I. Die Lage.

Armut herrscht im Land und die Reichen werden immer reicher. Abgetrennt vom kulturellen Geschehen, krank an Körper und Geist durch Nahrungsmittel- und Unterhaltungsindustrie, stumpft ein großer Teil des Volkes dahin wie in den alten Zeiten von Not und Alkoholismus. Doch jeder einzelne ist nach klassischem Verständnis Abbild Gottes.

Zwei Arbeitseinkommen, ein Kind, eine städtische 70 Quadratmeter Wohnung, das ist das konsumorientierte kapitalistische Familienmodell. Wer unter diesen Standard fällt, wird abgeschrieben.

Die Jugend ist überdurchschnittlich betroffen. In ihr verstetigt sich die aussichtslose Situation der Abgeschriebenen. Dem Mitfühlenden geht es ans Herz.

250 Euro für die Unterkunft und 140 Euro für das Leben, in einem Umfeld von 3000 Euro Durchschnittseinkommen. Da resignieren Millionen. Das schnürt die Kehle zu.

Vor fünfzig Jahren bedeutete eine uneheliche Geburt Qual und Schande, heute sind Millionen Mütter Alleinerziehende. Welch eine gesellschaftliche Veränderung. Dem ist die Familienpolitik unzureichend angepaßt. Vierzig Prozent der Kinder wachsen in Armut auf.

In diesem Umfeld soll Kultur stattfinden.

Die Digitalisierung öffnet für jeden das Tor zur Kunst. Wo früher Musik an das Trägerobjekt Schallplatte und Magnetkassette gebunden war, ist heute eine digitale Kopie auf dem Plattenspeicher eines Armen genau so gut, wie das Original auf einer CD oder DVD in den Händen ihres reichen Besitzers. Kopien digitaler Texte sind gleich den Originalen auf teuren ebooks. Kopien digitaler Bilder sind gleich ihrer Präsentation auf den Nobelgeräten in Millionärsvillen.

Aber die digitalisierten Objekte unterscheiden sich von den Originalen, insbesondere bei Objekten der bildenden Kunst. Diese werden in Museen aufbewahrt.

Staatliche Museen erlauben den kostenlosen Besuch an Sonn- und Feiertagen. Das ist eine herausragende soziale Leistung. Dem stehen die hohen Preise der öffentlichen Verkehrsmittel gegenüber. 4,40 Euro U-Bahnfahrt für einen kostenlosen Museumsbesuch sind von 140 Euro Monatsgeld nicht bezahlbar. Das Angebot des kostenlosen Museumsbesuchs ist so nur eine weitere Zuwendung an das Bildungsbürgertum. Zum Angebot freier Museen gehört die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.

Man mag über die kleinlichen Rechnungen aus den Niederungen des Lebens lächeln bei Betrachtung von Kunst und Kultur. Aber das Wesentliche verbirgt sich hinter dem öffentlichen Getöse.

Für Musik und Theater gibt es keinen sozialen Zugang. Gerade diese, aus Steuermitteln teuer bezahlten, Institutionen stehen nur den Reichen und ihrer Verwertungsindustrie zur Verfügung. Der Normalbürger ist auf das Fernsehen angewiesen.

Die acht reichsten Menschen der Erde verfügen über 426 Milliarden $, die ärmere Hälfte der Menschheit, das sind 3,6 Milliarden Menschen, verfügt über 388 Milliarden $.

Die Armut ist in der globalisierten Welt massenhaft. Die kapitalistische Nahrungsmittelindustrie zerstört die Landwirtschaft ganzer Kontinente und vertreibt die Menschen von ihrem Land. Die Arbeitslosen drängen in die Städte und leben in Slums und Favelas. Auch die Menschen der Favelas sind in die Massenmedien eingetaucht. Aber ihre angestammte Kultur ist zerstört. Von ihrer angestammten Kultur ist in den Massenmedien nichts enthalten und Museen ihrer Kultur haben sie nicht. Ihre kulturellen Artefakte sind in die Herrschaftsländer verschleppt. So werden in den Favelas Milliarden Abgeschriebene endgültig ausgelöscht.

Millionen fliehen vor Hunger und Verteilungskämpfen aus ihrer Heimat.

Wenn sich die Cleveren der Abgeschriebenen in die herrschende Kultur integrieren, werden sie als Vorbild gepriesen. Doch die Cleveren sind Verräter und endgültige Totengräber ihrer Art. Auf ihrem langen Weg ist die Menschheit auf die Abgeschriebenen noch bitter angewiesen.

Zur Erreichung seines Ziels taucht das Herrschaftssystem auch hier jeden in die Massenmedien ein. Nur mit den Mühen eines Goldwäschers kann einer aus den Massenmedien die angestammte Kultur hervorholen. Woher aber soll einer wissen, gar schon in der zweiten oder dritten Generation abgeschrieben, was zu suchen ist im Wust des Trivialen.

Die Reichen führen Krieg gegen die Armen und sie werden ihn gewinnen. Warren Buffett.

Kein Ende des Schreckens ist in Sicht. Es bleibt nur die Kunst.

Mit dem Kapitalismus ist nichts falsch, er ist wie er ist, er wird sich nicht ändern. Wir sind die, die sich ändern müssen. Aber dazu dürfen wir dem Kapitalismus nicht die Kinder überlassen, die Kinder sind alles. Das kapitalistische Geschehen wollte man mit der sozialistischen Jugend umdrehen, doch das ist nun vorbei. Jetzt gibt es nur noch die Kunst. Marina Abramovic.

Kunstareale und Musikfestivals, Künstlerbedarfgroßmärkte und Volkshochschulkurse zeigen das Interesse des einfachen Menschen an Kunst und Kultur.

Die folgenden Betrachtungen geben verschiedene Begründungen für Kunst.


II. Was bleibt.

Schon früh begruben die Menschen ihre Toten, gar mit deren persönlichen Dingen, damit die Toten nicht herumgeisterten. Oder sie vernichteten die Toten auf mannigfache Weise, verbrannten sie, um vor ihnen verschont zu sein.

Aber die meiste Zeit in der Vergangenheit blieben die Menschen respektvoll mit ihren Toten in Kontakt, gingen zu den Totenstätten, die Ahnen um Rat und Hilfe bittend. Auf diese Art schufen die Ahnen Geschlechter, Völker und Kulturen.

Einer wollte eine bürgerliche Familie gründen. Die wäre dann geblieben nach den Ausbildungen und Existenzgründungen der Kinder in deren Kindern. Doch seine Anstrengungen wurden zu Nichte gemacht. Es sollen nun die Enkel realisieren, was ihm nicht gelang. Andernfalls führt der Weg des Fleisches und der Dinge auf den Müll.

Was bleibt ist das Erinnern. Der Tote lebt so lange, so lange die Menschen sich erinnern.

Will einer, daß man sich erinnert, wenn er geht? Wie soll es den Zurückbleibenden gehen ohne ihn? Geht er im Zorn oder im Einvernehmen?

Was blieb von Vater und Mutter? Nur was einer erinnert bleibt von Vater und Mutter, und auch nur, wenn ihm danach ist. Nach ihrem Tod sind Vater und Mutter völlig von einem abhängig. Den meisten ist nicht nach dem Erinnern an die Toten.

Was bleibt ist das Erinnern in der Familie und unter Freunden. Aber oft ist einer der letzte Überlebende und allein auf der Welt. Wohnungsauflöser und Entrümpler sind die Protagonisten der Zeit.

Früher war es auch nicht anders. Die wenigsten hatten Familie im bürgerlichen Sinn. Der Tod des Dienstboten im Armenhaus als Schicksal. Nach dem regelmäßigen Dahinschlachten ganzer Bevölkerungen kam das einsame Sterben der Hinterbliebenen. Oder einer starb als Habenichts im Schutz der gegen marodierende Horden befestigten, immer beengten, Stadt. Nur für den Reichen gab es Platz und Erinnerung.

Im Familienkreis alt werden, das ist vorbei. In der übervölkerten Welt wird einer abgeschoben und verlassen. Im Kreis von Schulfreunden, Arbeitskollegen und Nachbarn sterben, das ist eine Idylle.

Etwas für Gott und die Menschheit schaffen macht unabhängig von den zerstörerischen Zeitläuften.

Was bleibt ist die Kunst, vor zehntausenden Jahren in die Menschheit gekommen. Seit der Steinzeit ein Brennspiegel der Identität. Kultur als einziges überanimalisches Agens.

Nicht nur ist jeder ein Künstler, es will auch heraus aus ihm. Joseph Beuys. Wohin? zu wem? zumindest vor das geistige Auge, auch in menschenloser Einsamkeit. Das bleibt dann in der fünften Dimension auf immer aufgehoben.

Das während der Lebenszeit erschienene Existentielle nicht öffentlich gemacht zu haben, das ist das Versäumnis.

Was bleibt von einem beliebigen Menschen? Es gibt die Dokumente der staatlichen Verwaltung, Lebensdaten. Es gibt Erinnerungen, Photographien, Gegenstände bei Familie und Freunden.

Gesellschaftliche Beiträge erscheinen in Listen von Wissenschaft und Kunst. Seit drei Jahrzehnten gibt es textliche und bildliche Repräsentationen im Internet. Die hauptsächlichen Spuren eines Menschen stammen aus seiner Arbeitswelt.

Am persönlichsten sind die Photographien, die ein Mensch gemacht hat. Photographie ist allgemein das kreativste individuelle Medium. Traurig, wenn die fotografische Hinterlassenschaft eines Menschen spurlos entsorgt wird. Inwieweit diese Photographien persönliches Erleben eines Menschen ausdrücken, Kunst sind, oder ob sie nur den Zeitgeist paraphrasieren, ist dahingestellt.

Sinn des Lebens ist, seine Erfahrungen an die nächste Generation weiter zu geben, sagt das Volk.

Einen Menschen lieben, ein Kind heranbilden, schreiben, malen, musizieren, fotografieren, sammeln, ein Haus bauen, seine Träume dokumentieren, das Land bestellen, einen Garten pflegen, Kochen, das sind individuelle Schöpfungen.

Die wichtigste Manifestation eines Menschen ist sein Körper, vor allem sein Gesicht. Der Körper ist metaphysisch. Er greift von oben in die irdische Raumzeit herab. Das Gesicht zeigt den Abglanz davon. Kultur ist der Beleg dafür. Geld und Gold trennen uns von den oberen Sphären. Sie dienen der irdischen Herrschaft über die Menschen.

Von jedem geborenen Menschen muß ein Portrait existieren. Der Staat darf nicht nur eine Gedenkwand seiner gefallenen Soldaten errichten, sondern er muß die Portraits aller Menschen bewahren. Die Grundlage dazu sind die Personalausweise und Reisepässe.

Das aktuelle soziale Netzwerk heißt facebook, Gesichtsbuch. Einer präsentiert sich dort nach seinem Belieben. Jeder lebende Mensch, danach jeder Verstorbene, muß in facebook repräsentiert sein. Andernorts werden die Toten gestrichen, da sie keine Kunden mehr sind. Facebook muß vergesellschaftet werden, auf internationaler Ebene.

Jeden Menschen der vergangenen hundert Jahre zur Erscheinung zu bringen ist ein notwendiges Kulturprojekt.

Mit Abbildung, Tonaufzeichnung und einem von ihm geschaffenen Werk jeden einzelnen Menschen der Nachwelt überantworten.

