Ich habe keine Angst vor dem Tod – der Tod hat Angst vor mir. Wenn er mich sieht, kommt er gleich selbst auf die Welt und kriegt ein Babygesicht aus Mattscheibe mit Eselsohren. Dann flötet er mir was vor: „Schlaf, Kindlein schlaf, du bist ein dummes Schaf, nun schüttel noch dein Stammbäumlein, dann wirst du nicht alleine sein, Schafskindlein schlaf!“
Verzweifelt versuche ich verstanden zu haben, aber ich stehe am Bahnhof und muss doch erst einmal nachsehen, wohin die Züge gehen. Im Fahrplan stehen sämtliche Abstellgleise verzeichnet, die man sich nur vorstellen kann. Das erleichtert mir die Suche ungemein!
Aber immerhin ist es mal wieder Ling! Der Früh- oder der Schmetter-? Ich zähl vorm Kopf die Bretter. Als ich das letzte Mal simultan gespielt habe, konnte ich auf drei Brettern dreimal enttäuschen. Nicht unbedingt mich, aber kam es überhaupt darauf an?! Das war einmal – heutzutage plagen mich vorzugsweise Spannungskopfschmerzen …
„Niemals wirst du sein, was du sein wirst, wenn du erst einmal nicht mehr sein wirst“, flüstert mir wer ins Ohr, und ich habe den Tod im Verdacht, der ja extra meinetwegen Gestalt angenommen hat, während er anderen dieselbe wegzunehmen pflegt.
„Dein Humor ist aber reichlich grau“, entgegne ich diesem Niemand, denn der Tod ist ja nur eine Sagen-Gestalt. In irgendeiner der zahllosen Wirklichkeiten, außerhalb der Märchengeschichten – wissenschaftlich meine ich – ist er körperlos dargestellt, wenn auch nicht grad ohne Bedeutung! Ganz im Gegenteil. Seine Bedeutung ist sogar überall, in Sagen oder Nicht-Sagen, größer als alle Abstellgleise der Welt, die man aber nicht befahren (auf ihnen verreisen) muss, wenn man sich einbildet, sie führten alle nach Rom!
In dieser Hinsicht empfiehlt es sich dringend, Schmied zu sein, oder sich zumindest für einen solchen zu halten. Dann hat man Glück und darf einen Film sehen, einen von Hans!
Nicht vom Herrn Hans (Don Juan), sondern von dem Hans mit der Gans, oder von einem Hänsel, samt Gretel, im dunklen Wald, mit dem Hut in der Hand, denn man muss nur mit den Leuten reden, dann klärt sich alles von selbst auf: die Fahrpläne nach Nirgendwo im Niemandsland.
Da wachsen die Spatzen in der Hand zu – eigentlich längst ausgestorbenen – Ozeanseglern heran, auf deren Rücken eine arme Seele um die ganze Erde fliegt. Mayday … Mayday!
Wer dem Tod begegnet, der ist schon mal auf seine ureigene Weise um die Erde geflogen – was manchmal ja nur eine ganz kleine Strecke ist.
Manchmal bedeutet es auch, daß man sehr weit entfernt von ihr, im eigenen Universum kreist, ohne je bemerkt zu haben, wo man sich befindet. Das ist zwar peinlich, aber auch nur dann, wenn einem dies nachvollziehbar von jemandem begreiflich gemacht werden kann. Andernfalls hat man selbst noch ein Babygesicht, sähe es auch aus, als wäre es 100 Jahre alt!
Wie ich selbst nun genau aussehe, weiß ich nicht. Und jemanden danach zu fragen, lohnt sich nicht, denn keiner könnte mir auch nur ansatzweise schildern, was er selbst erfasst, da es unmöglich beschreibt, wie ich in „Wahrheit“ aussehe. So etwas könnte allein ein völlig unabhängiger Geist, der sich durch nichts irritieren lässt. Also muss ich mich mit meinem Bauchgefühl zufriedengeben.
Was sagt es mir? Völlig zuverlässig kann man das nicht eruieren, da Gefühle von Haus aus schwankend sind. Eine erschöpfende Auskunft zu bekommen ist also so gut wie unmöglich? So lasse ich die Frage nach meinem tatsächlichen Aussehen einfach außen vor und experimentiere an der Wahrheit herum.
Vielleicht komme ich dann auf Folgendes:
Meine Ohren hängen ganz schlapp auf beiden Seiten am Kopf herunter, sobald mir ein Esel mit Mattscheibe erklärt, was ich denken soll.
Seine Argumente dafür sind nachvollziehbar und einfach: „Nicht die Effizienz des Gedachten ist ausschlaggebend für den Tod durch die angewandte Schafskälte, sondern die angewandte Schafskälte ist ausschlaggebend für die Effizienz eines Denkens, wenigstens solange es darum geht, daß nichts im Leben bewirkt wird.“ Na, wenn das nicht der Tod ist …

