Menschen kommen in mein Leben und gehen wieder. Sie alle haben mir etwas zu geben, für das ich dankbar sein kann. Selbst meinem vermeintlichen Feind kann ich mit Dankbarkeit begegnen. Das klingt so einfach.
Dankbarkeit zu fühlen, erfordert vielleicht erst einmal eine Zeit der Stille und des Fühlens. Es erfordert vielleicht ein innere Einkehr, um herauszufinden, wer und was ich wirklich bin. Für welche Ereignisse in meinem Leben kann und will ich dankbar sein? Welche Teile meiner Vergangenheit haben mir geholfen, zu werden, was ich heute bin? Welche Lebensabschnitte waren zwar traurig und schwer, aber letztendlich haben sie mich mir selbst näher gebracht? Wenn ich davon ausgehe, dass jede Erfahrung und jede Begegnung ein Spiegelbild meiner selbst ist, muss ich mich fragen, welches Spiegelbild gerade vor mir steht? Welche Erfahrung will ich gerade machen? Was hat diese Begegnung mit mir selbst zu tun?
Für all diese Fragen kann ich nach Antworten suchen. Wenn ich das wirklich will. Auf dem Weg zu diesen Antworten kann viel passieren. Die einen verlieren sich in Hass- und Rachegefühlen. Die anderen versinken im Selbstmitleid und in Depressionen. Wieder andere ziehen sich aus der Gemeinschaft zurück und sagen vielleicht gar nichts mehr. Nur die wenigsten schaffen es, schwierige Zeiten und Begegnungen als Geschenk zu sehen und sie in etwas Liebevolles zu verwandeln.
In meinem Leben habe ich mich oft gefragt, warum ich diesen Hass- und Rachegefühlen nicht nachgegeben habe? Ich habe mich immer wieder gefragt, warum ich nicht einfach mal mit den Keulen zurückgeschlagen habe, mit denen ich geschlagen wurde?
Meine Antwort war immer die gleiche: „Ich werde nicht auf dieses Niveau gehen. Auch wenn es wehtut."
Dann sind mir Menschen begegnet, die sagten, ich solle Grenzen setzen. Andere Menschen meinten, dass Gedanken auch vernichten können. Allerdings habe ich persönlich noch nicht erlebt, dass Gedanken einen anderen Menschen getötet haben. Es waren die Aggressionen und die daraus entstehenden Taten, die dazu führten. Ich habe allerdings immer die Wahl, was ich mit meinen aufkommenden Aggressionen tun möchte.
Ich kann sie in noch mehr Hass verwandeln oder ich kann sie umwandeln in Vergebung und Dankbarkeit. Das ist meine ganz persönliche Entscheidung und Freiheit. Ich kann mich immer wieder damit auseinandersetzen. Ich hab immer wieder die Wahl.
Die Menschen, die mir begegnen wollen mir helfen - in irgendeiner Form. Selbst wenn ich es nicht sehen kann oder sehen will. Etwas Gutes steckt immer darin. Das war meine persönliche Einstellung. Vielleicht konnte und kann ich deshalb auch dankbar sein.
In meinem Leben habe ich Menschen getroffen, die mich gefragt haben, wie ich dankbar sein kann, wenn mir jemand Schmerz und Leid zufügt? Wie kann ich dankbar dafür sein, dass mich jemand verletzt oder gar zu töten versucht? Das sind sehr schwierige Fragen.
Jahrelang habe ich mich mit den möglichen Antworten auseinandergesetzt. Immer wieder habe ich mich selbst hinterfragt, habe versucht, die andere Seite und mich zu verstehen.
Welchen Grund hat jemand, wenn er mich missbraucht?
Welche Motive liegen hinter dem Versuch mich umzubringen?
Was soll mir das sagen und was bedeutet es für mich?
Dafür haben einige Menschen sehr einfache Antworten. Doch ist es wirklich so einfach?
Jemand möchte mich verletzen oder töten. Warum?
Warum ist dieser Mensch in meinem Leben?
Wieso habe ich ihn hereingelassen oder gar angezogen?
Warum will er das tun?
Was hat das alles mit mir zu tun?
Warum kam diese Verbindung überhaupt zustande?
All diese Fragen führten mich zu der intensiven Auseinandersetzung mit dem Anderen und mit mir. Sie führten mich von Hass- und Rachegefühlen zu Mitleid und Trauer und schließlich zur Vergebung. Daraus resultierte dann eine tiefempfundene Dankbarkeit.
