Ein zerknüllter Mann liegt an der Wand. Seine Wirbelsäule verschwindet wie eine junge Wurzel unter der verknitterten Bettdecke, die von zu kurzen, schweißgetränkten Nächten und zu frühen, im Mund nach alten aufgeweichten Brötchen schmeckenden Morgen zu erzählen weiß.
Sein Kopf sitzt wie eine viel zu klein geratene Baumkrone auf seinem soliden, schlafend gekrümmten Körperstamm und hebt sich alle paar Minuten, um sich dann sofort in neuer Position wieder ins Kissen zurückfallen zu lassen.
Ich verbinde die Leberflecken auf seinem Rücken mit imaginären Linien und entscheide, dass es an der Zeit ist, ihn wieder zum Menschen werden zu lassen, woraufhin ich die Decke anhebe und ihn umschlinge, als könne er nur zum Leben erweckt werden, indem ich ihn erdrücke.
Der Mann erwacht sanft, der Tag ist schon zu alt, um auf einen Schlag begonnen zu werden. Er lächelt schon, bevor er die Augen aufgeschlagen hat, streckt alle Viere von sich und lässt ein zufriedenes Schmatzen verlauten, während er sein Gesäß an meinen Bauch schiebt.
Ich weiß, dass er findet, dass wir heute nicht mehr aufstehen müssen.
Doch das Leben lässt sich leichter ertragen, wenn man seinen Schauplatz in gehirngerechte Stücke teilt und sich hin und wieder nur einem Ort widmet, anstatt sprunghaft durch Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit zu hetzen und selbst im Stillstand noch das Gefühl zu haben, ewig weiterzulaufen, ohne irgendwo anzukommen. Ich bin nervös.
Außerdem wird mir warm von der verdoppelten Körperwärme und ich schiebe ihn von mir, werfe mich auf die andere Seite und schwinge die Beine aus dem Bett.
Ich weiß, dass er mich zurückziehen und verschlingen wird, wenn ich nicht schnell genug bin, und da ich ein Frühstück brauche, bevor ich selbst eines werde, springe ich auf und rufe etwas, das nach einem Satz zwischen „Bin kurz Brötchen holen“ und „Ich weiß nicht, ob ich zurückkomme“ klingt.
Nachdem wenige Sekunden verstrichen und die Lider des Mannes wieder zugefallen sind, hat sich meine Temperatur wieder in den Normbereich gependelt und erlaubt es mir, vor die Wohnungstür zu treten und den penetranten Geruch von Bier und Perspektivenlosigkeit einzuatmen, der sich an die Wände des Plattenbaus klammert wie eine Affenmutter an ihr totes Kind. Wieder einmal denke ich mir, dass es vielleicht besser wäre, die tragenden Stränge des sozialen Auffangnetzes durchzuschneiden, damit erst gar niemand hindurchfallen kann. Wo kein Oben ist, ist auch kein Unten.
Ein verträumter Radfahrer macht einen Umweg über meinen Fuß und mir fällt ein, dass ich mir in den nächsten Tagen einmal wieder die Fußnägel schneiden sollte, da ihre Überlänge meine Schuhe drücken lässt und mich beim Sitzen mit auf dem Boden abgestützten Zehen stört. Dann erinnere ich mich an den Mann an der Wand und frage mich, wieso nicht jeder Tag so ist wie dieser.
Gleich darauf stelle ich erstaunt fest, dass jeder Tag so IST wie dieser.
Ich verbringe bloß nicht jeden Tag so, wie ich diesen verbringe. Wieso?
Mir gefällt dieses Bild von einem Leben nicht, in dem man permanent mit einem Brei aus Verpflichtungen, schlechtem Gewissen, zurückgestellten Ideen und aufgegebenen Träumen im Hinterkopf durch die Welt läuft.
Welcher Idiot hat das Bild eingerahmt, dem aus Matsch geformten Menschen ein Korsett geschneidert, sodass es nicht mehr möglich ist, den Dingen Neues beizufügen, sie zu erweitern?
Nach den Ferien werde ich wieder in die gegenüberliegende Ecke des Gemäldes zurückreisen, die durch mein Fortgehen entstandene Lücke brav und schweigsam füllen und mein buntes Leuchten wird gräulichen Pastelltönen weichen und das Bild wortwörtlich eintönig und zu einem Klassiker machen.
Leider habe ich nur ein Leben, sonst hätte ich schon längst ein Seil über den Rahmen geworfen und hätte mir eine Wand zum Beschreiben und Bemalen gesucht, aber so habe ich Angst, meine einzige Chance auf Selbstzufriedenheit durch tatsächliche Individualität, welche eigentlich Resultat von ersterem sein sollte, zu verspielen. Leute, die jedes Risiko scheuen, gehen das größte Risiko ein, so George Frost Kennan. Ich liebe es, zu zitieren.
Es wäre toll, wenn eines Tages jemand meine Worte benutzte; nicht, weil er sie in irgendeinem Moment besonders lustig oder des Belächelns wert fand, sondern weil sie ihm helfen, weiterzudenken, umzudenken, andere zum Denken zu bewegen.
„Hey, die Welt ist schon zu wach, um unauffällig von Dir zerstört zu werden!“, ruft es plötzlich leicht erhöht hinter mir. Der Liegende ist nach seinem zweiten und endgültigen Aufwachen auf den Balkon geeilt und grinst zu mir hinunter.
Ich blinzele in zwei Sonnen auf einmal und spüre, wie die oberflächliche Wunde an meiner Hüfte zu jucken beginnt. Er wird sie ob meiner Vorwarnung in den nächsten Tagen noch suchen, dann finden und bald vergessen haben.
Da ich Fachwörter besonders mag, wenn sie aneinandergereiht werden, bezeichne ich mich im Geheimen als autodestruktive Narzisstin.
Das klingt sowohl wild als auch edel und das gefällt mir.
Gleichzeitig fühle ich mich aber auch immer ein bisschen bescheuert, wenn ich solche Sachen erfinde, wenn nicht ein gutes Stück größenwahnsinnig.
So falte ich mich also schnell wieder auf normale Größe zusammen und lasse mich von seinen Blicken wieder zurück in das riesige Gebäude ziehen.
Als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fällt, ist alles wieder gut.
Du weißt es, ich weiß es, genau so muss es sein, wir beide gehören zusammen, denn es ginge auch alleine.

