Der Pianist mit den traurigen Augen

Der Pianist mit den traurigen Augen
An einem kalten und grauen Morgen im Jahr 1879 ereignete es sich, dass an einer grauen Felsküste, ein Schiffbrüchiger von der Flut ans Ufer getragen wurde. Entkräftet und erschöpft hatte ihn eine glückliche Strömung bis hierher getragen. Nachdem das große Dampfschiff, welches ihn von Hamburg nach New York hätte bringen sollen, aus zu diesem Zeitpunkt noch ungeklärten Gründen, schlicht in der Mitte auseinander gebrochen war. Als ein hektischer Trubel an Board ausbrach, war Wasilji Rewèu, seines Zeichens Konzert Pianist, von einer hysterischen dicken Dame zur Seite gestoßen worden, als diese in Panik los stürmte, um einen Platz in einem Rettungsboot zu ergattern. Woraufhin der Pianist stolperte, dass Gleichgewicht verlor und über die Reling hinab ins Meer stürzte. Unterkühlt und erschöpft kroch Wasilji Rewèu über die steinige Küste, weg vom Wasser. Seine Glieder waren steif und seine Kleidung vom Wasser vollgesogen und schwer. Er fror erbärmlich und hatte sich bereits damit abgefunden, hier an der einsamen Küste sterben zu müssen. Als namenloser Schiffbrüchiger würde er auf einer fremden Insel einsam sterben und bald schon, würden die Möwen und andere Tiere seinen toten Körper bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt haben. Doch auch mit dieser schrecklichen Vorstellung in seinem Kopf, mochte es Wasilji nicht gelingen weitere Kräfte zu mobilisieren, um sein Leben zu retten. Er fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem er erst viele Stunden später wieder erwachte. Die Sonne stand hoch am Himmel, hatte seine Kleidung getrocknet und seine Haut verbrannt, er wischte eine salzige Kruste von seinen Augenliedern. Ein quälender Durst hatte ihn aufgeweckt. Er musste sich aufraffen, nicht mehr lange und Wasilji Rewèu wäre tatsächlich an der Felsenküste der Insel gestorben und sein toter Laib von den Möwen und anderen Tieren aufs Schlimmste verstümmelt worden. Der gestrandete Pianist nahm all seine verbliebene Kraft zusammen, stemmte sich in die Höhe und taumelte, durch dichtes sprödes Gras geradewegs auf einen nicht weit entfernten Wald zu. Der kühle Schatten der Bäume glich einer Erlösung für Wasiljis geplagten Körper. Er setzte sich erneut. Sein Kopf schmerzte, seine Lippen waren spröde und aufgesprungen, er fror noch immer und seine verbrannte Haut plagte ihn zusätzlich. In seinem Leid wanderten seine Gedanken zu seiner Frau Mischa, die er zuhause zurück gelassen hatte. Als weltweit gefragter Musiker war er viel auf Konzertreisen und mit den Jahren sah er Mischa immer seltener. Genaugenommen tat er stets alles, um so wenig Zeit wie möglich im gemeinsamen Haushalt zu verbringen. Er liebte sie, dessen war er sich sicher. Die Ehe mit ihr war nur einen sehr kurzen Augenblick glücklich gewesen. Das Lachen seiner Frau war seit Jahren verschwunden. In ihren blauen Augen lass er nun mehr beständigen Vorwurf und ihr niedliches Gesicht war von Kummer durchzogen. Er hatte ihr kein Glück gebracht, es war gewiss sein Wunsch gewesen, diese Frau glücklich zu machen. Erzeugte ihr unerschütterlicher Glaube an das Gute in ihm und das Kinderlachen, das sie sich über viele Jahre bewahrt hatten, jene geheimnisvolle Begeisterung in ihm, die Menschen dazu bringt einander zu vertrauen. Bei dem Unterfangen Mischa als seine Frau zu lieben, war er jedoch an seinem eigenen Selbst gescheitert und nun konnte er ihre Nähe nicht