Zwar bewahrt das Internet die virtuellen Schritte eines Menschen und enthüllt noch den Enkeln die Mouseclicks der Großeltern. Wirklich klar aber erscheint ein Mensch in den von ihm bewahrten Objekten, in der Bücher- und Musiksammlung, in der Sammlung der Fotografien, in der Sammlung der Objekte von Natur und Zivilisation, die er wert befand.

Ein Neunundachtzig-jähriger hat eine Wohnung voll Bücher, dreireihig in die Regale gestellt. Jedes seiner Bücher liebt er. Oft findet er eines erst nach Tagen, aber er findet es bestimmt innerhalb seiner eigenen vier Wände. Welch ein Schatz für die Menschheit ist die Büchersammlung dieses alten Menschen. Eine konkrete Realisation der literarischen Kultur. Bald wird sie in den Müll geworfen.

Was bleibt mit den Fragen, woher komme ich, wer bin ich, wohin gehe ich? Üblich ist der Verweis auf die familiäre Generationenfolge. Die Familiennamen orientierte Generationenforschung ist als Erklärung des Seins eines Menschen völlig unsinnig.

Jeder hat acht Urgroßeltern. Sie können kaum soweit erfaßt werden, daraus das eigene Sein zu erklären. Es ist wie eine Mischung aus acht unterschiedlichen Fruchtsäften. Der Apfelsaft, der für den Urgroßvater steht, erklärt die Mischung nur zum geringen Teil. Wenn auch ein Geschmack dominiert, so ist das nur eines von vielen Merkmalen der Mischung, aus der einer besteht.

Es ist unsinnig, sich aus einem Jahrhunderte zurückreichenden Stammbaum zu erklären. Die Eigenschaften eines darin identifizierten Urahns sind für das aktuelle Sein des Menschen irrelevant, ein Achtel, ein Sechzehntel, ein Zweiunddreißigstel.

Ziel führender ist, die Eltern zu charakterisieren und deren Einfluß auf sein Sein zu betrachten. Die Eltern vereinigen in sich je die Summe ihrer Ahnen. Einer ist Milchkaffee, wenn die Eltern Kaffee und Milch sind. Wenn die Großeltern Kaffee und Schokolade sowie Milch und Honig sind, dann ist einer ein komplexeres Mischgetränk.

Es geht um die Mischung eines Menschen aus seinen Eltern. Für einen Ahnen interessiert er sich nur, weil er vielleicht ein Großeltern oder gar Urgroßeltern persönlich gekannt hat und so Träger der Erinnerung an sie ist. Der gesamte Ahnenstrom ist ja jeden Falls in ihm.

Einer ist mit allen seinen Ahnen vollkommen verwandt, also meist mit vielen ihm unbekannten Menschen und nicht nur mit dem Namen gebenden Urahn. Das Sein der Eltern zu verstehen, ist die einzige Erfolg versprechende Ergründung.

In der Frage hinsichtlich dessen, was bleibt, gelten die Nachkommen als besonders wichtig. Wenn einer mit allen seinen Ahnen vollkommen verwandt ist, ist er es mit seinem Kind nur zur Hälfte. In seinem Kind ist einer mit völlig fremden Ahnenströmen vermischt. Mit seinem Enkel ist einer nur zum Viertel verwandt in einem noch viel größeren Meer fremden Blutes.

So ist einer selbst das Kind schon ganz und gar nicht mehr. Jedes Kind ist ein völlig neues Wesen.

Es ist vielmehr das Kind, das an den Eltern Interesse hat. Das Kind will, daß einer mit dem anderen in ihm harmoniert, auf daß das Kind nicht zerrissen werde. Das Kind stiftet die Familie zur Sicherung seines eigenen Seins. Kein Eltern findet darin das eigene Weiterleben.

Wer die Familie zerstört, zerstört das Kind. Kinder brauchen Familie. Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohl ergehe. Und die Kinder danken es vielfach, sie bewahren die Erinnerung.

Das Alter ist geprägt durch Lebenserfahrung, Gebrechlichkeit und Angst vor dem Tod. Dem ist Respekt, Rücksichtnahme, Verzeihen und Zuwendung entgegenzubringen. Die Mutter mißachten ist Sünde, den Vater achten bringt Ehre. Jesus Sirach.

Jeder ist eine einzigartige Schöpfung. Die Vereinigung von Individuen ist heilig.

Was bleibt, kommt einzig und allein aus einem selbst. Entlasse das Kind in die Freiheit und sichere soweit wie möglich sein Familienerfordernis. Die Nachkommen tragen bestenfalls zur Erinnerung bei. Sie können für keines deiner Erfordernisse als Stellvertreter dienen, können dich nicht vollenden. Nur das von dir selbst geschaffene bleibt.

Es geht dabei nicht um die großartige Frage, was einer dem Sinn des Lebens hinzuzufügen hat. Es geht um die Markierung seines Weges, um die Manifestation seiner Erfahrung, um den alten Grund für Religion. Jeder ist Prophet.

Gedanken

Fotografie - schon daß jemand etwas sieht und es fotografisch festhält, ist numinos, ist eine künstlerische Aktion wie die Höhlenmalerei vor dreißig tausend Jahren. Das Internet ist die Bilderwand der neuzeitlichen Kulthöhle.

Musik machen, in einer Band, einem Orchester, gar im Chorgesang, ist Ausdruck der Gottesanwesenheit.

Theaterspielen, Oper, kultisches Zelebrieren einer grundsätzlich immer mythischen Erzählung im Hier und Jetzt, markiert eine Zeitspanne im Unendlichen.

Malen und Gestalten, jeder Strich setzt magische Erfahrung in die Welt.

Wer will werten zwischen dem anerkannten Künstler und einem beliebigen Menschen? Die so genannten Museen am allerwenigsten.

Erinnerung kann auch durch staatliche Institutionen bewahrt werden.


III. Kunst.

Erstens.

Der symmetrisch gerundete Stein trägt das Wesen der Geometrie in der blind wirkenden Umwelt. Dieser Stein wartet darauf, erkannt, gefunden, als Zeichen der Götter aufgehoben zu werden unter all dem Wirrwarr.

Daß eine Pflanze Symmetrie hervorbringt, das ist Wirkung des Lebens. Daß ein Mensch symmetrische Objekte herstellt, ist keine Sensation.

Der naturgerundete Stein aber ruft die blind wirkenden kosmischen Mächte an. Wenn die Mächte des Kosmos unter all den regellosen Steingestalten in einer zufälligen Steinmühle diese geometrische Gestalt schaffen, dann schafft ihr blindes Wirken auf molekularer Ebene auch die Bausteine des Lebens.

Zweitens.

Diese Emailkanne gestaltete der jahrelange tägliche Gebrauch so spezifisch, diese Tonkrüge gestaltete der jahrelange tägliche Gebrauch zu etwas vollkommen anderem, als es das ist, das ungebraucht aus der Werkstatt kam.

Die gebrauchten Gegenstände vermitteln die sorgende Macht der Menschheit, die Geborgenheit in ihr vor dem sternkalten Draußen.

Drittens.

Hinter einem Kunstwerk steckt reales Erleben, individuell und kollektiv zugleich. Der Künstler macht evident. Er bringt Energie und Mittel auf, das Werk zu realisieren und am relevanten Ort zu performieren. Ansonsten bleibt es Gespinst und wird entsorgt.

Einer muß die Anstrengung für sein Werk aufbringen.

Viertens.

Von den numinosen Objekten der physikalischen Kräfte und von den heiligen Plätzen geht es zur Verehrung von Tier und Pflanze. Schließlich kommt es zur Allbeseelung der Natur.

Die Angst um das Überleben in der immer gegenwärtigen Gefahr wird durch Personalisierung der Allbeseelung in ansprechbare Dämonen gebannt, in anrufbare, durch Opfer und Verehrung beschwichtigbare Götter.

Riten und Kunst der Schamanen schaffen Ordnung im unverständlichen Wirken der Natur.

Von den personalen Göttern geht es zum Schöpfergott. Der nimmt die Angst und gibt den Eingeweihten Frieden. Der Verkehr mit dem Schöpfergott führt zu Hochkultur von Gottesdienst und Architektur, heute zum klassischen Musikbetrieb und zu den Museen. Sonst steigt aus den Massen Aggressivität und Grausamkeit. Die Massen werden mit Unterhaltung und Kaufrausch beschwichtigt (panem et circensem).

Die Schrift führte zur Auserwähltheit der Lesenden. Um die anderen kümmert sich die Kirche. Als alle lesen konnten, ersetzten Museen und Konzertsäle die Kirche.

Das Numinose ging auf das bürgerliche Kunstschaffen über. Mit der Geige beten. Sakrale Schauer erfassen den Dirigenten.

Fünftens.

Ein Maler malt immer weiter, ein Schreibender schreibt. Der Geist muß immer wieder neu beschworen werden, um das Haus zu beschützen. Der Geist erneuert jeden Tag sein Werk von gestern, drängt in die Gegenwart.

Nach dem letzten Werk völlig erschöpft gewesen. Das nie mehr erleben wollen. Und nun es doch wieder tun, sechs Jahre lang im entsetzlichen Tunnel.

Sechstens.

Weltweites Kunstinteresse. Wo früher Kirchen, Klöster, Schreine, sind heute Museen und Opernfestspiele.

In der digitalen Welt sind die Museen heilige Orte der realen Objekte.

Siebentens.

In den vergangenen Jahren entstanden siebentausend neue Museen. Es gehen nicht nur die Objekte aus, sondern auch die Besucher. Es herrscht ein marktschreierisches Eventmanagement.

Der Kunstmarkt ist von spekulativen Sammlern beherrscht. Da können die Museen nicht mit halten.

Museen sind jetzt Tempel für private Kunstsammlungen, in denen das Eigenhafte des Sammlers an der Gemeinschaft vorbei heilig gesprochen wird. Der Sammler wird als Schamane unsterblich gemacht. Museen sind Ruhestätten des Privaten auf Kosten der Gemeinschaft.

Museen für Marktführerkunst sind ein Irrweg. Sie müssen für die Kreativität aller Menschen da sein. Jeder Mensch ist ein Künstler. Joseph Beuys.

Jeder erkennt ein Kunstwerk, unabhängig vom Verstehen. Es ist ein Werk, das dem puren Gebrauch nicht entspricht, egal ob es gefällt oder weil es dem Künstler so gefällt. Christo.

Wie einst Klerus und Adel in Kirchen und Schlössern, so speisen heute die Reichen das Volk mit Museen ab.

Seit eh beherrschen hoch bezahlte Gurus die Kunst, umgeben vom endlosen Heer Hunger leidender Künstler. Der Hunger beweist, mit welcher Macht die Kunst im Menschen wirkt und daß sie jeder versteht.

Achtens.

Wo einst Religion, Dichtung, Musik und bildende Kunst den Sinn konstituierten, herrschen heute Werbung und Unterhaltungsindustrie. Sie vernichten eifersüchtig jede Erinnerung an das alte Leben mit Stumpf und Stiel im flirrenden Nebel und endlosen Gesumse. Es ist eine ungeheure Aufgabe, das Fenster zur Herkunft wieder zu öffnen, die textlichen Spuren seiner Lyrik zu bewahren.

Neuntens.

Völlig verlassenen die Welt in ihren textlichen Manifestationen erschließen, nur so Teil haben können. Ohne die Lyrik der Welt würde man einsam zwischen den sogenden Apparaten der ewig säuselnden Unterhaltungsindustrie bleiben.

Kein romantisch nostalgischer Abgesang der Vergangenheit, sondern das Epos der bestehenden Welt, wie die Ilias den Griechen. Das Epos der Helden und des Numinosen, Gottes und der Heiligen schaffen.

