nach ein paar weiteren Treffen, schlussendlich nicht mehr aus und fasste mir ein Herz. Ich schickte ihm abends am eine zweiminütige Sprachnachricht, in welcher meine Stimme mehr zitterte als jemals zuvor. Es schnürte mir beinahe die Kehle zu, dieser Gedanke, ihn an mein Liebesgeständnis zu verlieren. Die zwei blauen Haken, die wie gewohnt blitzschnell davon kündeten, dass er meine Nachricht gesehen hatte, erlösten mich jedoch wenig später.
Ja, er hatte angst gehabt mich zu verlieren, wenn er es mir sagen würde. Er wollte seine neugewonnene Schwester und unglaublich wichtigen Menschen nicht wieder aus seinem Leben verlieren.
„Ja. Judith, ich meine es auch so verdammt ernst mit dir. Ich liebe dich…“

Heute, nach sieben Jahren, habe ich das Ende seiner Sprachnachricht immer noch Wort für Wort, und mit dem entsprechenden Tonfall im Ohr. Damals war es eine Erlösung, wodurch sich meine Anspannung und ehrliche Ergriffenheit in Form von Tränen löste. Heute gleicht es mehr einem Fluch, dass ich seine Stimme aus diesem Moment immer noch hören kann.
Was mir heute in die Augen tritt sind ebenso Tränen. Aber eben jene, die von Verlust, Wut und zeitweise Verzweiflung durchsetzt sind.
Ich weiß, dass es nicht meine Schuld war, dass ich die Liebe meines Lebens am Ende doch aus meinem Leben verloren habe. Aber es fühlt sich so an. Sehr oft.

Wir trafen uns aufgrund eines zweiten Familienurlaubs von ihm, seinen Eltern und seiner Schwester in den letzten beiden Ferienwochen nicht mehr. Das enge Beisammensein hatte zufolge, dass seine Familie, gerade auch durch Noras Neugier, sehr schnell von mir erfuhr. Und direkt wie auch seine Mutter nun mal war, foderte sie zügig ein, mich kennenzulernen. Genau so resolut trat Jessi mir dann tatsächlich auch gegenüber, als wir uns mit ihr wenige Wochen nach den Ferien im Cafe Ferdinand hinter dem Hauptbahnhof zum Frühstück trafen.

Als wir am ersten Tag nach den Ferien in die Schule kamen, wusste ich bereits im Foyer, dass besonders die Adleraugen meiner Freundinnen Afua und Viktoria auf uns gerichtet sein würden. Die beiden hatten bereits lange vor den Ferien tagelang an mir geklebt und mir zugeraunt, dass Tim mich beobachte und er wohl offensichtlich mehr für mich empfand, als reine Empathie. Ich, naiv und blauäugig, verneinte es jedesmal vehement. Und nun hatte ich den Salat!
Vicky winkte mich um den Tisch in der Mensa herum, an dem sich viele aus unseren Kursen versammelt hatten, um später gesammelt zur Einführungsveranstaltung in der Aula aufzuschlagen, und grinste mich so offensichtlich an, dass es wahrscheinlich auch die Hälfte von ihnen mitbekam.
Ich nickte nur reumütig und konnte ein Strahlen nicht unterdrücken.
Mehr an Austausch brauchte es nicht, es war alles gesagt. Und ich stellte mich auf den Platz gegenüber wieder hinter Tim, legte mein Kinn auf seinem Kopf ab und umarmte ihn von hinten. Innerlich konnte ich mein Glück immer noch kaum fassen.

Wenig später sprach uns dann Afua an, als wir auf der Treppe zu den Chemie- und Biologieklassenräumen aufeinandertrafen. Sie beachtete mich nur kurz und wandte sich dann mit gekünstelt strengem Gesichtsausdruck an Tim.
„Sag mal, was hast du mit meiner Judith gemacht?“
„Tja… Eigentlich gar nichts, streng genommen.“
Damit war es dann erledigt und sie stiefelte ebenso grinsend wie Vicky zuvor, an uns vorbei die Treppe hoch. Aber nicht ohne mir im Vorbeigehen ein „Du wirst mir später in der Pause alles haarklein erzählen“, zuzuraunen.
Mehr als pflichtbewusst zu nicken blieb mir nicht übrig :D.

So vergingen die ersten Tage. Wir verbrachten jede freie Minute miteinander, mit Ausnahme der Zeiten, in denen mich Rowena in den Mittagspausen zum Reden brauchte. Nach drei wochen lernte ich dann seine Mutter kennen. Jessi sprang regelrecht im Cafe vom Tisch auf und trat strahlend auf mich zu. Und wieder – ich fühlte mich verdammt geborgen.
Zum Schluss begleiteten wir sie zum Auto, wo sie mich dann schlussendlich umarmte. Eines von unzähligen Malen, wie sich in Zukunft zeigen sollte.


© MajaBerg


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