weiter ertragen. Ihre gesamte Gestalt schien ein Abbild seines Versagens zu sein. Jeder Kuss, jede Berührung, jedes Wort das sie Sprach war für ihn ein Zeugnis seines eigenen verkommen Charakters. Jetzt jedoch, wo er allein auf einer fremden Insel seinen geschundenen Körper an einen knorrigen alten Baum angelehnt hatte, war der Gedanke an sie sein Himmelreich und er wünschte sie wäre bei ihm. In ihrer possierlichen Art und Weise würde sie sich neben ihn setzen, er würde seinen Arm um ihre Schulter legen und sie ihren großen runden Kopf auf seinem Schlüsselbein auflegen. Er würde an ihren blonden Haaren riechen und ihr liebevoll die Stirn küssen. Für wenige Sekunden würde sich alles auf der Welt gut, schön und richtig anfühlen. Wie damals, als Mischa ihn nach etlichen Monaten endlich erhörte. Ein tiefer Kummer stieg in ihm auf, als er sich bewusst machte, dass er sie nun wahrscheinlich nie mehr wieder sehen würde. Er machte sich schwere Vorwürfe. Er hatte diese wundervolle Frau niemals, als den Engel der sie war, zu schätzen gewusst. Er war nie aufrichtig ihr Mann gewesen und er hatte sich stets lieber um sich selbst gekümmert und sie, hatte in all der Zeit seine Träume und Wünsche vor die ihren gestellt und stets nur kummervoll geschwiegen und versucht, die gemeinsame Zeit harmonisch zu gestalten. Manchmal bewunderte er ihre Gabe kummervolle Wahrheiten zu ignorieren. Er selbst hatte seit Jahren kein ehrliches Wort an sie gerichtet. In der Zeit ihrer Ehe war es ihm zu notwendigen Gewohnheit geworden die Wahrheit aufs Äußerste auszudehnen und zu ergänzen. Es war ihm eine Herzensangelegenheit, dass sie eine gute Meinung von ihm hatte, also schönte er sein Leben und seinen Charakter durch Schweigen, Finten und Unwahrheiten. Jedes Schweigen und jedes Beschönigen der Wahrheit hatte mit der Zeit zu mehr und mehr Lügen geführt und mit jedem Jahr das vergangen war, las er mehr und mehr Kummer in ihren gebrochenen Augen. Er hatte sie um ihr Leben betrogen, das seit langem in ein Netz aus Lüge eingewoben war. Mischa hatte sich niemals über ihn beklagt, niemals etwas hinterfragt und ihm all die Jahre ihr tiefstes Vertrauen entgegen gebracht, er Wasilji Rewèu hatte es Verstanden den für sich größt möglichen Vorteil auf diesem Vertrauen zu ziehen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es ihm ein leichtes war, überall wo er hin kam, weitere Frauen von sich zu überzeugen, um zu jeder Zeit und an jedem Ort umsorgt und verwöhnt zu sein. Alles was er dafür tun musste war über sie Schweigen. Gerne hätte Wasilji geweint, doch in seinem dehydrierten Körper waren keine Tränen.
Ein Schmetterlingspärchen das durch die Frühlingssonne tollte weckte Wasilji aus seinen leidvollen Tagträumen. Ihr vergnügter, zappeliger Flügelschlag hatte etwas so heiteres und lebensfrohes dass Wasilji einen Augenblick lang sein persönliches Leid vergaß und ihnen nachblickte. Er sah ihrem Tanzen zu und sammelte neuen Lebensmut. An sein Ohr klang das leise rauschen eines nicht weit entfernten Bächleins. Er raffte sich auf und folgte dem Geräusch. Er brauchte Trinkwasser. Er würde trinken und sich ausruhen, dann würde er die Insel erkunden. Er ersehnte Essen und Zivilisation. Unter Aufwendung all seiner verbliebenen Kraft stolperte Wasilji durch den Wald. Sein Körper war ein einziger Schmerz und in seinem Kopf ein Schwindel der sich wie ein Vorhang über seine Augen und Ohren legte. Der Waldboden unter seinen Füßen war weich, von