Dort steht er.
In der Ecke meines Zimmers.
Eingehüllt in die für ihn schützenden Dunkelheit, seines hellen Reiches.
Er ist mein laut schweigender Begleiter. Stets in meiner Nähe, aber nie für mich erreichbar.
Nie bin ich wirklich alleine. Immer ist er bei mir, aber nie für mich da.
Er sieht mich. Sieht mich nie. Sieht durch mich hindurch.
Seine Augen so vielsprechend und nichtssagend. So leidenschaftlich und lustlos. So liebevoll und hasserfüllt.
Jedes Mal, wenn ich in seine von Dunkelheit gezierte helle Ecke schaue, lacht er mich an. Lacht mich aus. Zeigt keine Emotionen.
Er lacht über mich und mein Leiden. Lacht mit mir über die verschiedensten Dinge. Er lacht so leise, dass ich es hören kann.
Seine tiefe, rauchige, unheilvolle und anbetungswürdige Stimme. So hoffnungsgebend und vernichtend. Sie verfolgt mich. Begleitet mich. Überall wo ich bin, höre ich seinen Bariton. Er hat kein Erbarmen und doch so viel Mitgefühl. Zeigt es aber nicht. Nie und doch so oft.
Er vernichtet mein Selbstwertgefühl und baut es wieder auf. Ist meine Rettung, mein Held, wenn ich nicht mehr kann. Mein Lichtblick in dem immer dunkler werdenden Tunnel seines Reiches. In das er mich immer wieder schickt. Allein.
Eine Zeitlang habe ich ihn angeschrien, angefleht und angebettelt, dass er doch endlich gehen soll. Für immer bei mir bleiben soll. Verschwinden soll. Doch sein kalter, wärmender Blick, aus seinen dunklen und lichtbringenden Augen, war bloß weiter erheitert. Danach erschien ein breites, grausames, liebevolles Grinsen auf seinen abstoßenden, sinnlichen, vollen Lippen.
Er erfreut sich an meinen Schmerzen, an dem bittersüßen Geschmack meines Elends, aber auch an meiner Freude, meiner Liebe. Verzückt leckt er sich dann über seine Lippen. Kostet von meiner Trauer, meiner Verzweiflung, meiner Wut, von meiner Angst, einfach von allem. Er ist immer hungrig, aber nie satt. Er will mehr. Mehr von meinen Gefühlen schmecken. Ich gebe sie ihm. Gebe ihm alles. Freiwillig, weil ich nicht anders kann. Es nicht anders kenne. Es nicht anders will.
Die Farbe der Nacht, die Farbe des Himmelreichs schmeichelt ihm. Flackert wie eine kaputte Glühbirne um ihn herum. Schmückt ihn mit einem dunklen, erleuchteten Mantel.
Umso mehr ich ihn mit meinen verwirrten, klaren Gefühlen nähre, desto gieriger wird er.
Bewegen tut er sich nie und doch so viel.
Tut mir nie weh, verletzt mich aber immer wieder von neuem.
Stillschweigend, aber so laut, dass ich mir meine Ohren zuhalten muss.
Er.
Mein persönliches Paradoxon.
Meine Verwirrtheit.
Mein Unbehagen.
Meine Hoffnung.
Mein Retter.
Mein Lichtbringer.
Mein Schatten.
Meine Dunkelheit.


© Violet E.


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Beschreibung des Autors zu "Paradoxon"

Mein für immer.

Violet E.

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Kommentare zu "Paradoxon"

Re: Paradoxon

Autor:   Datum: 25.09.2020 21:47 Uhr

Kommentar: wow das haut rein.

Re: Paradoxon

Autor: possum   Datum: 26.09.2020 1:05 Uhr

Kommentar: Ja dies hast du tiefgründig beschrieben, liebe Violet, lieben Gruß!

Re: Paradoxon

Autor: IchWillKeinenNamen   Datum: 26.09.2020 1:41 Uhr

Kommentar: So schön, so schrecklich, dass mir die Worte fehlen.

Re: Paradoxon

Autor: Violet   Datum: 03.10.2020 21:36 Uhr

Kommentar: Ich danke euch für eure netten Kommentare. Freut mich, dass es euch gefallen hat.
Ganz liebe Grüße aus meinem persönlichen hellen, dunklen Reich.

Violet E.

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