Kein nostalgischer Gesang, sondern die Kultur selbst, unzerstörbar, wie es die der Indianer und Aborigines sein sollte. Es geht um den Gesang des Geistes. Ezra Pound.

Durch Schrift wird Kultur über den Tod tradiert. Stein gehauene Zeugnisse, Gesetzestexte und Lobpreisungen.

Dann die Texte der Religionen und die Aufzeichnungen von Philosophie, Dichtung und Wissenschaft.

Schließlich die Beschriftung aller Lebenszeugnisse, sodaß die Welt selbst ein Gesang ist.

Titel von Geschichten und Filmen beschwören, was seit Anbeginn zur Bannung des Bedrohlichen diente. Die Titel der Geschichten aus mündlicher Zeit, die Mythen und Zaubersprüche der Steinzeit können wir nie mehr erfahren.

Titel und erste Zeilen, erste Zeilen von Strophen und Absätzen enthalten bereits das Folgende. Es sind Zaubersprüche.

Die Textangaben klassischer Musik beschreiben das Gemüt der Menschheit. Diese Beschreibung ist fundamental. Für das Gemüt der Urheimat haben wir aber keine Begriffe mehr. Die ganze Musik ist weit entfernt vom afrikanischen Zustand.

Die Titel und Untertitel von Bildern sind das Wesentliche, das heute an Sichtbarem zu zeigen ist. Was die alten Kulturen zeigten, bleibt ewig verborgen. Die Höhlenmalereien sind Kult. Zu welchen Dingen der alltäglichen Umgebung aber sagte einer vor zwanzigtausend Jahren zum anderen, schau, das musst du sehen.

Seit hundert Jahren ist die Welt in allen sichtbaren Dingen beschriftet, damit sprach die Kultur selbst von früh bis spät, machte alle Köpfe voll. Die Welt ist seit hundert Jahren Kubricks singender Quader.

Aber seit zwanzig Jahren spült eine endlose Bilderflut dahin. Der Text ist entkoppelt und gehört der Werbeindustrie. Die Werbeindustrie spaltet das Reale. Aus dem schwarzen Quader klingen nur noch Werbebotschaften.

Das Heute kommt aus dem textlichen Gesang der vergangenen Zeit. Das Epos der vergangenen hundert Jahre ist unsere Ilias, unsere biblische Schrift. Der Gesang aus Dichtung, Musik und bildender Kunst sind unsere homerischen Mythen und prophetischen Gesänge. Jeder Text ist an eine Dichtung, an eine musikalische Aufführung oder an eine bildliche Darstellung im Ozean von zwanzig Terabytes gelinkt.

Zehntens.

Ein Kunstwerk hat etwas Geheimnisvolles, unverständlich aber zwingend. Es ohne Erklärung präsentieren. Erklärung erst nach der Betrachtung, posthum.

Etwas Unverständliches, Unbeachtetes, Übersehenes, Verschleiertes, Angstmachendes, evident, augenscheinlich, einleuchtend, offenbar, klar, deutlich, offensichtlich machen.

Elftens.

Kunst kommt von Kult und Religion, von da zum Auftrag von Kirche und Herrschaft und wird dann unternehmerische Produktion für den Kunstmarkt. Wikipedia. Bildende Kunst bewusst für Sammler als Spekulationsobjekt zur künftigen Wertsteigerung produziert und die Gemeinschaft baut am Ende dem Sammler für den erspekulierten Wert ein Mausoleum.

Die Museen sind Tempel des Verwertungsbetriebs. Ihre Kunstvermittlung wird zum zusätzlichen Ertrag. Doch die Reproduktionen sind schiere Schatten des Eigentlichen.

Außerhalb der Verwertung schlummert Kunst heute keinen Dornröschenschlaf mehr, wartend auf ein späteres Jahrhundert, sondern sie wird Platz machend entsorgt. Denn in der übervölkerten Welt gibt es keine Dachböden mehr.

Musik kann nicht einzelunternehmerisch betrieben werden. Sie bedarf der gesellschaftlichen Aufführung. Ihre privatwirtschaftliche Verwertung ist ein Skandal. Kriterium für Musik ist das Finden einer Aufführungsveranstaltung.

Literatur kommt erst durch Öffentlichkeit zum Leben. Sie ist Erbe der Sänger, Geschichtenerzähler und Agitatoren. Dichtung ist immer politisch. Kriterium für Literatur ist das Finden eines Verlages.

Lesen ist ein kultischer Vorgang. Geschriebenes ist gottnah. Das mit der Hand Geschriebene sowieso.

Leser und Autor sind aurisch verbunden. Der Hörer ist demgegenüber nur mit dem Vorleser verbunden.

Das Internet bietet neue Möglichkeiten der Veröffentlichung. Die Bildwerke entgehen so am Sammler vorbei der Entsorgung, die Schriften der verlegerischen Willkür. Musik bedarf aber auch im Internet einer individuellen Aufführung.

Kunst überlebt im Internet auch ohne Verwertungserfolg. Das Netz vergisst nicht. Aber die Suchmaschinen zeigen Unbekanntes so gut wie gar nicht an.

Im Netz heißt Entsorgung nicht Zerstörung, sondern Versinken. Einen Algorithmus entwickeln, der unerkannte Kunst aufspürt, unabhängig von kommerziellen Kriterien.

Qualität aus den über tausend Kanäle rund um die Uhr gesendeten Fernsehen herausfiltern, die wirklich bedeutende Nachricht aus dem weltweiten Wust von Berichten und Kommentaren erkennen. Neil Postman und Noam Chomsky.

Eine besondere Stellung nehmen Architektur, plastische Kunst und Installation ein. Sie bilden kultische Orte und sind nur über den zusätzlichen Schritt der Fotografie verfügbar.

Zwölftens.

Es geht um die Magie der Gegenstände, um die Aura der Gebrauchsspuren.

Als das Lager einer japanischen Manufaktur aus dem elften Jahrhundert mit tausenden Teetassen ausgegraben wurde, war das eine Sensation. Nach kurzer Zeit verfielen die Preise dieser Teetassen aber wieder ins Nichts. Es geht nicht um das in alter Zeit produzierte Produkt, sondern der Gebrauch durch den Menschen gibt ihm die Aura. Hunderte Teezeremonien sind in den alten Tassen.

Ohne jede Ausstrahlung ist das fabrikneue Emaille im Vergleich zum altgebrauchten Geschirr.

Die Magie der alten Werkzeuge, ihre Schönheit, ihr schonender Gebrauch durch die Handwerker als ihr oft einziges, lebensnotwendiges Eigentum.

Es ist widersinnig, dass auf dem Antikmarkt ein Objekt umso höheren Wert hat, je weniger es gebraucht wurde und daß es unberührt in der Originalverpackung am wertvollsten ist.

Der Gebrauch eines Küchengerätes, die seitdem damit vielfach mit Hingabe hergestellten Mahlzeiten, die wertschätzende manuelle Reinigung, enthält das ganze alte Leben bis ins siebente Glied. Da ist das Glück des Essens in schmaler Zeit. Aber auch ohne jedwede Rückbeziehung kann man sehen, wie viel interessanter eine durch das Leben gezeichnete Emailkanne ist, als ihr fabrikneuer Widerpart. Der Gebrauch macht jeden Gegenstand zum Original.

Vor hundert Jahren kamen auf einen Menschen vierhundert Objekte, heute zehntausend. Die Aura eines Objekts ist eins zu fünfundzwanzig verdünnt.

Vor hundert Jahren war ein Mensch einer von eineinhalb Milliarden im Zusammenleben mit den Tieren bei einer die Natur bewahrenden Landwirtschaft. Heute spürt man in jedem Augenblick die zehn Milliarden gleichzeitig lebenden Menschen mit einer den Erdball verwüstenden Nahrungsmittelindustrie.

Dreizehntens.

Museen, Konzertsäle, Opernhäuser, Kirchen und auch Stadien sind Kultplätze. Einst wurden Kultplätze durch Stiche und seit hundert Jahren fotografisch übermittelt. Fotografie, versunken in Ort und Natur, transportiert auf ihrem Material die lokale Magie. Im Kupfertiefdruck ist jedes Foto ein Unikat. Digitale Reproduktionen sind nur Schemen.

Kunst macht das Internet zu einem virtuellen Kultplatz. Dort weilt das Kunstwerk ungesehen in digitalen Speichern, nur Gott zur Kenntnis.

Das Internet projiziert die Bilder an die Wand einer menschenleeren Kathedrale. Wer zufällig vorbeikommt, wird die Bilder sehen.

Rundfunk und Fernsehen wenden sich an eine zum Sendezeitpunkt real versammelte Gemeinde. Das Internet wendet sich an niemanden.

Dennoch heißt ein Werk dem Internet übergeben, es auf den Kultplatz der Menschheit stellen. Außerhalb der Kultzeiten ist ein Werk auf dem Kultplatz Wind, Wetter und Natur überlassen.

Vierzehntens.

Jeder Mensch ist ein Künstler.

Ausdrücken, mitteilen, evident machen, was andere nicht sehen. Doch sehen, was keiner sieht, gilt als paranoid. Schrulliges Altärchenbauen, denn auf jeden Gegenstand kann Magie übertragen werden.

Hervorholen, bewahren, was sonst unterdrückt, weggeschwemmt, überrollt wird, als Spielerei abgetan und verkleinert wird.

Kunst kann als Dekoration erscheinen, Farb-, Klang-, Wortspielerei, weil ein anderer Ausdruck nicht zur Verfügung steht oder weil er nicht opportun wäre.

Ornamente bannen, halten böse Geister fern. Jeder macht Kunst, träumt. Berufskünstler schöpfen an der Gemeinschaftsquelle, haben ihre inneren Objekte als Prototypen erfahren.

Das Internet ist ein Ort für die Kunst aller Menschen.

Wandornamente schützen den Zugang zum Haus. Körperbemalungen schützen vor Krankheit und vor dem Tod im Kampf. Aufsagen, zählen, beten hilft gegen die Angst der Verlassenheit.

Fünfzehntens.

Ortsfest leben wie eine Pflanze. Die Welt wird der Pflanze auf anderem Wege sichtbar. Die Lebensintensität einer Pflanze ist größer, als die eines beweglichen Wesens. Photographieren einer Pflanze enthebt der Mühe, das bewegliche Wesen anzuhalten (Modell zu sitzen). Umso wichtiger ist es, das einmalige Individuum einer Pflanze zu erfassen. Der unbewegliche Teil eines beweglichen Wesens ist sein Werk.


IV. Die Folgen.

Kunstschaffen beginnt als Flucht vor gesellschaftlichen Widersprüchen. Doch es ist letztendlich gesellschaftliche Resonanz erforderlich.

Typisch für ein Kunstschaffen sind angehäufte zigtausend Fotos.

Typisch für ein Kunstschaffen sind angehäufte tausende Seiten Text.

Typisch für ein Kunstschaffen ist ein Atelier voller Bilder, für die sich keiner interessiert. Bestenfalls schafft es das eine oder andere Werk in die hermetische Welt einer Ausstellung oder findet einen Käufer zur Dekoration über einer Wohnzimmercouch, eines Büros oder Hotelzimmers.

Kunstschaffen ist heute nur relevant, wenn es auf dem Kunstmarkt kommerziell verwertbar ist.

Man muß tun, was man muß, egal, ob es für den Kunstmarkt von Interesse ist. Wenn man sich kümmert, was die anderen sagen, ist man schon verloren. Am Kunstmarkt vorbei die Menschen erreichen, auf der Straße, im Fernsehen, insbesondere im Internet mit Ton, Bild und Text, sonst droht die rückstandslose Entsorgung. Zitat.

