Es war einer dieser Abende, der mich ohne Vorwarnung in die Erinnerungen an mein altes Leben zurückwarf. Ich lag schon im Bett, es war weit nach Mitternacht, mein Schlafzimmerfenster stand offen und von der S-Bahnstation vor dem Haus schwappte Gelächter und Gemurmel herein. Gemischt mit der vor Spannung nur so überladenen Luft, versetzte mir das Ganze einen Stich ins Herz. Ich vermisste meine Freunde, sogar Bonn (wahrscheinlich die Hormone?!), meine Leichtigkeit und die Lebensfreude. Stattdessen konnte ich spüren, wie sich ein Schatten über mein Gesicht und ein kaum tragbares und ertragbares Gewicht auf meine Brust legte. Unglück. Das war alles, was mir im Kopf umher spukte. Ich war so tief unglücklich, dass mir, ohne das ich es wollte, Tränen über die Wangen liefen. So begann sich das Gedankenkarussell zu drehen. Was wäre wenn: ich mein Studium in Bonn beendet hätte, ich nicht so unbedingt wieder nach Hamburg gewollt hätte, nicht nach Frankfurt weitergezogen wäre, nicht so krampfhaft versucht hätte, an meinen Hirngespinsten mit neuer Orientierung im Studium und neuen Leuten, neuer Wohnsituation, neuem Lebensrhythmus, schlicht, einem Neuanfang festzuhalten?

Wäre ich dann vielleicht glücklicher? Oder muss man einfach dann und wann im Leben genau solche Phasen überstehen, in denen man weiß, dass man nichts weiß, außer, dass man unglücklich, unzufrieden und voller Selbstzweifel ist? An den folgenden Tagen wurde es nicht besser, im Gegenteil. Ich lauschte den Luxusproblemen anderer, die sich über Monate hinweg das Hirn über Eventualitäten zerbrachen, die sie sowieso nicht selbst beeinflussen konnten. Egal wie oft sie ihren Denkdurchfall abließen, nichts änderte sich, sie änderten nichts. Dennoch fühlte ich mich wie die Toilette für immergleiche negative Gedanken. 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche. Offensichtlich eine schlimme Überart von Diarrhö. Und wie man es vom herkömmlichen Durchfall kennt: der Geruch bleibt länger als gewünscht im Raum, trotz offenem Fenster. Auf der anderen Seite gab es da noch diejenigen, bei denen ja alles ach so großartig lief. Großartiger Job, großariger Partner, großartiges Auto, großartige neue Chanel-Handtasche, großartige Freunde, großartige neue Wohnung, großartiger Urlaub, großartiger Verlobungsring, einfach alles war großartig. All das ließ mich sauer aufstoßen. Wo war das gesunde Mittelmaß geblieben? Ich kam nicht umhin mich zu fragen: Gab es nur noch perfekt oder unbrauchbar?

Doch was genau ist eigentlich „Perfektion“?
Fakt ist, das deutsche Adjektiv „perfekt“ kommt ursprünglich aus dem Lateinischen von „perficere“, was so viel heißt wie „vollenden, fest abgemacht, nicht mehr änderbar“. Wenn man nun also von diversen fotogeshoppten Äußerlichkeiten, der 1,0-Absolventin in der Uni, die am liebsten die erste Präsidentin der USA werden möchte, der Bilderbuchfamilie aus der Werbung und all dem (ver)blendenen Blitzlichtgewitter und Konfetti-und-Glitzer-in-unser-Leben-Gepuste absieht und rein nach der Wortbedeutung geht, dann bin ich trotzdem perfekt. Oder zumindest gut gelungen. Ich hab es geschafft, vor meinem 30. Geburtstag bei Mutti auszuziehen. Ich weiß, wie man eine Waschmaschine bedient. Kochen kann ich, sogar mehr als Nudeln mit Ketchup oder Tiefkühlpizza. Ich weiß, mehr oder weniger, was ich einmal machen und wer ich einmal sein möchte. Und während ich jetzt gerade hier sitze und weiter über mein Leben nachdenke, merke ich, ich habe schon viele Dinge vollendet. Mein Abitur, Klausuren, Beziehungen, die mir nicht gut taten, das ein oder andere Level bei „Super Mario Bros.“, das Abendendessen, welches ich vorhin zubereitet habe. Es gibt kein Falsch, kein Nicht-Perfektsein und vor allem: kein Unbrauchbar-Sein. Auch wenn wir uns manchmal so fühlen. Unsere Lebenswege mögen in verschiedene Richtungen führen, man mag uns Steine in den Weg legen (oder wir tun es selbst), wir werden uns verirren, weil wir an einer Kreuzung nach links anstatt nach rechts abgebogen sind, werden weinen, weil wir fallen, kurz vor dem Verdursten stehen, weil wir uns plötzlich in einer Emotions- und Gedankenwüste befinden. Doch jedes Mal, wenn wir ein Stück unseres Weges geschafft haben, sollte das ein kleiner Etappensieg für uns sein. Ein Stück unserer eigenen Perfektion, ein weiteres Stück, das wir vollendet haben. Dafür sollten wir niemand anderen brauchen, außer uns selbst!



In diesem Sinne: schau morgens mal wieder öfter in den Spiegel und sag dir, dass du großartig bist. So wie du eben bist.


© Joy M. Mirth


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Kommentare zu "Die Perfektion des Unperfekten"

Re: Die Perfektion des Unperfekten

Autor: Naoki Unique   Datum: 07.07.2019 21:27 Uhr

Kommentar: Wer das Glück im Hier und Jetzt nicht finden kann, der wird es auch nicht in der Zukunft finden.

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