Wurzeln durchzogen und mit trockenem Laub bedeckt. Dumpf drang das Geräusch seiner Schritte an seine Ohren. Sein Weg führte Wasilij in eine Schlucht in der ein kleiner Bach gemütlich vor sich hin floss. Er hangelte sich unter Taumeln und Rutschen den steilen Abhang hinab zum plätschernden Wasser. In die Melodie des Baches mischte der Wind ein leises Lied. Wasilji kannte es wohl. Sie schien aus seiner Erinnerung zu kommen. „von einem glücklichen Verlaufen“ hatte er sie genannt, als er sie vor Jahrzehnten komponiert hatte, um Mischa von sich zu überzeugen. Er stürzte auf das Gewässer zu, viel in ihm auf die Knie und schöpfte mit beiden Händen gierig das kalte, klare Wasser. Mit jedem Schluck den er nahm, trank er ein Stück Erinnerung. Das kühle Nass brachte ihn in die Tage der Liebe zurück. Sein Lied übertönte das Rauschen in seinem Kopf, seine verbrannte Haut spürte er kaum noch und er fühlte den starken Drang dem Bach entgegen der Strömung weiter zu folgen. Mit der Melodie die er einstmals komponiert hatte, erreichte ein kaum hörbares, noch weit entferntes Rufen seinen Verstand. „Regenbogen“ erkannte er Mischas Stimme. Früher nannte sie ihn so, bevor Kummer und Misstrauen ihr Herz für ihn verschlossen hatte. Damals, als sie ihm noch glauben konnte und nicht nur so tat, als würde sie seinen Worten für die Wahrheit halten. Jahre bevor sich Vorwurf und Kummer über die Seele seiner Frau gelegt hatte. Sie hatte ihn so getauft, da er, wie sie sagte, ab und an schillernd in ihrem Leben auftauchte, nur um dann wieder spurlos zu verschwinden, so wie es auch der Regenbogen am Himmel tat. Wasilji lief schneller dem Bachlauf entgegen. Seine Schmerzen und seine Verzweiflung hatte er vergessen und in seinem Herz rührte sich die Freude auf das Wiedersehen. Mischa musste von dem Schiffsunglück gehört haben und suchte nun nach ihm. Sie würde nicht aufgeben, bis sie ihn gefunden hatte. Wie leicht könnte sie ihn für vermisst und nach einiger Zeit für Tot erklären lassen, um ein freies und glückliches Leben zu leben. Aber nein, sie war seine Frau und hielt trotz allem weiter an ihm fest. Wasilji fühlte ein tiefes warmes Glück in sich aufsteigen. Unaufhaltsam folgte er der Stimme und der Melodie seines einstmals vergessenen Liedes. Bis er schließlich an eine hohe Felswand gelangte, über die der Bach als ein sanftes Rinnsal zu ihm hinunter floss. In langen zärtliche glitzernden Fäden, als wäre er ein Vorhang aus reinem Silber und dahinter, die Silhouette seiner Frau.
Wasilji folgte ihrem Abbild, hinter den Wasserfall in die Kalksteinwand hinein und alles was wir von ihm noch wissen ist die Melodie die er, im Sommer leise und kaum hörbar, auf den Silberfäden des Wasserfalls spielt und im Winter, wenn der Frost das Wasser erstarren lässt, lauter und deutlicher auf einem Piano aus Eiszapfen. Nur wenigen Wanderer ist es beschieden, sich so glücklich zu verlaufen, einem seiner Konzerte beizuwohnen und nur jene, die das Herz eines Poeten in sich tragen waren fähig die Schönheit der unschuldigen Melodie in Worte zu kleiden und mit sich in die Welt zu tragen.


© the cute little dead


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Kommentare zu "Der Pianist mit den traurigen Augen"

Re: Der Pianist mit den traurigen Augen

Autor: DaisyPaul   Datum: 17.06.2017 12:44 Uhr

Kommentar: einfach nur WOW....tolle Geschichte und so wunderschön geschrieben. Einfach nur WOW.

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