Ausstellungen und Lesungen sind Performances. Man muß seine Werke performen. Im Internet geschieht das mit Videos. Die Ablage eines Werkes in einer Datei entspricht lediglich der Ablage in einem Regal.

Werke der bildenden Kunst können nur fotografisch ins Internet gestellt werden. Im ersten Schritt geht es darum, daß die Fotografie eines Werkes der bildenden Kunst qualitativ und vom Ausdruck her der Absicht des Kunstschaffenden entspricht. Im zweiten Schritt wird das Werk in einer Video-Performance zerstört. Dadurch bleibt die fotografische Abbildung als neues Original zurück.

Die bewußte Zerstörung entspricht dem tatsächlichen Schicksal eines Werkes. Nach seiner Vollendung wird es entsorgt, sei es unmittelbar durch die Lebensumstände des Kunstschaffenden, z.B. nach seinem Tod, oder zwischengelagert über einer Wohnzimmercouch, in einem Büro oder Hotelzimmer.

Nach der bewußten Zerstörung des Originals in der Videoperformance ist die Reproduktion das einzig authentische Werk und bleibt so im Internet der ganzen Welt für immer erhalten.

Videos benötigen eine Tonspur, hier die Geräusche des Zerstörungsvorgangs.

Das fotografische Abbild eines Werkes der bildenden Kunst im Internet entspricht dem inneren Bild eines Werkes, das im Kunstschaffenden nach dessen Vollendung zurückbleibt. Für den Kunstschaffenden ist es eine Bereicherung, wenn seine Bilder im Internet außerhalb seines Inneren weiter leben, um sich dort in neuen Werken zu manifestieren.

Um bildende Kunst vor ihrer Entsorgung zu retten, wird Kunstschaffen zukünftig digital sein. Das zeigt schon das allgegenwärtige Fotografieren. Ein Maler muß prüfen, ob seine Emotionen und Leidenschaften digital ausgedrückt werden können oder ob dafür Papier, Leinwand, Farbmaterial und Malgerät unumgänglich sind. Reproduktionen von Gemälden zeigen ja durchaus das Wesentliche. Die Werke der meisten Künstler kennen wir sowieso nur aus Reproduktionen.

Es gibt Gemälde von Matisse, Picasso und anderen, die als Vorlagen für Gobelins oder Keramikbemalung geschaffen wurden, warum nicht auch für digitale Produktion. Die Malerei als (Duchamp'sche) Konzeptkunst für Vorlagen zur Performance des Teppichwebers, Keramikers und Digitalfotoschaffenden.

Ausschlaggebend ist der Malprozeß, das Malmaterial ist nur Mittel zum Zweck. Gibt es einen digitalen Malprozeß oder ist die Malerei, wie seit der Steinzeit, an die körperliche Betätigung am Material gebunden?

Es kann aber auch das materielle Malen mit der nachfolgenden fotografischen Scannung als integraler Schöpfungsprozeß betrachtet werden, sodaß der Scan das erstrebte künstlerische Ergebnis ist. Fotografische Abbildungen von materiellen Strukturen wie Flechten, Moos, Baumrinde, Gras, Laub sind ja auch gültiges Ausgangsmaterial für digitale Schöpfungen.

Fotografien und Texte können demgegenüber unmittelbar digital präsentiert werden.

Texte werden als Lesungen performt, vorzugsweise mit dem Vorlesenden als Video-Aufnahme.

Die Performance von Fotografien über eine Diashow hinaus erfordert Kreativität, auch hinsichtlich der immer notwendigen Tonspur.

Am Lebensende ist die Veröffentlichung im Internet oft der einzige Weg, seine Werke vor ihrer Entsorgung in den Müll zu bewahren. Was nicht veröffentlicht ist, ist verloren, sagt Natalie Sarraute.

Da läßt einer in der Lebensmitte das hergebrachte Kunstschaffen und konzentriert sich im Kontakt mit den Menschen der Straße auf die Einschreibung von auf den Flohmärkten gefundenen Objekten, rettet sie vor ihrer Entsorgung in den Müll.

Typisch für die Einschreibung gefundener Objekte ist ein Haus, angefüllt mit Objekten, für die sich keiner interessiert. Denn Objekte sind nur interessant, soweit sie Sammlerwert haben. Doch so wie die Werke der bildenden Kunst werden die durch den Sammler eingeschriebenen Objekte nur bis zur letztendlichen Entsorgung bei ihm zwischengelagert.

Das Ziel ist aber, mit seiner Schöpfung die Menschen auf der Straße zu erreichen.

Wie bei den bildenden Künsten kann man auch die alten Objekte vor ihrer Entsorgung retten, indem man sie im Rahmen einer Performance zerstört, sodaß ihr fotografisches Abbild zum authentischen Werk wird.

Ai Weiwei's Dropping a Han Dynasty-Urn, Breaking of blue-and-white dragon bowles, neolithische Vasen in Allzwecklack tauchen, zeigt die Wirkungsmacht der Zerstörung von Kulturgut. Arnulf Rainer übermalt seine Bilder.

Die übliche Bewahrung der von Auslöschung bedrohten Vergangenheit ist, mit ihr als Dekoration zu leben. Damit wird die Existenz der alten Objekte zumindest um die Dauer der eigenen Lebenszeit verlängert.

Aus dem Leben der alten Zeit die menschliche Weisheit vermehren. Ai Weiwei.

Die alte Zeit wird mit ihrer Technologie in Sammlungen und Museen aufbewahrt. Die persönlichen Gebrauchsspuren an den Objekten werden dabei möglichst außer Acht gelassen. Je ungebrauchter, desto wertvoller ist das Objekt. Genau das unterscheidet die künstlerische Adaption von der fachmännischen Kuratierung.


V. Ton Bild Text.

Ein Ton erfüllt den Raum, ein Bild bedeckt eine Fläche. Zu einem Bild muß man hingehen und es ansehen. Dem Ton entgeht man nicht.

Gott ist ein Hörender. Man ruft ihn. Gebete spricht man - Vater Unser. Gebetstrommeln, Litaneien, flatternde Bänder im Wind. Er hört alles.

Darauf achten, was man spricht, nicht verleumden, nicht fluchen, gegen die Versuchungen das Glaubensbekenntnis sprechen.

Flurgötter, Baumgötter, Waldgötter, Berggötter anrufen. Tiergötter sind Ahnen. Franziskus spricht zu den Vögeln.

Die heilige Stimme ist im Geräusch, im Rauschen der Blätter, im Säuseln des Windes, im Sturm, im Donner, im Echo als Antwort.

Die Geräusche der Natur kommen aus der Schwerkraft, aus dem Fallen des Gesteins, aus dem Fallen der Äste, des Regens. Die Geräusche der Natur sind das Rauschen des Baches, sind das Tosen des Wasserfalls.

Der Tiere Gekreisch, Geschrei, Gebrüll, Grunzen, Summen, Vogelsang.

Musik ist Symphonie der Geräusche.

Das menschliche Sprechen hat die Doppelfunktion von symbolischem Inhalt und geräuschlicher Inbesitznahme zur Herstellung der Aufmerksamkeit.

Zum Bild muß man hingehen, doch zuweilen kommt es auch vor Augen.

Gott erscheint im brennenden Dornbusch, am Berg Sinai, als helles Licht am Himmel. Als Blitz.

Es gibt ja auch das Bild, dem man nicht entgeht, der allgegenwärtige Kosmos, die Sonne, der Mond, die Sterne.

Er sieht alles.

In den Tempel gehen, ihm zu begegnen. Ihn zu sehen und zu hören in die Kirchen gehen. In der hallenden Akustik ist er anwesend.

Heute Museen, Theater, Konzerthallen besuchen.

Der Tempel ist der Geburtsort des Textes. Der Tempel gebiert die festgesetzten, geschriebenen Worte. Im Tempel liegt das heilige Buch. Davor gab es nur Wettersymbole und Jahreszahlen. Davor gab es nur Warenverzeichnisse zum unbestreitbaren Nachweis.

Gesänge sind Kriegsgesang, Lobgesang, Bittgesang. Lieder sind Klagelied, Trauerlied, Freudenlied, Liebeslied.

Der Ton ist eine Bewegung der Luft. Der Ton ist Teil der materiellen Welt.

Das Bild ist eine Lichtreflexion. Das Bild ist ein Abglanz der Materie im Raum.

Der Ton existiert sui generis, das Bild existiert nur im Betrachter.

Es hat Sinn, den Ton in die Welt zu setzen ohne Bezug auf den Hörer. Der Ton existiert aus sich heraus, der einsame Pfeifer im Wald, der den Mond anheulende Wolf. Der Vogel ruft voll Lebensfreude - hier bin ich, an diesem Ort der schönen Welt.

Das Bild dagegen bedarf des Betrachters. Der Betrachter muß das Bild aufsuchen, er muß Ausstellungen besuchen, an Vernissagen teilnehmen.

Im Tempel aber existiert auch das Bild sui generis, die Statue ohne Betrachter. Im Tempel existieren die bebilderten heiligen Wände.

Ein Projektor wirft die außerhalb der Kathedrale gesehenen und aufgenommenen Bilder hoch oben im Chor an die Wand, uneinsehbar den Menschen. Dorthin, zur ewigen Bewahrung, auch die Bilder aus vergangener Zeit projizieren.

Mittels der Projektion ihrer Bilder vergewissert sich die Kultur. Die Kultur wäscht die Gehirne mit Bildern.

Ein Bild ist durch das materielose Licht im ganzen Kosmos sichtbar. Ein Bild existiert per se durch die Augen eines über allem weilenden ewigen Wesens. Der Ton existiert nur inselhaft. Der Ton ist an die Materie hinnieden gebunden.

Zwei gibt es, den hinnieden im Bereich des Tones, Zeus in den Wolken. Und den im unendlichen Bereich des Lichts.

Wenn nur noch Ruinen auf Erden stehen, muß die Bildprojektion weitergehen zum Erhalt der Vergangenheit für das Wesen im All. Endet die Bildprojektion schließlich doch, sind die Bilder noch holographisch in den Kristallgittern der kirchlichen Atome bewahrt, wenigstens bis zum letzten Weltenbrand atomarer Überhitze.

Die Bilder dieser Kultur den Ur-Indianern als Bericht von einem anderen Stern an die Schluchtwände projizieren. Dies als Symbol, unserem völlig entfremdeten Volk seine eigene Kultur zu geben.

Ein Bild ist universell verständlich. Text ist an Sprache gebunden. Text geht an verwandte Menschen oder an Gott. Für fremde Menschen bedarf ein Text der Übersetzung.

Musik ist, wie ein Bild, universell verständlich. Musik vertieft ein Bild, ersetzt es. Musik dringt ins Menschenlose vor. Da ist das in der Wüste ohne Zuhörer spielende Symphonieorchester.

Text vereinigt Menschen, Text leitet an. Text bindet Sinnesfunktion an Gedanken.

Bild und Ton schalten vegetativ. Bild und Ton schaffen Befinden.

Kunst vereint Sinnfunktion und Vegetation.

Ein Bild ist kristallin, zugänglich der Robotik.

Für den Ton gibt es den Komponisten und den Ausführenden. Beim Bild sind Maler, Fotograf und Ausführender meist identisch.

Tonschöpfungen sind Texte und Kompositionen. Ausführende sind Sprecher und Musiker. Die Kunst der Sprecher und Musiker ist integraler Bestandteil des tonalen Objekts.

Der Leser ist genuiner Partner des Verfassers am Vorleser vorbei.