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 87. Schritt

© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 87. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 87. Schritt

Autor: humbalum   Datum: 12.10.2021 10:09 Uhr

Kommentar: Um so Weniger Bedeutung der Tod für einen Mensch besitzt. Um so mehr denkt er anscheinend über den Tod nach. Was dann die Wahrheit widerspiegelt. Der Tod hat eine Bedeutung. Nur die Furcht vor dem Tod hat keine Bedeutung. Eine ansprechende intelligente Geschichte. Ich wünsche Dir einen wunderbaren Tag! Klaus

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 87. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 12.10.2021 10:25 Uhr

Kommentar: Ich bedanke mich herzlich und wünsche ebenfalls einen wunderbaren Tag!

Alf

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 87. Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 12.10.2021 11:21 Uhr

Kommentar: Frage mich des Öfteren wie es wohl in deinem Kopf aussieht, mit diesen Wahnsinnsgedanken. Die äußere Hülle ist nur Illusion.
Der Tod begleitet uns von Anfang bis Ende, da Angst zu haben lohnt sich nicht. Denke bisweilen auch daran, wie es wohl ist, wenn es soweit ist, aber Angst habe ich keine.
Der vorletzte Satz gefällt mir am Besten!!!!

Herzl. Grüße aus dem furchtlosen Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 87. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 12.10.2021 17:42 Uhr

Kommentar: erfrischend!
Vielen Dank liebe Sonja!

Und herzliche Grüße aus dem
fruchtlosen Süden
Alf

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 87. Schritt

Autor: Michael Dierl   Datum: 12.10.2021 19:45 Uhr

Kommentar: Hmmm............am 2.12.2020 bin ich reannimiert worden. Der Tod war einfach. Er macht Dich nach und nach zu einem Stück Holz. Zum Schluß bleibt nur noch ein Blick den man nicht mehr versteht aber ein Bild macht. Das Gehör schaltet sich zuvor ab! Dann schreit man noch weil das Herz stehen bleibt weil es zuvor krampft wie als wenn Dir einer einen Schraubstock in die Brust hämmert. Dann ist Tod aber mausetot. Und wenn man nicht innerhalb von max 7 Min reanimiert wird bleibt man das auch! Ich bin nicht um die Welt geflogen habe auch keine 72 Jungfrauen gesehen und den lieben Gott.................da war keine Sau!!!!

Text und Gedanken von Dir sind wie immer super toll geschrieben. Regen zum weiterspinnen an und ja können auch tolle Bilder projezieren - im Hirn. Gratulation für so viel Phantasie - nicht Fantasie. Denn die kann man trinken! :-)

lg Michael

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 87. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 13.10.2021 7:44 Uhr

Kommentar: Uff - das ist aber...
mir fehlen ausnahmeweise mal die Worte.

Trotzdem danke ich dir!

LG Alf

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 87. Schritt

Autor: Michael Dierl   Datum: 13.10.2021 8:22 Uhr

Kommentar: Hallo Alf, ja da bleibt einem die Luft weg. Aber ich wollte mal die hübschen 72 Mädels im Himmel sehen. Pech! Die warten wo anders vielleicht in der Hölle. Ich nehm's aber locker. War schon immer so weil ich nie zurück schaue! Da freue ich mich doch lieber auf die netten Geschichten von Dir und von den anderen Spezies in diesem Forum. Es leben das Leben - was auch sonst!!! :-). Wenn dann kriegt mich nur der Teufel denn da ist mehr los hahahaaaaa........!

lg Michael

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