Ich bin Kosmopolit. Ich bin ein Weltbürger. Ich fühle mich überall zuhause. ICH BIN überall zuhause! Ich bin stets dort heimisch, wo mein Auto mich hinfährt. My car is my castle, wie die Briten oder die Bürger von Los Angeles gerne sagen. Meine Eltern haben mich in einem Ford Taunus gezeugt. In diesem Fahrzeug bin ich auch aufgewachsen, unterrichtet worden, wurde hier zum Christentum bekehrt. Meine erste sexuelle Erfahrung? Habe ich im Ford Taunus hinter mich gebracht. Heirat? Im Ford Taunus. In einem Hochzeits--Drive-in. Ich weiß nicht mehr wo sich das Fahrzeug befand. Aber ich und meine Braut – wir befanden uns im Ford Taunus. Das ist ein solides Gefährt und ein treuer Gefährte. Deshalb wohne ich noch immer in diesem Auto. Der Ford Taunus ist mein Zuhause.

Meine liebe Frau hat mich leider verlassen. Sie flog durch die Windschutzscheibe. Nicht freiwillig. Ein Geisterfahrer kam mir entgegen und ich habe eine Vollbremsung hinlegen müssen. Der Ford Taunus hat es überlebt. Der Geisterfahrer ist in letzter Sekunde doch noch ausgewichen. Aber das konnte ich ja nicht ahnen. Nach dem Tod meiner lieben Frau dachte ich daran, umzuziehen, in einen Mercedes oder ein japanisches Fabrikat. Ich kann mich von meinem Ford Taunus nicht trennen. Das Fahrzeug ist mein Zuhause. Habe ich das schon erwähnt?

Mietpreisbremse. Mietwucher. Wir könnten diese Mietabzocke einfach beenden, wenn wir fortan alle nur noch in unseren Autos wohnen. Das geht! Ich bin das beste Beispiel dafür. Ich habe nie in einem Haus oder in einer normalen Wohnung gewohnt. Drei Zimmer, Küche, Bad. Wer, bitte, braucht das denn wirklich? Die Leute stecken alle in Plattenbauten, Wohncontainern oder Schuhkartons und fühlen sich doch nicht heimisch. Wir hassen abwechselnd die Großstadt oder das Landleben. Also, wieso nicht heute hier und morgen dort leben? Im Auto, kein Problem! Wir sollten alle in unseren Autos wohnen. Dann könnten wir überall in zweiter Reihe parken und wohnen und uns auf dem Schrottplatz mit unseren treuen Autos bestatten lassen. Wozu sich in einer teuren Holzkiste begraben oder verbrennen lassen? Mit dem Auto in die Schrottpresse, sich in handliche Metallwürfel pressen lassen. Die Friedhöfe sähen viel aufgeräumter aus.

Sozialleben und Karriere sind im Auto kein Problem. Es gibt kaum Gelegenheiten, bei denen man wirklich aus dem Fahrzeug aussteigen muss. Für jede Gelegenheit gibt es einen Drive-In-Schalter. Ich habe lange als Kurierfahrer gearbeitet. Ich treffe noch heute alte Schulfreunde im Autokino. Okay... Familienfeiern im Auto sind etwas anstrengend. Aber das sind Familien auf kleinem Raum ohnehin. Die kritische Masse ist dann schnell erreicht. Wohnt man im Auto, hat man schnell eine Ausrede parat, um nicht zum Familienfest laden zu müssen. Der kleine Weihnachtsbaum auf dem Armaturenbrett wirkt armselig und saugt nur die Autobatterie zu schnell leer. Der Zigarettenanzünder sollte nur dazu benutzt werden, sich Zigaretten anzuzünden. Das mache ich, trotz zweiten Raucherbeins. In meiner Heimat, meinem Fahrzeug, darf ich rauchen, soviel ich will.

