Wenn es in meinem Leben eine Fertigkeit gibt, die ich sehr früh erlernt und aufgrund von regelmäßigem, harten Training nahezu perfektioniert habe, dann ist das ganz eindeutig die Kunst des Leidens. Mir ist niemand bekannt, der so ausdauernd und so dramatisch leiden kann wie ich selbst. Man könnte sagen, ich hätte im Leiden mein ganz persönliches Steckenpferd gefunden. Und zu allem Überfluss ist dieses Hobby auch noch überaus praktisch: man kann es nämlich überall und zu jeder Tageszeit praktizieren ─ und das ohne jegliche Hilfsmittel oder Partner! Egal ob morgens direkt nach dem Aufstehen oder zur Happy Hour in der Supermarktschlange: Leiden lässt es sich immer. Was fällt dieser blöden Pantoffel auch ein, derart kackdreist und unerreichbar unter mein Bett zu flutschen und warum in aller Welt rafft diese kreuzdumme Azubine an der Kasse nicht, dass ich verrückt werde, wenn ich ihren abartig asymmetrisch gefeilten Krallen beim Slomo-Abscannen meiner gefälligst gottverdammt privilegierten Ware zuschauen muss?
Ein weiterer Vorteil des Leidens: Man muss sich nicht dafür rechtfertigen. Im Gegenteil ─ binnen weniger Sekunden findet man ganze Scharen von Sympathisanten, mit denen man sich gemeinsam über den verspäteten Regionalexpress oder die viel zu teuren Spritpreise erboßen kann.
Leiden ist ein Volkssport, den sich jeder leisten kann. Denn: Probleme hat jeder. Sie beruhigen uns, weil sie die perfekte Grundlage für ein Gespräch bilden ─ schließlich fällt uns immer wieder ein neues, noch größeres Problem ein, von dem wir erzählen können. Probleme verbinden. Probleme beschäftigen. Probleme geben uns das Gefühl, dass unser Leben zwar scheiße läuft, aber immerhin in Bewegung bleibt.

Anders steht es da allerdings um Leiden, mit denen man lieber nicht über den eigenen Tellerrand hinausgeht, weil sie absolut gesellschaftsuntauglich sind.
Intim. Peinlich. Geheim. Ich rede von den sogenannten „echten“ Problemen.
Es gab eine Zeit, da fühlte ich mich morgens nach dem Aufwachen wie ein sedierter Frosch auf einer Metallplatte, der von einem pickeligen, blutgeilen Semi-Gymnasiasten beäugt wird. Dieser pickelige, blutgeile Semi-Gymnasiast war die Welt, die außerhalb meines Bettes lauerte und nur darauf wartete, mich endlich zu sezieren. Diese Welt war viel zu laut, viel zu bunt und leider bevölkert von Millionen Kleingeistern, die mich meines Erachtens nach alle langsam und kaltblütig zugrunde richten wollten. Damals war ich froh, wenn ich es schaffte, meine Beine über die Bettkante zu schieben. Wenn es nach mir ginge, hätte ich meinen Soll für den gesamten Tag damit erfüllt. Es ging aber nicht nach mir. Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass der Höhepunkt dieses Tages wie schon so oft erst an seinem Ende auf mich warten würde, nämlich dann, wenn ich endlich wieder allein sein und in mein schönes, warmes Bett kriechen konnte.
Ich war jung. Ich sollte eigentlich in der Blüte meines Leben stehen und hysterisch kichernd in einer Traube von ebenso pubertären Gören stehen und wichtige Gespräche über Themen wie die Notwendigkeit der weiblichen Beinrasur austauschen. Doch leider war ich depressiv und kämpfte jeden Tag um den nächsten Tag. Wie viele andere junge Menschen hatte ich sie ─ „Probleme“.
Mit den Jahren wurden diese Probleme aber mein ständiger Begleiter. Ich gewöhnte mich an sie und merkte nicht, wie sie nach und nach zu einem Teil meiner Persönlichkeit wurden und irgendwann drohten, diese ganz und gar einzunehmen. Ich begann, mich über alles zu definieren, was schief gelaufen war oder schief lief.
Das ist ein Beispiel für jene Art von Leiden, die dafür sorgen, dass einen irgendwann einmal irgendein Arzt an irgendeine Einrichtung vermittelt, in der man irgendwie permanent das Gefühl hat, man hätte seinen gesunden Menschenverstand an der Pforte abgegeben. Das würde jedenfalls erklären, wieso man vom Personal oft behandelt wird wie eine unzurechnungsfähige alte Oma. „Ich finde es nicht gut, dass...“ „Jaaaaa, Frau B., ist ja guuuuut, jetzt nehmen Sie erstmal diese kleine bunte Pille und dann...“ In diesem Fall lautet die Devise: Leide lieber leise. Sonst lassen die Dich vielleicht niemals wieder raus!