Der Dirigent als Leser der Partitur ist genuiner Partner des Komponisten am Musizierenden vorbei.

Der Leser des Textes bringt den Text in Analogie zum Bild, denn der Text realisiert sich im Leser wie das Bild im Betrachter.

Ein Text wird durch seine Vertonung mittels Sprechautomat vom mitschaffenden Sprecher befreit. Der Text wird vom Sprechautomaten als genuin tonales Objekt in die Welt gesetzt.

Ein tonales Objekt unterliegt der Entropie. Ein Ton wird als Teil der materiellen Welt im Laufe der Zeit leiser, bis er schließlich grobsinnlich nicht mehr wahrnehmbar ist. Der Ton muß immer wieder neu generiert werden, was einem Sprechautomaten inhärent möglich ist.

Ein Sprechautomat realisiert einen Text in seiner reinsten Form, indem er ihn vollständig in seine tonale Existenz transformiert.

Das textliche Werk ist die reinste Inkarnation einer Schöpfung. Seine tonale Realisation
durch einen Sprechautomaten macht es unabhängig von jedwedem gesellschaftlichen Erfordernis. Das textliche Werk braucht durch einen Sprechautomaten keinen Veranstalter, keine Leser und keine Zuhörer.

Mit Hilfe eines Sprechautomaten schwebt der Text durch den Raum, egal wo und egal wann. Ein Text bedarf durch einen Sprechautomaten keinerlei menschlicher Begründung.

Wenn einer einst bei Shakespeare Gedichte an die Baumstämme des Waldes heftete, in der Hoffnung, es komme jemand, sie zu lesen, so tönen diese Gedichte jetzt per se mittels Sprechautomat in alle Ewigkeit durch den Raum für den allzeit Hörenden.

Ein Schreibender schreibt nun nicht mehr mit der oft vergeblichen und selbst zensierenden Hoffnung, dass einer kommt und liest. Ein Schreibender ist durch den Sprechautomat einer, der durch Straße, Feld und Flur streifend den Text in alle Ewigkeit laut vor sich hin spricht - das Universum als Zuhörer und sich selbst als Objekt.

Aus dem Lautsprecher tönt der Text in höchster Verklarung. Der Sprechautomat ist ein Durchbruch in der Welt des Schaffenden. Nun ist es, als hätte der heilige Geist den Text geschrieben, für den Autor als Zuhörer.

Der Maler sieht sein Bild, der Komponist hört seine Musik, der Schreibende einen Text. Jeder Text ein Gemälde.


VI. Emulsion.


Die Sehnsucht nach der passiv aufnehmenden Emulsion.

Du bist ein Körper und du bist eine Welle. Das ganze Universum ist Körper oder Welle, so wie es Heisenberg-Schrödinger gerade wollen.

Die Körper senden Teilchen ab, treffen meinen Körper und Goethes Auge. Da die Körper sich hart im Raum stoßen, verändert deine teilchenhafte Erscheinung den Weg meiner Billardkugel.

Die Wellen des Universums durchdringen dich und mich. Sie brechen sich aurisch an dir hin zu mir und zu Newtons Auge.

Die Wellen des Universums durchdringen dich und brechen sich hin zur Wand dieses Zimmers. Du bist ab jetzt für immer in jedem Atom dieses Zimmers. Noch in Millionen Jahren kann einer deiner Existenz in den Atomen dieses Zimmers begegnen. Dafür sollte das Zimmer aber möglichst aus dem Verkehr gezogen werden - Friedhofsruhe, Gruft. Schon sechs Überlagerungen auf der Wand dieses Zimmers ergeben weißes Rauschen und die Korrelation der im weißen Rauschen enthaltenen Originalbilder wird immer aufwendiger, je mehr überlagert wird.

Die Wellen des Universums durchdringen dich und brechen sich hin als Licht zur Linse meiner - analogen - fotografischen Kamera. Dein Licht ist ab jetzt für immer in den Atomen dieser Filmemulsion - die Filmemulsion ist eine liebevolle Gruft. Die Wellen des Projektors werfen deine Existenz aus der Emulsion an die Wand dieses Zimmers und brechen sich an ihr hin in meine Augen. Mit der Aufnahme zusammen ist das eine zweifach verdünnte Brechung.

Die Projektion der Emulsion auf das Photopapier und meine Betrachtung des Papierbildes ist eine dreifache Verdünnung. Eine dreifache Verdünnung entfernt dich fast schon ins Geisterreich. Eine Diaprojektion ist demgegenüber ein Meditationsbild in der Kapelle deiner Andacht. Ein Papierbild liefert mich deiner Willkür aus, du kannst es auf den Marktplatz tragen, an die Häuserwände plakatieren.

Die Wellen des Universums durchdringen dich und brechen sich hin zur Linse meiner - analogen - Videokamera. Dein Licht trifft ein System, das es in magnetische Schwingungen umwandelt - so ist die Aufzeichnung meiner Videokamera bereits eine zweifache Verdünnung. Außerdem ist die Umwandlung in magnetische Schwingungen ein aktiv Energie vernichtender Vorgang, der die Originalschwingungen deiner Existenz in einem Elektrosmog vernebelt. Die emulsive Fotografie ist hingegen ein rein passives Geschehen.

Die Digitalisierung der Magnetaufzeichnung durch den Recorder in Pixel des Bildschirms macht dein Bild endgültig zur Schimäre. Kein Atom des Bildschirmes enthält mehr die Schwingungen deiner Existenz. So bliebe mir nur noch, das Magnetband der Videokamera direkt in mich einzuspeisen.

Die Wellen deiner Stimme gehen in zweifacher Verdünnung in die - analoge - Magnetkassette. Der akustische Lautsprecher überträgt mir Atome deiner Stimmbänder. Die digitale CD dagegen verbreitet Schimärenklänge.

Die Wellen des Universums durchdringen dich und den Maler und brechen sich einander hin. Die Hand des Malers realisiert die Interferenz eurer gebrochenen Schwingungen. Du bist auf der Leinwand im Rauschen des Malers versunken. Du erscheinst erst durch die Korrelationsanalyse des Betrachters, wenn er gewillt ist, den Maler aus seinem Herzen zu entfernen. Die Filmemulsion enthält dich demgegenüber konkret atomar.

Das digitale Zeitalter stellt die Frage nach der Information. Informationen sind Schimären, Hörensagen über etwas Existierendes. Es geht darum, was die einzelnen Schimären - Pattern - in uns auslösen. Das digitale Zeitalter bildet so die im Betrachter wirksamen Schimären ab und keinesfalls die äußeren Objekte, es liefert die Pattern, die im weißen Rauschen des Betrachterhirns erkennbare Formationen auslösen.

Die digitale Welt abstrahiert mich zu einem dem Betrachter einordenbaren Bild. Dieses Bild macht mich neuguenaischen Eingeborenen paranoid, es unterwirft mich dem Bilderzauber des eine mir fremde Welt assoziierenden Betrachters. Ich sehne mich nach der schweißigen Emulsion.

Es kann ja auch sein, daß der Wunsch nach Digitalisierung daher kommt, daß die Menschen sich nicht mehr in die Grüfte der elterlichen und polizeilich archivierenden Emulsionen - wie Fingerabdrücke - bannen lassen wollen. Es kann ja sein, daß die Menschen sich bewußt als Schimären ins Netz stellen, um ihre lebenatmenden Höhlen dem Zugriff der surfenden Voyeure zu entziehen.


VII. Gedicht Deutsch.
Hausrucks Anthologie deutschen Gedichtes.

Die Sprache ist das eigentliche Mal. Ohne sie gibt es uns nicht im Reich der Menschheit. Das Gedichte Deutsch ist unsere Seele.

Eine fremde Sprache verstehen ist Irrtum. Ein fremdes Gedicht ist nicht erschließbar. Übersetzungen sind totes Geäst, taube Nüsse. Mit fremder Sprache leben ist trostlos und mißverständlich.

Das deutsche Gedicht endgültig feststellen. Den Wald der Seele, die Runensteine des Volkes sichern. Gedichte, die wert sind, mit den Händen eingeritzt zu werden, täglich erneuern gegen den Zerfall der Materie.

In dunkler Verlassenheit aus dem unüberblickbaren Müllberg des Geschriebenen das unverlierbare Gepäck herausklauben. Täglich schreiben es Millionen in die Winde, in die Wasser, auf die Vulkane. Dem Schöpfergeist das unauslöschliche Zeichen auf die Gipfel der Berge, in die Tiefen des Meeres, ins All legen, noch wenn niemand mehr da ist, zu lesen.

Dieses Jahrzehnt muß genügen, den nicht anders fügbaren Kristall des Herkommens zu gewinnen, das Vermächtnis der noch durchbluteten Sprache an die Nachfahren. Die heißesten Tränen werden sonst die Seele des Volkes nicht mehr erwecken.

Hier ist das Nicht-Verworfene aus hunderttausend Zeilen in persönlicher Erkenntnis der Seele, persönlicher Empfindlichkeit für Konstruiertes, Programmiertes, leeres Getöne, krank Entflammtes. Eine einzige Wendung verwarf Bekanntes. Unvollständiges wurde aufgenommen. Allein wegen einer Zeile ist man wert, im Seelenhain des Volkes zu stehen.

Millionen Hände werden in täglicher Anstrengung den Wert jedes Gedichtes erhärten. Die Möglichkeit zur vollständigen Gewinnung des Kristalls besteht nur noch für 10 bis 20 Jahre, zur Rettung der noch vorhandenen Sprachkraft. Nie können die Nachfahren mit ihrer verminderten Sprachkraft den Kristall vollenden. Im Ringen um die Strahlkraft des Kristalls werden andere Gedichte aufgenommen. Mit diesem Entwurf ist aber das Ziel unabänderlich festgelegt.

Das älteste Gedicht ist frisch wie am ersten Tag, solange das Volk lebt. Hingegen verfallen die materiellen Werte zu Ruinen. Ein Gedicht ist ein vollständiges Vermächtnis, volksgebunden da sprachgebunden. Nicht an Sprache gebundene Werke reichen über ein Volk hinaus. Bauleute errichteten die Kathedralen im ganzen Abendland. Maler faßten mit einem Blick das auswärts Gemalte und brachten es nach Hause. Musik ist europäisch. Ideen und Methoden sind menschheitsweit. Einen heimatlichen Seelenhain bilden aber nur die Gedichte. Die Sprache ist der Mutterbusen des Volkes. Ohne sie gibt es uns nicht im Reich der Menschheit.

Der verliert die Ahnen, der ihr Vermächtnis gegen das Fremde tauscht.

Der Weg unserer Sprache ist unser Weg in der Menschheit. Die Gedichte sind zeitlich gereiht. Die Zeitachse der Gedichte ist die Raumachse der Seele.


VIII. Evident.

Um 1900 arbeiteten fünfzig Prozent in der Landwirtschaft, heute arbeiten fünf Prozent in der Landwirtschaft. Um 1900 besaß ein Mensch vierhundert Gegenstände, heute zehntausend.

Der Mensch verdrängt Mühe und Qual in einen bekömmlichen Alltag. Das Verdrängte kommt jedoch immer zurück. Die verdrängte Mühe und Qual leben weiter in den Kindern und Kindeskindern.

Die Konsumgesellschaft verdrängt Mühe und Qual in die Glitzer-Geldwelt der Einkaufsmeilen, weg aus Augen und Sinn der Hiesigen in die dritte Welt. Das Verdrängte wirkt unterirdisch weiter und kommt zurück.