Aufgrund zweier amputierter Raucherbeine ist, verständlicherweise, meine Bewegungsfähigkeit etwas eingeschränkt. Nicht aber meine Mobilität. Ich habe in meinem Ford Taunus die ganze Welt bereist und genieße das Privileg, mich dort zuhause zu fühlen, wo es mir wirklich gefällt. Ich muss niemandem heucheln. Oh, wie schön hier! Unsinn! Ich trete aufs Gaspedal, sobald ich mich unerwünscht fühle. Das war schon in dem einen oder anderen Kriegsgebiet der Fall. Einschusslöcher zeugen von bewegten Urlaubstagen in den Ländern, in denen ich definitiv unerwünscht war und mich auch nicht besonders heimisch gefühlt habe. Ich werde die Löcher im Blech nicht stopfen. Sie erinnern mich daran, dass man sich wirklich überall zuhause fühlen kann, wo nicht gerade auf einen geschossen wird.

Auch ich habe meine Kinder im Ford Taunus gezeugt. Mit der Volljährigkeit schwand bei meinen Kleinen plötzlich das Heimatgefühl und sie wollten so schnell wie möglich ihre eigenen Autos, Häuser, Zweitwohnungen, Ferienlandsitze. Zuhause fühlt sich Keines meiner Gören. Nirgendwo. Ein leeres Herz ist eben kein Zuhause. In meinem Herzen steht ein alter Ford Taunus geparkt. Und in diesem Wagen wohne ich und fühle mich heimisch. Hier erinnere ich mich an meine Eltern, an die ersten Fahrstunden, an meine erste Liebe, an traumhafte Urlaubsorte, an Liebe und Schmerz, an meine Freundschaft zu Jesus Christus und an mein Leben an sich. Vielleicht muss man sich nur einfach im eigenen Leben zuhause fühlen, im eigenen Kopf, im eigenen Herzen. Aber die meisten Leute wohnen fremdbestimmt, arbeiten fremdbestimmt, leben fremdbestimmt, sterben fremdbestimmt. Ich werde in meinem Zuhause sterben. Ich werde nicht warten, bis ein Krebsgeschwür mich von innen heraus aushöhlt. Ich werde dem Tod im Ford Taunus entgegen rasen. Mal sehen – vielleicht wird mir der Schnitter im letzten Moment ausweichen.


© hartmut holger kraske


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Kommentare zu "GEZEUGT IM FORD TAUNUS"

Re: GEZEUGT IM FORD TAUNUS

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 19.11.2021 13:17 Uhr

Kommentar: Lieber Hartmut,
die richtige Prise Humor, Ironie und Sarkasmus. Ein Autor mit Können würzt so seine Suppe.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: GEZEUGT IM FORD TAUNUS

Autor: Michael Dierl   Datum: 19.11.2021 16:48 Uhr

Kommentar: Hallo Hartmut, ja Danke dass ich mich mal so richtig schlapplachen konnte. Saugut geschrieben. Einer der besten Geschichten die ich saugerne gelesen habe und es gleich nochmal tue. Das ist brillant was Du hier abgeliefert hast. Das Ding ist filmreif - einfach geil! :-)

lg Michael

Re: GEZEUGT IM FORD TAUNUS

Autor: Hartmut Holger Kraske   Datum: 19.11.2021 18:52 Uhr

Kommentar: Hallo Wolfgang und Michael,
danke für die freundlichen Kommentare. Bin erfreut und überrascht, dass es gut ankommt. Jetzt hab ich endlich einen Grund, öfter mal was schwarzhumoriges zu schreiben. ;)

Re: GEZEUGT IM FORD TAUNUS

Autor: Alf Glocker   Datum: 20.11.2021 8:01 Uhr

Kommentar: Dramatik und Spannung mit Humor!

LG Alf

Re: GEZEUGT IM FORD TAUNUS

Autor: Sonja Soller   Datum: 20.11.2021 12:21 Uhr

Kommentar: Toll geschrieben, gerne gelesen!!!!

Herzliche Samstagsgrüße aus dem Norden, Sonja

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