Manchmal, in der tiefsten, dunkelsten Nacht, wenn ich ganz alleine bin, dann schreibe ich einen Liebesbrief. Er ist voller Leidenschaft und Sehnsucht. Meine Feder schwebt über das Pergament meiner Seele und die Tinte ist aus Tränen und Blut! Was dabei entsteht, ist herzzerreißend …

„Ich fürchte mich vor dir, weil du mir geistig so hoffnungslos unterlegen bist.“
So lautet der 1. Satz. Er entspringt einem ehrlichen Gefühl – und ehrliche Gefühle sind wichtig in Liebesbriefen. Dann fahre ich fort …
„Du bist so ungeschickt, daß ich andauernd auf dich aufpassen muss. Was du anfasst, geht zu Bruch! Du brauchst zu allem ewig, vor allem zum bloßen Begreifen. Und wenn du einmal etwas begriffen hast, dann kannst du genau das, nichts aber sonst, immer wieder ausführen. Deine Vorstellungskraft geht gegen Null! Das tut mir so leid, daß ich dich in den Arm nehmen möchte.

Dich vor der ‘bösen Welt‘ beschützen zu wollen, geht aus zwei Gründen nicht. Der 1. ist, daß ich nicht den ganzen Tag hinter dir her sein kann, um die Schäden, die du dir selber und allem um dich herum zufügst, wieder zu beseitigen, und der 2. Grund ist folgender: Du kannst nicht vor der Welt beschützt werden, da du sie verkörperst. Du bist die Welt für mich!“

Das klingt schon ganz gut. Ich glaube, es kann verstanden werden, so man möchte. Doch hernach soll auch dies nicht unerwähnt bleiben …
„Wenn etwas über deinen Horizont geht, dann streikst du komplett! Dann kann ich dir erklären, was ich will – meine logische Beweisführung ist sherlockholmisch – du kapierst es einfach nicht, weil das kein Kümmern ist. Du kannst daraus nichts Fürsorgliches ableiten. Aber ich verachte dich trotzdem nicht – nur deine Methoden verachte ich!“

Ich finde, bis jetzt ist der Liebesbrief ganz gut geworden. Man könnte mich direkt erhören und Verständnis für mich aufbringen, wenn ich nicht damit hinterm Berg halte, sondern offen ausspreche, was mich bewegt …

„Natürlich möchtest du, daß ich mich in dir verliere, damit die Natur uns weiterbringt, in eine ungewisse Zukunft, in etwas, das schon immer ungewiss war – weil niemand je echte Liebesbriefe schrieb. Dann versuche ich, dich hingebungsvoll auf deinen Körper zu reduzieren. Ich bemühe all meine Fantasie, ihn schöner erscheinen zu lassen. Aber leider bedeutet er dir ja auch nichts. Seinetwegen geliebt zu werden, ist für dich eine Beleidigung. Mein Mitleid kniet vor dir nieder!“

Ich scheine über mich hinauszuwachsen. Ich glaube, es hat nie jemand einen schöneren Liebesbrief geschrieben als ich jetzt diesen. Leicht melancholisch träume ich vor mich hin und stelle mir vor, was aus uns werden könnte.

„Unsere Kinder – ausgestattet mit deinen Fähigkeiten – würden mich zu Tode erschrecken! Es gelänge mir problemlos, dein schönes Erbe in ihnen nicht nur wiederzuentdecken, sondern sogar überzubewerten, so daß ich mich in ihnen nicht fände, so wie ich mich in dir nicht finde, weil du zu Recht alles ablehnst, was ich bin.

Du kannst ja nichts davon verstehen! Ich sorge mich sehr um dich!“
Meine Augen werden jetzt langsam feucht und ich ertrinke im Meer der Welt. Ich bin ein Schiff, du bist das Meer und ich sehe kein Land, egal, in welche Richtung ich segle. Das ist die echte Weite! Aber ich muss noch einen Schluss finden, der meinen Brief abrundet.

„Die (Ehr-)Furcht vor dir als Persönlichkeit macht mich in alle Ewigkeit treu! Wenn ich mir ausmale, daß sich ein solcher Vorgang wie der Beginn unserer Liebe, mit jemand anderem wiederholt, dann ist mir das alptraumatisch genug, derartige Unterfangen lieber bleiben zu lassen – denn schließlich möchte ich nicht in der Einbildung verenden, etwas Besonderes zu sein. Ich weiß, wir brauchen uns, wie das Brot Salz braucht, wie der Himmel die Erde oder wie die Sterne die Nacht. Bleiben wir bei uns, mein Schatz, wir haben einander redlich verdient!“

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 159. Schritt

© Alf Glocker


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 159. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 159. Schritt

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 25.12.2021 10:50 Uhr

Kommentar: Lieber Alf,
gut überlegte Zeilen, die den Leser zum Nachdenken anregen.
Die Figur auf deinem Bild würde ich vor dem Bundestag aufstellen ... es hat Hand und Fuß, was wir machen ...
Frohe Fest
Wolfgang

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 159. Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 25.12.2021 11:08 Uhr

Kommentar: Sehr erschreckend, der "Liebesbrief"!

Weihnachtliche Grüße aus dem erschrockenen Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 159. Schritt

Autor: Michael Dierl   Datum: 25.12.2021 14:05 Uhr

Kommentar: So fängt ein wahrlich sehr fürsorglicher Liebesbrief an! :-))))

lg Michael

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 159. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 25.12.2021 16:30 Uhr

Kommentar: Harharr - vielen Dank liebe Freunde!

Ich habe darüber mal nachgedacht wie ich einen Liebesbrief an eine bestimmte Person verfassen könnte...dabei ist mir leider nichts anderes eingefallen.
Es entstand direkt aus einer Krisensituation heraus.

Davon habe ich hunderte erlebt. (Wenns reicht)

LieGrü

(aus dem coolen Süden)
Alf

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 159. Schritt

Autor:   Datum: 25.12.2021 18:15 Uhr

Kommentar: So ein kauziger Liebesbrief kann schon was , lieber Alf. An deiner Stelle hätte ich eine kurze SMS geschickt oder WhatsApp bemüht …

LG Herbert

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 159. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 25.12.2021 19:26 Uhr

Kommentar: haha, da ist was dran...

LG Alf

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