Die geschmiedeten Beschläge und Werkzeuge von 1900 leben in den Blechlawinen von heute, der tausend Mal geputzte Hausrat von damals lebt weiter in den vom Wegwerfrat umgebenen Menschen von heute. Das evident machen.

Die Angst der Vorfahren vererbt sich in die siebente Generation. Das Schweigen der Eltern hilft nicht. Das Trauma der Kriege vererbt sich in Kinder und Kindeskinder.

Terror wirkte schon lange vor Dschingis Khan fürs Kuschen über Jahrhunderte. Öffentliche Richtstätten, Galgenhügel, Scheiterhaufen, zur Schau gestellte Schädel, Auspeitschung, Hohn, Vertreibung, statuierte Exempel sind noch im kollektiven Gedächtnis. Obrigkeitsgläubigkeit, hierarchisches Denken, Kadavergehorsam, Titelsucht und Herrschsucht sind unser.

Im Terror, den die Vorfahren erfuhren, den Zustand der Nachkommen erkennen. Filme und Buchillustrationen aus alter Zeit machen das evident. Die Vergangenheit wirkt heute, das Heute wirkt in hundert Jahren.

Es geht nicht um die einzelne Person. Die Gesellschaft ist die zu betrachtende Einheit.

Die Angst der Vorfahren ist in einen selbst versenkt. Einer ist korrekt in Habitus und Kleidung, Anzug und Krawatte. Da treten Stahlnadeln aus Körper, Schläfen, Wangen, Armen, Beinen, Brust, Bauch und Rücken, aus den Augäpfeln. Das endet zwar nicht, aber schließlich tritt nur noch ein geschlossener Strom von Nadeln am unteren Ende der Krawatte hervor, aus dem Nabel ohne Unterlaß.

Das unter fortwährendem Schrecken, Mord, Totschlag, Brandschatzung, Hunger errungene Leben ist süß und wertvoll. Die Süße des Lebens verdrängt die alltägliche Angst, aber im Unbewußten wird die Angst vor Macht, Wüten, Gefahr den Nachkommen übergeben. Das geschieht zu deren Vorteil, damit sie nicht darin umkommen.

Als Lohn lockt die Süße des Lebens wie einst in der Eltern Kindheit. Die Gegenstände ihrer Zeit sind imprägniert davon wie das oftmals gereinigte Emailgeschirr zur Bereitung des täglichen Essens. Das Glück des Essens im schmalen Leben.

Die heutigen Gegenstände haben keine Aura. Wegwerfprodukte. Wo einst Angst und Schrecken herrschten zur Ausbeutung der Menschen, wird jetzt die Natur zu Schanden. Auf Kosten der Natur gibt es keine Süße.

Unübersehbar war das Eisen in Haus und Hof. Der Orts-Schmied machte Beschläge, Nägel, Arbeitsgeräte, bis dann die Eisenwarengeschäfte aus fernen Quellen den Bedarf deckten. Das Eisen der Waffen-, Auto-, Bauindustrie ist jetzt unter Lack und Beton verborgen. Lackiertes Blech und Stahlbeton für Haus und Hof.

Die Halle zeigt auf der einen Seite den Charakter des Eisens, den Gebrauch des Emailgeschirrs und der Küchengeräte. Auf der anderen Seite sind die Buchobjekte.

Der Flohmarktjäger und Sammler weiß vom Verlust der Aura in der kapitalistischen Warenwelt, er weiß von der Entzauberung, von der Reduktion aller Dinge auf den Geldwert. Deshalb bringt der Flohmarktjäger und Sammler die Dinge der Vergangenheit in die Trutzburg der ihn umgebenden Regale und Vitrinen.

Der Sammler ist die unbeirrbare Instanz für ein ganzes Gewerbe. Der Sammler ist der eigentliche Bewahrer der Kultur und seine noch so skurrilen Vorlieben und Leidenschaften zeigen den menschlichen Seinszustand. Die Anstrengungen des Sammelns und sein Streben nach Vollständigkeit ist nur die andere Seite der Medaille der künstlerischen Auseinandersetzung mit der menschlichen Lebenswirklichkeit.

Irrtümlich misst der Sammler den Wert des alten Lebens an den Preisen seiner Objekte auf dem Antikmarkt und deren Repräsentation im Museum. Der Künstler aber wirkt außerhalb jeden Marktwerts inmitten des aktuellen Getriebes.

Ai Weiwei.

Die von den Wissenschaften beschriebenen gesellschaftlichen Zustände sind den Künstlern per se evident und werden von ihnen direkt einsichtig dargestellt. Ein Beispiel dafür sind die Arbeiten des chinesischen Künstlers Ai Weiwei auf der Ausstellung Evidence in Berlin April 2014.

Wichtig für die heute globalen Veränderungen sind die gesellschaftlichen Vorgänge der vergangenen hundert Jahre. Die Wissenschaftler ziehen ihre Erkenntnisse aus historischen Objekten und Dokumenten. Der Künstler verwendet dafür alte chinesische Hocker und Haustüren.

Durch den Fortschritt der Drucktechnik und durch die Erfindung der Fotografie steht auch dem Laien in den Büchern der vergangenen hundert Jahre optisch verwertbares Zeitmaterial zur Verfügung. Die Bebilderung der Bücher aus diesen Jahren zeigt eindrucksvoll die Wirkkräfte ihrer Zeit.

Der Brockhaus von 1900 zeigt den Geist des europäisch-deutschen Raumes als Ausgangsort der Weltkriege. Daraus kann jeder das geistige Klima der Region erkennen, von der das Unglück sein Land erreichte.

Vor hundert Jahren waren bildliche Darstellungen nur vereinzelt und mit erheblicher Anstrengung zugänglich. Der Brockhaus machte das Universum des Menschen von 1900 gebündelt evident. Man stelle sich eine Gesellschaft vor, die nur diese Bilder vor Augen hatte, dann erkennt man den Unterschied zur heutigen Zeit und versteht den geistigen Nährboden unserer Vorfahren.

Die auf 1900 folgende Generation hat sich die Fotografie angeeignet und ist von ersten, mit großem Aufwand (schwere Kameras, arbeitsintensive Druckverfahren) erzeugten Bildbänden geprägt. Die Blauen Bücher zeigen die Bilderwelt dieser Generation. Die Inselbändchen zeigen die zugehörige textliche Umgebung.

Auch die Alpenvereinsjahrbücher sind ein Produkt ihrer Zeit. Man erkennt den geistigen Unterschied zu heute und sieht, was auf dem Nährboden Tradition, deutsche Heimat, heranwuchs.

Nach dem zweiten Weltkrieg bringt Rowohlts Deutsche Enzyklopädie dem darniederliegenden deutschen Geist auf Zeitungspapier die Kultur und die Wissenschaft der Welt ins Haus.

Auf der anderen Seite versuchen die Merianhefte die Rückerinnerung an die Heimat, aber auch an die Reise- und Forscherliteratur der Vorkriegsjahre. Die Werbeanzeigen in den Merianhefte verfechten schon von Anfang an die neue Konsumwelt des Kapitalismus.


IX. Offen da.

China sprang innerhalb von zwei Jahrzehnten vom Bauernstaat zum Industriestaat. Deshalb versteht dort auch jeder die Aussage einer Aufreihung von tausend alten Bauern-Hockern, auf denen seine Eltern oder gar er selbst noch gesessen, er versteht die Installation von hundert alten Haus-Türen, von denen jede einzelne sein Geburtshaus repräsentiert.

Aber er versteht auch die hunderten Stücke verbogener Stahlstäbe der von einem Erdbeben zerstörten Beton-Schulen mit fünftausend toten Kindern, Kinder, die überlebt hätten in den alten, hölzernen Schulgebäuden. Auch die von den neuen Schaumschlägereien übertünchten alten Begriffe sind noch präsent. Die in Massen aufgeschichteten Krabben persiflieren das Loblied auf den neuen Menschen.

Was den Chinesen von Ai Weiwei plastisch vor Augen gestellt wird, wird andernorts nur museal behandelt. Die spärlichen Reste der von der Neuzeit überrollten Naturvölkerkulturen werden gewinnbringend vermarktet. Die Völker, des ihrigen entblößt, sind selbst nur noch Schaum im Ozean der Geschichte.

Doch auch uns Urhebern dieser Umwälzungen ist der Weg museal versperrt. Man will nur Jubel und Zustimmung. Alles Unbehagliche wird aus dem Weg geräumt. Die Kunst aber stellt noch nach einem Jahrhundert das Menschliche, aus dem wir kommen, drastisch vor Augen. Das einst Existentielle und für den Profit weg geschobene, wirkt weiter, von 1900 bis ins siebente Glied. Wir sind noch die Menschen von damals.

Da ist der ununterdrückbare Zug zum Flohmarkt mit den anrührenden Versuchen mahnender Bewahrung der erstandenen Trophäen. Nach dem Tod jedoch soll all das, vom Protagonisten mit unfehlbarer Empathie Gesammelte, achtlos auf dem Müll landen. Dabei müßten diese aus tausendfachem Schund gezogenen Konvolute in staatlichen Museen gerade in der vom Sammler gewählten Zusammenstellung aufbewahrt werden. Erst spätere Generationen werden die Mitteilungen des Kulturgeists erkennen. Jeder ist ein Künstler.

Das Schmiedeeisen nicht zur endgültigen Einschmelze entsorgen.

Einer fand Eisenteile im Bauernwald, im ländlichen Boden, an den Rändern von Scheunen, am dörflichen Anger, im Wust des aufgelösten Hausrats. Sie traten ans Licht wie einst die marmornen Zeugen der Antike. Er bewahrte das Eisen, warf es nicht auf den Schrott zur endgültigen Einschmelze, bewahrte der Nachwelt die Botschaft des Landes.

Das zwanzigste Jahrhundert brachte das Ende der alten Ordnung und den Sieg des heimatlosen Kapitalismus.

Die alte Ordnung war das Leben von der Jungsteinzeit mit familienbasiertem Ackerbau und Viehzucht bis zum industriellen Nationalstaat in den jeweiligen Herrschaftsstrukturen. Der Mensch war immer derselbe geblieben, geändert hat sich das gesellschaftlich-kulturelle Umfeld. Es ist beachtlich, wie ein Mensch, direkt aus einem steinzeitlichen Umfeld kommend, modernste Technik bedienen und entsprechend seinen Bedürfnissen nutzen kann.

Es ist offensichtlich, was im Lauf der Geschichte den Menschen prägte. Das geschmiedete Eisen als Werkmaterial des ackernden Bauern mit Pferd, Ochs und Esel. Heute die Blechlawinen des Maschinenzeitalters. Vom Bauerntum ging es zur Landwirtschaft, von der Sesshaftigkeit zur Mobilität.

Deshalb muß der Künstler auf den Flohmärkten das Blechgeschirr, Email, Keramik, mit den Spuren zur Eierkonservierung, die Volkskunst der Schalen und Krüge, auch die Kunst der Heimkehrer nach 1945, vor der Müllpresse retten.

Halte das einst, zum mehrmaligen täglichen Gebrauch im umfangreichen Familienverbund, geschaffene Geschirr in Händen und vergleiche es mit dem Kunststoffbehältern der Ernährungsindustrie im heutigen Einpersonenhaushalt.

Da sind die seinerzeit exklusiven Illustrationen im Brockhaus von 1900, Zeugnisse des Fortschrittsglaubens und des Militarismus der Zeit. Und heute ist da die überbordende Bilderwelt der so genannten Informationsgesellschaft. Da sind die exklusiven Heimatfotografien von 1925, da sind Rowohlts Deutsche Enzyklopädie und die Merianhefte von 1955. Und heute ist da die flackernde digitale Flut.

