Ich spüre, daß es langsam zu Ende geht, das Jahr, das Ich, das Überhaupt. Ich winde mich in konvulsivischen Denk-Krämpfen und fantasiere, fernab aller Realität, besessen vor mich hin: Ich sehe, ich erkenne Gott! Er sitzt in einem winzigen Kabäuschen, so winzig, wie es eigentlich gar nicht möglich ist, und er spielt ein Gesellschafts-spiel mit sich selbst. Es heißt: Wirspielenallesaufeinmalgleichzeitig.
Das Spiel ist ganz einfach – man (Gott) beraube sich aller Macht, allen Wissens und allen Willens und ist! Alle Facetten ist man, die es gibt, die entstehen können, aus allen Möglichkeiten, deren Kombinationen untereinander immer neue Schöpfungsstrukturen ergeben. Man spaltet sich auf! Gedanken werden zu Ereignissen, zu Personen und Persönlichkeiten, zu niederen und weniger niedrigen Empfindungen. Man hat den Knall! es hat den Knall...
In unzählbare Teile zerborsten, sucht es eine Wahrheit, die es nur selbst sein kann, eine Wirklichkeit, die nur daraus entsteht, daß es nicht weiß, wer oder was es ist. Es lässt sich überraschen und es zuckt, geschüttelt von den, aus sich, aus dem es heraus, aus sich ergebenden Universen, den Welten, den Gedanken, die sich durch die per-sonifizierten Gedanken der unterschiedlichsten Wesen ergeben, die im Verlauf des Spiels entstanden sind. So ist der Wille frei!
Es bewegt sich durch die erblühenden Zeiten, welkt mit den Strukturen, ersteht wieder auf und erlischt schließlich nach allen Unendlichkeiten, die nacheinander abgespult werden. Alles greift ineinander, und alles entströmt dem winzig kleinen Kabäuschen, zu dem kein lebendes Wesen Zutritt haben kann, weil alles bloß aus Gedanken besteht. Und Gedanken haben kein nachweisbares Ge-wicht!
Einzig, was zwischen etwas mehr und etwas weniger als ,nichts‘ existiert, sich abspielt oder nicht existiert, hat Gewicht. Das spezifische Gewicht von 0,00kg! Es ist nicht erreichbar, es genügt weder sich selbst noch sonstwem, es geht umher, Geist und Ungeist zugleich, es belebt seine Erinnerungen, flaniert dabei durch die Reihen Verstorbener und bespricht dort das zu Erwartende, den imaginären Bereich seiner Fantasie. Das ist, frei interpretiert: die Zukunft.
Und vor allem zuckt es! Ich zucke! Je rhythmischer wir miteinander zucken, desto eher erreichen wir den Gleichklang des Wahnsinns, innerhalb dessen Grenzen ich dann begreifen kann, was insgesamt vor sich geht. Von außen mag das wie ein Veitstanz aussehen, im Inneren aber ist es das tiefe Verständnis für die Schöpfung, ohne die Spur eines Selbstbetrugs! Die Einzigartigkeit des Vorgangs versteht sich von selbst! Er bedeutet die Vereinigung, die vollständige Har-monie!
Womit? Mit dem Ablauf! Denn der ist unabwendbar in allen seinen Konsequenzen, in der Unerfahrbarkeit seiner Vorausplanungen, in der ,Verwirklichung‘ nur dann kein Geheimnis ist, wenn man dem Wahnsinn die Maske vom Gesicht reißt, indem man sein Zentrum aufspürt und dessen Energie nutzt, damit eines zumindest wirklich wahr ist: die Gegenwart, von der aus gesehen nichts existent ist, außer dem Eindruck, den man von ihr zu haben glaubt, denn er spiegelt es wider!
Ich bin es und ich bin es nicht, es ist mein Zentrum und es ist es nicht. Ich bin nur vom Wahnsinn umgeben, ohne den nichts wäre, aber Nichts kommt nicht ohne Grund vor, denn es ist das Nichts. Und dadurch kann sich alles beleben. Aber nicht es lebt – ich lebe, du lebst, er, sie und was daraus wird, wird leben, leben in der Geborgenheit durch die Zerstörungskraft des Wahnsinns. Feuer und Eis, Yin und Yang, in einer einzigen Nichtfigur des Wirspielenallesaufeinmal gleichzeitig.

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 352. Schritt

© Luitpold Glocker (1892)


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 352. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 352. Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 24.10.2022 13:05 Uhr

Kommentar: Die Skulptur (Bild) drückt das aus, lieber Alf, was du beschrieben hast.
Sehr wortgewandt und wahnwitzig-(sinnig) geschrieben.

Herzliche Grüße aus dem noch nachdenkenden Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 352. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 27.10.2022 19:42 Uhr

Kommentar: man dankt

LieGrü
Alf

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