Dankbarkeit selbst für die schmerzlichen Zeiten. Dankbarkeit für diese Fähigkeit der Umwandlung, die mir letztendlich Heilung brachte. Sie ermöglichte mir, wieder zu leben.
Selbst wenn es Augenblicke gibt, in denen ich schmerzlich feststellen muss, dass es immer wieder mal einen Blick zurück gibt. Jeder Rückblick ist aber auch ein Augenblick des Hinfühlens und der Heilung.
Manchmal dauern solche Rückblicke einfach etwas länger.
Manchmal fühle ich dann noch einmal diese Trauer und diesen Schmerz und wünsche mir, es wäre damals jemand da gewesen, der mich in den Arm genommen hätte.
Mit jedem Mal zurückgehen und fühlen, kann ich mich selbst in den Arm nehmen, kann ich heilen und noch ein Stück mehr vergeben.
Ich kann mich immer wieder neu fragen, wer oder was ich heute wäre, ohne diese Erlebnisse?
Ich kann mich immer wieder neu fragen, wie ich damit umgehen will.
Will ich hassen?
Will ich Rache?
Oder will ich vergeben, dankbar sein und heilen?
Denn meine Wunden heilt nicht die Zeit.
Sie verblassen nur, sie sind in meinem Datennirwana untergegangen.
Vielleicht reicht ein Auslöser schon, und sie stehen wie eine Mauer vor mir. Dann habe ich wieder die Wahl. Möglicherweise sind sie dieses Mal das fehlende Puzzleteil zu einem höheren Ganzen, für das ich dankbar sein kann.
Beschreibung des Autors zu "Was hindert Dich daran, dankbar zu sein?"
Mein Artikel wurde heute in der Huffington Post veröffentlicht ---> http://www.huffingtonpost.de/cornelia-becker/was-hindert-dich-daran-da_b_4636866.html
Kommentar:"Meine Antwort war immer die gleiche: „Ich werde nicht auf dieses Niveau gehen. Auch wenn es wehtut."
Das ist ein wichtiges Element.
Rachegefühle kenne ich nicht, sie sind für mich wesensfremd, was ich als großes Geschenk ansehe. Wenn ich verletzt wurde, oft über Jahrzehnte hinweg, hat mich stets nur Trauer erfüllt. Und Ratlosigkeit. Weil ich mir für mich ein solches Handeln nie vorstellen konnte, war es mir bei anderen so wenig nachvollziehbar.
Das mit der Reflektion stimmt unbedingt, auch das mit der daraus erwachsenden Vergebung.
Ein toller Text, ganz auf meiner Schiene, Cornelia.
noé
Kommentar:Hallo Conny, das ist ein sehr bewegender Text und er spricht mich sehr an, denn aus ihm spricht das Leben. jeder Mensch hat den Charakter der ihm in die Wiege gelegt wurde. Der Eine wird von Rachegelüsten geplagt, der andere hat Depressionen, wenn er verletzt wurde. Bei mir ist es meist unendliche Traurigkeit und die Frage nach dem Warum, natürlich auch mal ein Augenblick der Wut. Niemand kann aus seiner Haut. Dankbarkeit aber, für Mißachtung und Erniedrigung könnte ich nicht empfinden.
LG Micha
Kommentar:Herzlichen Dank für Eure lieben Kommentare.
Bei mir ging der lange Weg von Verzweiflung und Ohnmacht zu Trauer und Verzweiflung, dann über Wut zur Vergebung. Es war ein langer Weg. Aber heute lebe ich wieder. Mit der Vergebung kam der Friede und das tut gut.
Alles Liebe für Euch :)
Kommentar:Was für ein wunderbarer Text. Damit machst du anderen Menschen sicherlich Mut. Deine Sichtweise ist großartig und du beweist, wie wertvoll die Selbstreflexion ist :)
Bei diesem Satz stimmt aber etwas nicht so ganz...
"Mit jedem Mal zurückgehe und fühlen, kann ich mich selbst in den Arm nehmen, kann ich heilen und noch ein Stück mehr vergeben."
Aber ansonsten ist dieser persönliche Text einfach nur schön.
Bewunderswert, wie du deine Gefühle umwandeln konntest.
Kommentar:Danke Lisa für den Hinweis. War ja nur ein "n" zum Glück. Da sind die Gefühle wohl sehr intensiv gewesen.
Liebe Grüße und einen schönen Feiertag
Cornelia
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