Da sind die Filme als Lebensführer in Fortsetzung des Theaters als moralischer Anstalt mit der noch grundsätzlich vernunftbezogenen Reklame der ersten zwanzigsten Jahrhunderthälfte. Und heute sind da die über tausend Kanäle verbreiteten TV-Sendungen aus Sensationsmache, Gewalt und Pornographie im Strom der Dauerwerbung.

Und da ist auch die Verlängerung des Tages in die Nacht mit der allgegenwärtigen Beleuchtung und Beschallung.

Die neue Zeit soll für die aktuellen Dinge des Lebens befreien. Seltsam, daß die Menschen die Reste alten Lebens aus Flohmarktkram und Müll retten. In Regalen und Vitrinen umgeben sie sich mit den Dingen aus den Händen der Verstorbenen.

Die alten Möbel haben als Bauernmöbel ihr Überleben. Sie sind von dörflichen Schreinern in alter Handwerkskunst hergestellte Einzelstücke, im Gegensatz zur maschinellen Katalogware der städtischen Fabriken.

Die meist einfachen Menschen mit dem unbeugsamen Sinn für die wahren Dinge der Herkunft erkennen, unbeirrt von den Verführungen der Zeit, das Wahre an den Dingen des alten Lebens, entreißen sie der Verrümpelung und vermarkten sie, als Trödler herab gemacht, an die noch immer ausreichend vorhandene Kundschaft. Wahrhaftige Kunsthallen sind ihre Läden, durchwandert von wahrhaftigen Liebhabern.

Hilflos piepsen die Heimatmuseen in ihren Winkeln gegen den obsiegenden Kapitalismus. Dem Künstler jedoch obliegt es, hinter dem Glitzer und Getöse der Zeit, den Kampf um Menschlichkeit zu führen bis in die siebente Generation.


X. Grundlegung des Datenturms.

Der personale Computer ist ein Surrogat des Menschen, nicht nur für Polizei und Überwachungsbehörden.

Bisher wohnte der Mensch in seiner Wohnung mit den ihn betreffenden Gegenständen, mit den Repräsentanten seiner Gedanken und Gefühle, mit seinen Büchern, Schallplatten, CDs, Wandbildern und den von ihm wert gehaltenen Objekten, mit dem Nachweis seiner Existenz in Dokumenten- und Unterlagenordnern.

Der Computer erleichterte den Zugriff auf diese Grunddinge des Menschen mit Inhaltsverzeichnissen von Bibliotheken und Ordnern. Nach und nach nahm der Computer genau diese Inhalte in sich auf und machte Bibliotheken und Ordner obsolet. Schließlich machte der Computer durch digitale Ton- und Bildaufzeichnung auch die Schallplatten, CDs, Wandbilder und Objekte obsolet.

Für seine Funktion benötigt der Computer Daten, die in der Regel auf Plattenspeichern abgelegt werden. Jeder Speicher enthält die Daten zu einem oder mehreren Themen. Ein Turm von Daten-Speichern repräsentiert jetzt die Gedanken und Gefühle eines Menschen anstatt der Bücher, Schallplatten, CDs, Wandbilder und Objekte von ehemals. Die Wohnung ist nur noch ein beliebiger Aufenthaltsort des Menschen mit seinem personalen Computer.

Mit Smartphone und Tablet ist auch die letzte Begründung für eine Wohnung gefallen. Der Mensch braucht in einer mobilen Existenz nur noch ein Dach über dem Kopf mit beliebigem Innenraum. Smartphone und Tablet reichen als Privatsphäre weitgehend aus.

Deshalb das Internet als Faszinosum menschlichen Kontakts. Der Kontakt mit einer Person ist durch eine Verbindung mit ihrer Realisation im personalen Computer, Tablet oder Smartphone hinreichend gegeben.

Beachtenswert ist die Auflösung der den Menschen betreffenden Gegenstände. Ihr Charakteristikum wird durch den Computer auf die visuelle Komponente reduziert. Möbel und Kleidung verlieren die handwerkliche Aura der individuellen Herstellung für den Gebrauch eines spezifischen Menschen und auch noch für dessen Nachkommen, wie es Heidegger in Sein und Zeit beschreibt.

Die rein visuelle Bedeutung der Gegenstände (einzig handwerklich ist ihre Designergeburt, die direkt mit dem Zeichenstift die Herstellungsmaschinen steuert) nutzt sich in rascher Folge ab und bringt sie als Wegwerfprodukte in einen ununterbrochenen kommerziellen Erneuerungszyklus. Der Mensch im Hamsterrad des Kaufens.

[Heidegger / Sein und Zeit / Erster Teil / Drittes Kapitel / Die Weltlichkeit der Welt / A. Die Analyse der Umweltlichkeit und Weltlichkeit überhaupt / § 15 Das Sein des in der Umwelt begegnenden Seienden / Absatz 12:

Das hergestellte Werk verweist nicht nur auf das Wozu seiner Verwendbarkeit und das Woraus seines Bestehens, in einfachen handwerklichen Zuständen liegt in ihm zugleich die Verweisung auf den Träger und Benutzer. Das Werk wird ihm auf den Leib zugeschnitten, er „ist“ im Entstehen des Werkes mit dabei. In der Herstellung von Dutzendware fehlt diese konstitutive Verweisung keineswegs; sie ist nur unbestimmt, zeigt auf Beliebige, den Durchschnitt. Mit dem Werk begegnet demnach nicht allein Seiendes, das zuhanden ist, sondern auch Seiendes von der Seinsart des Menschen, dem das Hergestellte in seinem Besorgen zuhanden wird; in eins damit begegnet die Welt, in der die Träger und Verbraucher leben, die zugleich die unsere ist.]

Es gibt zwei Verbindungsmöglichkeiten personaler Computer, ihre technische Verbindung in einem Peer-to-Peer-Netzwerk oder ihre Verbindung mit einem server-basiertem Netzwerk. Server behandeln Daten, die oberhalb der technischen Verbindung eines personalen Computers liegen. Server analysieren die personalen Profile und benutzen sie zur kommerziellen oder politischen Steuerung der Menschen. Peer-to-Peer-Netzwerke unterlaufen diese Steuerung. Sie werden aus kommerziellen oder politischen Gründen unterbunden. Server, die so genannte soziale Netzwerke anbieten, gaukeln eine Peer-to-Peer-Verbindung nur vor.

Die Brief-Post und der Email-Service realisieren Peer-to-Peer-Verbindungen. Dazu müssen die Adressaten einander bekannt sein. Diese Beschränkung ist inhärent.

Die in einem Peer-to-Peer-Netzwerk miteinander verbundenen personalen Computer ermöglichen wechselseitig die direkte Einsicht in die Datentürme ihrer Anwender, d.h. die Surrogate ihrer Benutzer liegen in einem Peer-to-Peer-Netzwerk offen da.

Die Kommunikation über soziale Netzwerke hingegen geschieht über Profildaten, die der Anwender dem Server übergibt. Die von den Teilnehmern eines sozialen Netzwerks zur Einsicht übergebenen Profildaten sind weit entfernt von den in ihren Datentürmen gespeicherten Surrogaten. Der Besuch des Datenturms eines Teilnehmers in einem Peer-to-Peer-Netzwerk ist wie der Besuch in seinem Wohnzimmer, die Einsicht in die von einem Teilnehmer in ein soziales Netzwerk geladenen Daten ist wie die Durchsicht seiner Bewerbungsmappe.

Ein Datenturm enthält die von einem Menschen im Laufe seines Lebens gesammelten und selbst erstellten digitalen Objekte. Die Kommunikation von Datentürmen in einem Peer-to-Peer-Netzwerk stellt eine große kulturelle Innovation mit unabsehbar kreativem Potential dar. Dabei setzt das Urheberrecht der daraus folgenden kommerziellen Nutzung enge Grenzen. Soziale Netzwerke verlagern die urheberrechtliche Verantwortung vom Nutzer eines Datenturms auf denjenigen, der seine Profildaten dem Netzwerk übergibt. Das ändert die Kommunikation der Teilnehmer untereinander grundlegend.

Inhalt des Datenturms.

Im Jahr 2000 wurde >WinMx< gegründet. Vier Millionen Internet-Benutzer ermöglichten einander die freie Einsicht in die shared files ihrer personalen Computer. Man konnte erleben, wie deutlich ein bislang völlig unbekannter Mensch durch den noch so dürftigen Inhalt seines shared file hervortrat. Man war wie auf Besuch in seinem Wohnzimmer und durfte seine Platten- und CD-Sammlung inspizieren. Das inspirierte einen zu eigenem Musikerlebnis, im Gegensatz zur Öde von Katalogen der Musikindustrie oder von Regalreihen in Fachgeschäften.

Bei manchem personalen Computer wollte man freundschaftlich mehr wissen, als nur seine gezeigten shared files. Übertrug man ein Musikstück von ihm auf den eigenen Computer, spürte man die Sympathie des anderen, weil er während der oft langen Übertragungszeit seinen Computer nicht abschaltete.

Da freute sich einer, dass man Interesse an seinem shared file hatte. Er erweiterte seinen shared file, wenn er merkte, woran man interessiert war. Ein anderer wiederum verwehrte den neuerlichen Zugang, wenn er feststellte, dass ihm umgekehrt der shared file des Besuchers nicht gefiel. In jedem Augenblick war die Aufmerksamkeit des Computer-Besitzers auf der anderen Seite präsent, man hörte ihn geradezu atmen. WinMx erweist den personalen Computer wahrlich als Surrogat eines Menschen.

Millionen haben WinMx ausgiebig genossen und sie haben sich mit Hilfe seiner Benutzer, die Freunde zu nennen man nicht zögert, den Kosmos der Musik angeeignet. Welch eine Bereicherung

Im Jahre 1995 wurde >webshots< gegründet. Webshots ermöglichte die Veröffentlichung digitaler Bilder. Seit 1999 wurden von webshots täglich drei Alben aus den neuesten Einsendungen ausgestellt, featured albums. Dadurch wurde von webshots im ubiquitären Knipsertrend ein Qualitätsniveau geschaffen. Neben ästhetischen Maßstäben gelten ethische. Brutalität und Pornographie werden ausgesondert.

Mit den featured albums wurden deren Autoren in der webshots-Gemeinde bekannt und ihre home-Seiten wurden häufig besucht. Auf den home-Seiten findet man die Philosophie der Autoren, ihre weiteren albums und eine Liste ihrer favourite authors. In Analogie zum shared file in winmx entspricht eine webshots home-Seite dem Surrogat eines Menschen, aber ohne die online-Aura innerhalb eines Peer-to-Peer-Netzwerks.

Die Surrogat-Funktion der Photographie unterscheidet sich von der Musik insbesondere durch Portraits und Familienphotos. Photographien enthalten Zeitgeistliches der persönlichen Umwelt wie Kleidung und Wohnungsstil des Jahres 2000.

Die Digitalität bietet eine einfache Möglichkeit der Veröffentlichung. Die frühen webshots-Autoren kamen aus der analogen Photographieschule und waren die idealen Partner für einen Besucher, der noch im zwanzigsten Jahrhundert selbst begeistert photographiert hat.

Millionen haben webshots ausgiebig genossen und sich den Kosmos der Photographie von 2000 angeeignet.

winmx2000 und webshots2000 liefern einen Fundus zum Studium des privaten Lebens der Jahre 2000. Dem geistigen Horizont von winmx wird die bildliche Realität von webshots an die Seite gestellt.

