Wie glücklich ich bin

© Alf Glocker

Draußen schneit‘s, es ist kalt! Aber am Fenster sitzt eine Stechmücke…die arme Stechmücke! Womöglich trägt sie noch ein paar unschuldige Viren mit sich herum?! Ich habe Mitleid mit dem kleinen Tierchen…

Es kann doch nichts dafür, daß es eine Stechmücke ist. Im Gegenteil: Hier, wo unser Haus steht war früher einmal ein wunderschöner Sumpf – voller Stechmücken. Und jetzt? Jetzt haben die Stechmücken auf einmal keinen Platz mehr auf der Welt?

So geht das doch nicht!! Ich muss die Stechmücke hereinlassen! Ich sehe doch wie sie friert. Lange wird sie nicht mehr überleben können, wenn ihr niemand hilft. Viren hin, Viren her, Stechrüssel oder nicht Stechrüssel. Ich bin in ihrer Schuld!

Wir sind da, aber wir sind auch, ab dem Zeitpunkt, an dem unser Leben beginnt in der Schuld der Besiegten – und, daß es wesentlich mehr Stechmücken als Menschen gibt, ändert auch nichts an dieser Tatsache. Die Stechmücke muss rein, egal wie viele es davon gibt.

Auf diese EINE kommt es JETZT an! SIE friert und sie hungert. Ihre Mutter hat nicht einfach nur Eier gelegt, aus denen eben Stechmücken (was sonst?!) geschlüpft sind, sie hat lebenswertes Leben geboren! Sonst nichts!

An dieser Stelle sollten wir uns fragen: „Warum wurde eigentlich ICH geboren?“ Die Antwort darauf ist: „Alle sind gleich viel wert!“ Die Natur hat mich zum Städtebauer erkoren und die Mücken zu meinen Plagegeistern…das stimmt so nicht!

„Plagegeister“ in diesem Sinne gibt es nicht! Niemand ist hässlich, gefährlich, oder von übler Gesinnung – egal ob er nun ausschließlich stechen will oder nicht. Und die Übertragung von Viren ist schließlich nur eine mögliche Annahme.

Zuerst müssen wir davon ausgehen, daß es eben Mücken überhaupt gibt! Na und? Vorgestern ist jemand an einem Mückenstich (mit Virenübertragung) gestorben – na und?! Wenn er die Mücke vorher erschlagen hätte, hätte es ja auch einen Toten gegeben.

Wir müssen ganz dringend völlig neue Wertigkeiten einführen! Die Bezeichnung „Stechmücke“ muss verboten werden! „Mücke“ wäre schon bessert, obwohl das such schon reichlich diskriminierend ist. „Lebewesen“ reicht völlig aus!

Aber das genügt noch lange nicht! Es sollten auch schleunigst Winterunterkünfte für Stechmücken, pardon, stechende Lebewesen, pardon, einfach nur Lebewesen gebaut werden, wo sie von uns durchgefüttert werden können.

Und im Frühjahr, wenn es wieder wärmer geworden ist, muss eine Pflicht eingeführt werden, daß sich jedermann, jederfrau und jede(r)irgendwas zu stechen haben lassen muss – egal ob er davon Pestbeulen kriegt oder nicht.

„Also, nun stell dich nicht so dämlich an und lass endlich dieses verlassene Gottesgeschöpf, dieses unschuldige Lebewesen mit dem völlig harmlosen Stechrüssel zu dir herein“, sagt eine unüberhörbar moralische Stimme zu mir.

Und als ich das Fenster sperrangelweit öffne, fügt sie auch noch hinzu: „Und vergiss auch die vielen Spinnen, die Wanzen, die Ratten, die Asseln und die Kakerlaken nicht!“ Ich höre geduldig zu, muss mir aber eingestehen, daß ich schon ein bisschen Angst habe.

Was bin ich denn nur für ein absolut verkommener Zeitgenosse?! Allen spreche ich das Recht zu leben ab, sobald ich mir ein wenig Sicherheit und Wohlstand zu schaffen geglaubt habe. Kein Wunder, daß ich selbst auf einmal nichts mehr wert bin.

Recht so! Erschlag mich, friss mich auf, du widerwärtiges Ungeziefer, wer du auch bist, woher du auch kommst. Ich will dir reuig alles geben was ich habe und mich beißen, stechen und vernichten lassen…von wem auch immer. So glücklich bin ich!


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Wie glücklich ich bin"

Re: Wie glücklich ich bin

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 30.11.2021 19:47 Uhr

Kommentar: Lieber Alf,
ich erkenne Parallelen. Gern gelesen. Gut, dass du Leerzeilen eingebaut hast; um dazwischen zu lesen ...
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Wie glücklich ich bin

Autor:   Datum: 01.12.2021 6:51 Uhr

Kommentar: Stimmt schon, manchmal kommt man mit Mitlebewesen ins Dilemma - eigentlich haben sie genau die gleiche Lebensberechtigung, doch in der Nähe kann man sie nicht gebrauchen. Wir tragen die Tierchen zum Fenster und weg damit.

Lg Herbert

Re: Wie glücklich ich bin

Autor: Sonja Soller   Datum: 01.12.2021 15:00 Uhr

Kommentar: Eindeutig zweideutig!!
Vieles hast du allerdings zwischen die Zeilen geschrieben, lieber Alf.
Kompliment!!!!!

Herzl. Grüße aus dem unbestechlichen Norden, Sonja

Re: Wie glücklich ich bin

Autor: Alf Glocker   Datum: 01.12.2021 16:42 Uhr

Kommentar: Vielen Dank liebe Freunde!

LieGrü
(aus dem vieldeutigen Süden)
Alf

Re: Wie glücklich ich bin

Autor: Michael Dierl   Datum: 01.12.2021 19:57 Uhr

Kommentar: Hahahahaaaaa.......Deine Ironie gefällt mir! Über Stechmücken hatte ich mal ein Gedicht geschrieben. Ist aber schon länger her. Diese Plagegeister stechen sogar Vögel aber jedes Lebewesen hat eben so seine Nische gefunden sonst würde sie nicht existieren. Hingegen der Mensch sich auch bald eine neue Nische suchen muß. Das ist der Unterschied zwischen einer Stechmücke und einem Menschen. Die Stechmücke ist eben schlau........!

lg Michael

Re: Wie glücklich ich bin

Autor: Alf Glocker   Datum: 02.12.2021 6:32 Uhr

Kommentar: Genau!

LG Alf

...mal sehen wie groß diese Nische sein wird...

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