Die vier großen ''S''

© Joy M. Mirth

Donnerstagabend. Draußen ist es schwül, das Wetter nervt, trotzdem war es so voll in der Stadt, wie lange nicht mehr. Menschenmassen drängten sich durch die Straßen, schoben sich durch die vollkommen überfüllten kleinen Geschäfte, blieben mitten im Bewegungsfluss des Geschehens stehen und fotografierten die Kulisse des Jungfernstieges, des Rathauses oder sonst einer Sehenswürdigkeit Hamburgs. Manchmal, so glaubte ich, knipsten sie sogar die am Boden klebenden Kaugummis, immer achtgebend, auch wirklich nicht die kleinste Kleinigkeit zu verpassen, die um sie herum geschah. Ich hingegen wollte einfach nur nach Hause. Der Weg zur U-Bahn gestaltete sich jedoch als Hindernisparkour, die Bahn hatte natürlich Verspätung und als diese dann endlich kam, war sie vollgestopft mit nach Bier und Schweiß duftenden Fußballfans, die laut grölend zum nächsten Public Viewing fuhren. Völlig geschafft kam ich etwa 45min später zu Hause an. Ich zog die Vorhänge zu, hüllte mich in meine geliebte Jogginghose samt Schlabberpulli und ließ mich erschöpft auf das Sofa fallen. Heute wollte ich niemanden mehr sehen. Bis auf den Lieferanten, der mir in einer knappen Stunde mein Abendessen bringen sollte. Und damit sind wir auch schon bei den wundervollen vier großen „S“ angekommen:
Sushi, Sekt, Sofa und "Sex and the City"

Mehr brauchte ich heute nicht, um glücklich und zufrieden zu sein. Doch unter der freudigen Oberfläche schlummerte etwas viel Schlimmeres. Ein weiteres großes „S“ schlich sich in meine Gedanken und vertrieb seine Kollegen mit einem eleganten Tritt in die Ecke. Die Rede ist von Selbstmitleid. Denn darin begann ich in meiner Oversized-Sofa-Couture zu versinken. Mit dem gefüllten Sektglas in der einen- und der Fernbedienung für den DVD-Player in der anderen Hand, dachte ich an früher, an die Zeit, in der ich das Wochenende kaum abwarten konnte und auch gerne mal den Mittwoch schon nutzte um auszugehen und ausgelassen zu feiern. Das Leben, mich, meine Freunde oder einfach nur, dass die Hälfte der Woche schon geschafft war. Und nun saß ich hier, auf das Essen wartend und kam nicht umhin mich zu fragen: war früher wirklich alles so viel besser, schöner, unbeschwerter? War das Sofa-S das neue Spaß-S?

Ich begann darüber zu grübeln. Als ich vor gut zwei Jahren noch in Bonn wohnte, wäre ich um diese Zeit wahrscheinlich noch im Café gewesen und hätte Kaffee und Kuchen verkauft, sehnlichst auf den Feierabend wartend. Wenn ich den Müll dann im Hinterhof unseres Hauses (ja, mein WG-Zimmer lag im gleichen Haus wie meine wundervolle Arbeitsstätte) entsorgte, hörte ich aus dem geöffneten Küchenfenster ein Stockwerk höher schon Musik, Gelächter und Gläserklirren. Nach einer Schicht hier unten hatte ich aber selten Lust noch großartige Unternehmungen zu starten. Doch jedes Mal, wenn ich dann um 22Uhr den Laden zugeschlossen hatte und völlig verschmiert mit Marmelade, Schokolade und Kaffee unsere WG-Küche betrat, schafften es meine großartigen Mitbewohner mich zu überreden, doch noch loszuziehen. Und meistens wurde der Abend dann genauso großartig, wie es meine WG-Familie war. Zwar konnte ich mich dann die nächsten zwei Tage kaum bewegen, geschweige denn sprechen (wenn wir es mal wieder zum Karaoke geschafft hatten), aber ich empfand dennoch eine Lebendigkeit und schier unbändige Lebensfreude. Aktuell war davon allerdings nichts vorhanden. Aber warum? Weil wir erwachsen wurden, uns mehr Gedanken um unsere Zukunft machten, als wir es in den vergangenen Semestern taten?
Weil uns die Leute von damals fehlten?