Wie ihr seht, haben sie mich wieder raus gelassen. Ich habe den sagenumwobenen „Absprung“ geschafft und musste dafür nicht einmal auf ein Hochhaus steigen.
Wenn ich jetzt morgens aufwache, dann stehe ich halt einfach auf. Mache Fitness. Bereite mir ein gesundes Frühstück zu. Gehe zur Arbeit. Treffe Freunde. Habe Hobbies. Dieser ganze blöde Spießerscheiß eben. Kurzum: Ich komme klar.
Als mir dieser Fakt vor ein paar Monaten aus heiterem Himmel plötzlich auffiel, weil ich irgendwie schon lange keine Stimmungskurve mehr aufmalen oder mich einer Computertomografie unterziehen musste, habe ich mich ganz schön erschreckt.
Und wisst ihr auch wieso? Weil etwas anders war als sonst. Ja: Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Plötzlich wurde mir ganz blümerant und nach kurzem Grübeln sah ich das allgegenwärtige Problem endlich vor mir: Ich hatte kein Problem. Es ging mir gut. Könnt ihr euch vorstellen, was das für ein Gefühl ist? Sicher nicht.
Und könnt ihr euch denken, was dann über mich hereinbrach? Ich sag’s euch: Eine MEGALOMANISCHE PANIKATTACKE!
Hinter meiner Stirn brach in meiner mit hochexplosiven Stoffen arbeitenden Fabrik namens Gehirn binnen weniger Sekunden der Super-GAU aus. Tausend kleine, verwirrte Männchen namens Gedanken rannten wie wild durch die Gänge, legten sich nacheinander und gegenseitig auf die Fresse und verloren jegliche Orientierung.
Immerhin hatten sie plötzlich nichts mehr zu tun. Kein Problem, das nur so danach schrie, stundenlang umkreist, aufgebläht und komplett überbewertet zu werden. Lange Zeit bestand mein Alltag quasi NUR aus Problemen ─ und jetzt das!

Daraufhin musste ich mir erst einmal eine große Flasche Karamalz hinter die Binde kippen. Im Rausch fiel mir ein Zitat aus meinem Lieblingsbuch ein: „Er erzählte ihnen den kürzesten Witz der Welt: Treffen sich zwei Menschen. Sagt der eine: „Ich bin glücklich!““ Haha...glücklich? Da kann doch was nicht stimmen! Es wird noch etwas dauern, bis ich auf die Frage „Wie geht es Dir?“ ohne schlechtes Gewissen „Gut, danke!“ werde antworten können. Ich meine: Gegen so ein kleines Problem wäre doch eigentlich nichts einzuw... Nein! Ich habe beschlossen, dass ich von nun an auch ohne Dauerdrama, Blut und Gesplatter auskommen will. Und meine Texte sollen das gefälligst auch tun. Und jetzt tätet ihr wirklich gut daran, würdet ihr endlich applaudieren, denn sonst, und das wäre ja pure Ironie des Schicksals, hätte ich schon wieder ein Problem.


© Merkwürdig


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Beschreibung des Autors zu "Ein Problem ist auch nur eine schlampig geschminkte Lösung"

Dies ist der Text, den ich bei meinem ersten Poetry Slam vortrug.
Glücklicherweise brachte er mich sogar ins Finale!




Kommentare zu "Ein Problem ist auch nur eine schlampig geschminkte Lösung"

Re: Ein Problem ist auch nur eine schlampig geschminkte Lösung

Autor: halifax   Datum: 04.07.2014 16:26 Uhr

Kommentar: Hoffentlich wird es nicht zum Problem, wenn ich laut und anhaltend applaudiere …
Man (frau) kann auch mit den Knien applaudieren, vor lauter Angst, dass da auf einmal kein Problem mehr da ist.
Das hast du wunderbar hingekriegt. Ich ziehe meinen Hut!
LG Halifax

Re: Ein Problem ist auch nur eine schlampig geschminkte Lösung

Autor: noé   Datum: 07.07.2014 0:09 Uhr

Kommentar: Also: Wenn er das NICHT getan hätte, hätte ich ein Problem mit dem Publikum...
Danke für DIESEN Text!!
noé

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