Wenn wir gemeinsam durch die Straßen gehen, in den Supermarkt oder in die S-Bahn einsteigen, kann es vorkommen, dass man uns ungläubig beäugt.
Ich bin siebzehn und viele Leute sind der Ansicht, er sähe nicht so aus wie jemand, der es sich erlauben dürfe, einer Siebzehnjährigen nachts näher zu sein als ihr eigenes Bettlaken.
Ich persönlich finde, dass eine Menge Männer so aussehen, als dürften sie es.
Doch das tut nichts zur Sache. Wir sind ein Paar und langsam findet sich die Welt damit ab. Nur die Langsamen der Erkenntnis meinen, die Langsamkeit gehöre zur Erkenntnis. So sehen wir das. Der Mann an der Wand und ich.
Alles im Leben oder dem, was wir Menschen das Leben nennen, braucht zwei Seiten, um vollständig und überhaupt legitim zu sein. Einen Plus- und einen Minuspol, um Null ergeben und den Schauplatz für das menschliche Fühlen und Handeln darstellen zu können. Man muss über nichts sprechen, für das es nur eine Antwortmöglichkeit, nur eine Sichtweise gibt.
Leider scheinen viele Leute mit einem kaputten Scheibenwischer durch den Platzregen der Menschlichkeit zu fahren, da sie nur auf einer Seite klar sehen, während sie auf die andere Seite überhaupt nichts erkennen können und in Folge dessen keinen einzigen Blick mehr auf sie werfen.
Also fällt nur das in ihr Blickfeld, was es ihnen leicht macht, Menschen wie den Mann an der Wand und mich zu verurteilen: vermeintliche Anhäufung von Klischees zum Beispiel. Der Mann an der Wand ist mein Partner, mein Freund und mein Geliebter, er ist zehn Jahre älter als ich, hat weder eine abgeschlossene Berufsausbildung noch einen Job und empfängt ALG II.
Und er kommt aus dem Osten, wohnt also achthundert Kilometer und minimal sieben ICE-Stunden von mir entfernt. Er ist also in vielerlei Hinsicht ein Feind.
Der kaputte Scheibenwischer verleitet meine Mitmenschen dazu, meinen Partner, Freund und Geliebten als pädophil und in der Entwicklung zurückgeblieben zu halten, - eben weil er der Partner, Freund und Geliebte einer Siebzehnjährigen ist -, und mir mindestens einen Vaterkomplex anzuhängen. Man bekommt eine rissige Haut, wenn man ein großes Mitteilungsbedürfnis hat, weil plötzlich etwas im eigenen Leben passiert, und sich dann für die schlichte Wahrheit rechtfertigen muss.
Ich habe viel zu sagen und wenig zu fragen. Ich habe einen Menschen.
Ebenjener mag es, mit mir einkaufen zu gehen und Dinge zu kaufen, die man addieren muss, um ein schmackhaftes Resultat zu erzielen.
Ebenjener mag es, mich an der Hand zu halten und gesehen zu werden.
Ebenjener mag es, mir dabei zuzusehen, wie ich mit steigendem Alkoholpegel aufhöre, mit dem Fuß zu wippen und meine Knöchel knacken zu lassen.
Ebenjener mag es, mich bei seinen Eltern zwei ganze Fische verdrücken zu sehen, nachdem ich eine Woche lang wie eine Maus gegessen habe.
Ebenjener mag sowohl englischen Rasen als auch Dschungel auf meinem Kopf.
Ebenjener mag es, mit mir in der Bahn neue Kussvariationen zu erfinden, wie zum Beispiel Fischküsse, bei denen man mit dem Mund ein O formen und den Unterkiefer auf und ab bewegen muss oder Regulator-Küsse, bei denen wir ein Gesicht wie Schrotty von (T)raumschiff Surprise machen.
Ebenjener drückt mich in der Küchenzeile seines Bruders gegen die Wand.
Ich mag Wände. Später, falls es ein gemeinsames Später sein wird, wollen wir jeweils ein eigenes Zimmer haben. Das ist wichtig.
Man kann nicht Eins werden, wenn nicht jeder etwas Eigenes ist und hat.
Ebenjener sagte einmal: „Fass mich an, damit ich loslassen kann! Komm her, damit ich gehen kann! Nur dann kann ich mich wirklich frei bewegen, wiederkommen und dich wieder und wieder berühren, loslassen, berühren, loslassen, berühren...“
Das mag kitschig klingen. Nur haben es die schönsten Dinge im Leben nun einmal an sich, konstruiert und übertrieben zu wirken.
Somit ist Form wieder einmal das B auf das A des Inhalts.


© Merkwürdig


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Kommentare zu "Die Antwort auf alle Fragen ist vielleicht"

Re: Die Antwort auf alle Fragen ist vielleicht

Autor: halifax   Datum: 04.07.2014 16:47 Uhr

Kommentar: Ich glaube schon, dass es genau deine Antworten sind, die Scheibenwischer wieder zum Funktionieren bringen können!
Halifax

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