Fakt ist, je älter wir werden, desto mehr haben wir doch das Gefühl, uns an die Gesellschaft und ihre Ansprüche an uns anpassen zu müssen: Vegan ist in, jede zweite Woche eine Detoxkur ist gesund, studieren und am besten mit 25 Jahren den Master in der Tasche und zusätzlich noch 35 Jahre Arbeitserfahrung auf dem Blatt stehen haben, mit 30 dann bitte verheiratet sein, natürlich dann auch langsam Kinder bekommen (die innere Uhr tickt) und Familie und Karriere unter einen Hut bringen, nachdem die Schwangerschaftspfunde innerhalb von fünf Tagen wieder verschwunden sind, mit der großen Liebe, dem perfekten Katalog-Mann, ein Haus bauen mit weißem Zaun und einer Schaukel im Garten, dann noch einen süßen kleinen Hundewelpen aus dem Tierschutz adoptieren, eine vorbildliche Ehe führen, irgendwann goldene Hochzeit feiern (dabei natürlich auch noch faltenfrei und makellos aussehen) und wenn man dann 70 werden sollte, in Rente gehen und in Saus und Braus und Ehre bis ans Ende seines Daseins existieren.
Wo ist denn hier noch Platz für das Leben? Das echte Leben, wie es eben nicht durch sämtliche Medien publiziert wird? Wie soll man denn da noch eine eigene Identität entwickeln können, ohne sich gleich schlechter zu sehen, als man ist und wie nicht voller Selbstzweifel seine Zeit auf der Erde absitzen, immer in der Angst, irgendwem könnte nicht gefallen, was man tut?

„Wie, du hast schon wieder einen neuen Freund?“ „Ach, was macht man denn mit dem Studium später? Kann man da auf dem Arbeitsmarkt eigentlich Fuß fassen?“ „Seit deinem letzten Besuch hast du aber zugenommen. Solltest du nicht mal wieder ins Fitnessstudio gehen? Da bezahlst du doch auch für.“
Typische Fragen auf Familienfeiern oder irgendwelchen unwichtigen Treffen mit alten Klassenkameraden, bei denen man Interesse vorgaukelt um zumindest schon einmal Teil dieser kleinen Gesellschaft zu sein. Ich warte auf den Moment, in dem ich wirklich einfach einmal ausraste, bei meiner Oma auf den Küchentisch springe, mein T-Shirt von mir reiße und schreie: „Ich vögel mit wem ich gerade Lust habe, ich mache ein Studium, das mir Spaß macht, was ich dann daraus machen kann, sehe ich, wenn ich damit fertig bin, ich frühstücke Tiefkühlpizza, voller Gluten und Kohlenhydraten, im festen Aggregatzustand, nicht als Smoothie, esse jeden Abend eine absolut nicht vegane Tafel Schokolade und scheiße momentan auf Sport. Ich schlafe am Wochenende gerne mal bis in die frühen Mittagsstunden. Ans Heiraten denke ich auch noch nicht, auch nicht, obwohl viele meiner Freunde schon Kinder haben oder gerade ihre tollen Hochzeitsfeste planen, denn Ehe heißt für mich nur eins: „erare humanum est“ - Irren ist menschlich. Und jetzt lasst ihr mal die Hüllen fallen, nehmt die hässlichen fratzenartigen Masken ab, zeigt eure wahren Gesichter und kommt mal von euren edlen, ach so perfekten Rössern herunter!“ Meine Oma wäre glatt mit ihren 91 Jahren aus dem Rollstuhl aufgestanden und hätte mit mir das Leben oben auf dem Tisch gefeiert. Doch so eine Gelegenheit gäbe es nur, wenn ich nicht vorzeitig an einem Magengeschwür oder einem Herzinfarkt sterbe, was früher oder später passieren wird, wenn ich weiterhin die Möchtegern-Individualisten und -perfektionisten ertragen muss. Wobei ich mir so Selbstmitleid ersparen würde. Allerdings verpasse ich so auch alles Andere, was ein erfülltes Leben ausmacht. Und das ist das Leben selbst, mit allen Schwierigkeiten, die uns im Laufe der Jahre begegnen werden. Ich werde häufiger an mir zweifeln, werde durch große Städte wie Hamburg laufen, vermeintlich perfekte Menschen sehen, ohne zu hinterfragen, was hinter jener oder welcher Person steckt, ohne daran zu denken, dass es keine Formel für Perfektionismus gibt. Dafür werde ich hin und wieder mich selbst hinterfragen, das, was mich ausmacht, um irgendwann einzusehen, dass das Leben stetig weiter geht und ich in einem halben Jahr schon nicht mehr die Gleiche sein werde. Meine Aufgabe ist es nur, es für mich lebenswert zu gestalten und nicht früher oder später verbittert auf dem Sterbebett zu liegen, um dann dort Vieles zu bereuen. Die eigentliche Bedeutung des Wortes „Leben“ war laut Duden einst „übrig bleiben“, im Sinne von „überleben nach einem Kampf“. Und ist es nicht das, was wir Tag für Tag auf's Neue versuchen? Zu überleben?


© Joy M. Mirth


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Beschreibung des Autors zu "Die vier großen ''S''"

Eine kleine Abhandlung über das Leben und eine kleine Lebenskrise




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