Das Kino bestimmte das Lebensgefühl einer ganzen Generation und das ihrer Eltern. Die Filmstudios produzierten Verhaltensmuster für alle Lebensbelange. Es war ein kulturpolitisches Verdienst des Fernsehens, aus den diversen Archiven den öffentlichen Zugang zu den Filmen aus dieser Zeit möglich gemacht zu haben. Von 1995-98 wurden die Klassiker des Genres über das Land ausgestrahlt. Die Fernsehgebühren waren die Eintrittskarte ins Film-Museum.

Die im Fernsehen 1995-98 gezeigten Filme haben dieselbe Aura wie die aus winmx geladene Musik. Man spürt in ihr zum Zeitpunkt ihrer Ausstrahlung den Atem der hunderttausend gleichzeitig sie genießenden Menschen im Gegensatz zu der totenstillen Ödnis von Katalogen, Fachgeschäften und Videotheken.

Jede Aufführung klassischer Musik ist eine neue kollektiv rituelle Handlung zum Zwecke der Vertiefung von Gemeinschaft. Das öffentliche Fernsehen realisiert diese kultischen Vorgänge mit Hilfe der Fernsehgebühren. Es rechtfertigt durch die Ausstrahlung von Aufführungen klassischer Musik auch die kostspieligen Konzert- und Operninstitutionen,

Die im Fernsehen realisierte klassische Musik hat dieselbe Aura wie die aus winmx herunter geladene Musik. Man spürt in ihr den Atem der hunderttausend gleichzeitig sie genießenden Menschen im Gegensatz zu der totenstillen Ödnis von Katalogen, Fachgeschäften und Videotheken.

Originäre Produktionen des Fernsehens sind Dokumentationen und aktuelle Informationen. Ihre Auswahl ist Teil des personalen Surrogats. Sie charakterisiert insbesondere die eigene Zeit und ihre Herkunft.

Im Surrogat sich selbst begegnen.

Fernsehen ist ein kollektives Realzeitgeschehen. Im Internet dagegen liest, hört und sieht man erst aus persönlichem Antrieb das von Millionen Hergezeigte, was gegebenenfalls auf der anderen Seite des Internets der Zeigende online erkennt.

Aus dem eigenen Datenturm konsumieren ist etwas völlig anderes. Es ist ein Abruf der von einem selbst gespeicherten Erinnerung. Niemand sonst erkennt, was man erinnert.

Beim Konsumieren aus dem eigenen Datenturm geht es um die Erkenntnis dessen, was man aus der unendlichen Masse der Erscheinungen gespeichert hat. Es geht um Selbstvergewisserung mittels seines Surrogats.

Dafür sollte sich das Surrogat aber auch einem anbieten, der Datenturm gleichsam mit einem sprechen. Worte aus dem Datenturm.

Das Fernsehen spricht durch das Programmangebot, es bedrängt einen geradezu durch seine Aussendungen um zwanzig Uhr fünfzehn oder durch die aktuellen Sport-, Kultur- und Diskussionssendungen. Das Internet bietet Plattformen und leitet ein bekundetes Interesse vom hundertsten ins tausendste über den ganzen Erdball.

Der Datenturm ist hingegen tote Asche. Lebendig ist nur das eigene Tun in ihm.

Tote Asche sind auch die Produkte der Medienindustrie. Sie dienen höchstens zur Erinnerung eines vorangegangenen Kollektiverlebnisses. Dabei haben diese Produkte nicht einmal das Gütesiegel eines Senderlogos während der Aufnahme, sondern sie kommen aus der Gruft ihrer Maschinengeburt.

Bücher hingegen sind als Originalwerke des Autors in unsere Hände gelegt. Das gelesene Buch ist nach dem Lesen dasselbe Objekt wie zuvor. Erst durch digitale Speicherung wird das Buch nach dem Lesen zur Asche der Erinnerung.

Schallplatten und CDs werden von Ausführenden, und nicht vom Autor, in unsere Hände gelegt. Ihre digitale Speicherung verbrennt sie zu Asche der Erinnerung. Einzig existent sind die Schallplatten- und CD-Hüllen.

Eine Bibliothek spricht mit ihren Buchrücken, mit ihrer Anordnung, mit der Art der Regale, dem Ort ihrer Aufstellung, mit der Haptik des zur Hand Nehmens. Es geht nicht nur um Autoren und Titel.

Ein Datenturm ist ein Haufen von Nullen und Einsen, Asche einst gelesener Texte, gehörter Töne, betrachteter Bilder. Die endlosen Listen seines Inhalts bedrängen uns ganz und gar nicht.

Es geht um emotionale Qualitäten. Statt Haptik, Geruch, Farbe, Temperatur muß seine Lyrik den Besucher eines Datenturms verführen, aber ohne Werbegeschrei und pädagogisches Gängeln. Wo früher einer voll Neugier in ein Wohnzimmer kam, um dort Bücherwand und Schallplattensammlung zu inspizieren, muß heute seine Lyrik das Interesse an jemandes Datenturm wecken.

Der vorliegende Datenturm soll erhalten und in dreißig Jahren veröffentlicht werden. Dreißig Jahre nach dem Tod möchte einer mit diesem Surrogat kommunizieren, wo er es heute nur als veraltet und überholt pietätlos entsorgt. Einst aber wird seine Entsorgung ein menschheitlicher Verlust sein. Jeder Datenturm ist ein Kunstwerk.

Hinweise zur Lyrik aus dem Datenturm:

Aufgelistete Autoren, Sänger, Schauspieler, Orte, Objekte …
Titel
Titel plus Zusatz, z.B. Dirigent
Inhaltsverzeichnisse
Sätze (Musik)
Erste Zeile je Strophe
Erster Satz je Absatz
Bildunterschriften

Titel, Inhaltsverzeichnisse, Sätze von klassischer Musik, Bildunterschriften enthalten die ganze Kreativität, die die Autoren ihrer Sache zuwandten. Sie konstituieren Mythen. Erste Zeilen und erste Sätze enthalten prinzipiell schon das ihnen folgende. Autoren, Sänger, Schauspieler Dirigenten treffen sich zu ihren Symposien.

Lyrik aus dem Datenturm als kreative Antwort des Surrogats an meine Zuwendung, dabei stellt sich die Frage, inwieweit eine Antwort aus einem selbst heraus grundsätzlich anders gestrickt ist als die aus dem auf Plattenspeichern gespeicherten Konvolut.

Über all die Jahre eines Lebens fließen Texte, Musik, Bilder und Filme durch einen Menschen hindurch. Die moderne Technologie erlaubt es, diesen Fluß aufzuzeichnen und ihn dem Menschen selbst entgegenzustellen. Welch eine aufregende Situation.


XI. Bibliothek.

Einer wappnet sich mit Kultur, stapelt sie übereinander, verschanzt sich.

Eine Bücherwand, Kassetten- und CD-Regale, Bilder und Fotografien - Schutzwände sind das.

Ein Datenturm ist hingegen ein Wehrturm.

Ein berühmter Schriftsteller hat sechs Wohnungen, nicht notwendig zur Ausübung seines Berufs, wie er sich einredet, sondern weil die Bücher eine Wohnung nach der anderen füllten. Ein großer Kulturkritiker umgürtet sich mit Wänden voll Videokassetten von Kulturereignissen.

Bücher waren das erste, was einen als Person identifizierte, die Klassikerbände und die zugehörigen Theateraufführungen.

Die Autoren und ihre Werke prägten die Person. Sie wappneten zuerst im gesellschaftlichen Umgang. Ohne seine Bücher griff man bei ihm ins Leere.

Die Buchinhalte strukturierten das Leben, sie erzogen nach den Vorstellungen der Klassiker das Menschengeschlecht.

Wenn einer in eine Wohnung kam, zeigte die Bücherwand die Person des Bewohners. Vom unendlich viel Gelesenen wurden diejenigen Bücher, die einer sich selbst und der Welt zur Vergewisserung bot, zu seiner Bibliothek, zum Charakteristikum des Hauses und zur Kulturabsicht an die Gesellschaft.

Musik, die einer hörte, identifizierte seine Person als nächstes, zuerst aus dem Radio, dann aus Veranstaltungen und schließlich aus den Produkten der Musikindustrie.

Wenn einer in eine Wohnung kam, zeigte die Plattensammlung die Person des Bewohners. Vom unendlich viel Gehörten wurden diejenigen Schallplatten, die einer sich selbst und der Welt zur Vergewisserung bot, zu seiner Musiksammlung, zum Charakteristikum des Hauses und zur Kulturabsicht an die Gesellschaft.

Bilder, die einer sah, zunächst in Büchern, später in den Museen voll prickelndem Erleben, identifizierten seine Person als nächstes.

Hinzu kamen reale Ansichten von Natur und Architektur. Das Erleben dieser Objekte erfordert Körperbewegung hin zu ihnen, Reisen zu Kultorten.

Vom unendlich viel Gesehenen wurde dasjenige, was einer sich selbst und der Welt zur Vergewisserung bot, zu seiner Sammlung von Bildbänden und insbesondere auch zu den von ihm mit der ganzen Zuwendung von Auge und Geist erstellten Photographien.

Schließlich prägten die Filme, die einer sah, zunächst im Kino, schließlich vor allem im Fernsehen, seine Person. Die Filme strukturierten das Leben, erzogen wieder das Menschengeschlecht, wie einst die klassische Dichtung.

Mit Hilfe des Videorecorders wurden diejenigen Filme, die einer sich selbst und der Welt zur Vergewisserung bot, zu seiner Videothek.

Zur Ablage all dessen sind eigene vier Wände nötig.

Prägungen reihen ein in die Gruppe identisch Geprägter und konfrontieren mit den anders Geprägten. In der Pubertät bietet eine kulturelle Gruppe die Möglichkeit der Identifizierung aber auch von härtester Konfrontation.

Neue Bücher, neue Musik, neue Bilder und Filme entwickeln die Person weiter. Andernfalls bleibt einer am Gängelband von Gesellschaft und Konsumindustrie.

Bücher, Musik, Bilder und Filme sind wichtig. Kindliche Ungeprägtheit ist gesellschaftlich nicht lebensfähig. Ohne familiäre Bindung braucht es kulturelle Stützen.

Kinder sind offen. Wenn sie zusammenkommen, ist das ein Fest. Erwachsene geraten unversöhnlich aneinander. Grund ist Kultur, Ich, Person.

Die Begründung einer Person in Bücherwand, Musiksammlung, Fotosammlung und Videothek ist aufwendig. Dafür liefert sie aber den Schutz eines Zuhauses.

Inventarlisten repräsentieren Bücherwand, Musiksammlung, Fotosammlung. Würde man ein in den Inventarlisten verzeichnetes Buch aus der Stadtbücherei holen, wäre die Wohnung frei davon.

Die Digitalisierung verändert die Situation grundlegend. Die Inventarlisten verweisen nun nicht mehr auf reale Objekte, sondern sie verlinken zu Speichermedien.

Musik- und Videoprodukte sind heute per se digital. Eine CD-Sammlung enthält nur die physikalischen Träger mit ihren Hüllen.

Bücher, Schallplatten und Dias verlieren durch Digitalisierung ihre Aura. Dem steht der Raum- und Betreuungsgewinn gegenüber.

Das Buch wird wegen seiner spezifischen Aura nicht verschwinden, von den Schallplatten bleiben die Hüllen, von der analogen Fotografie überdauern künstlerische Formen.

Die Digitalisierung eines Buches hat einerseits den Aspekt der Abbildung des Einbands und der darin eingebundenen Seiten mit Druckschrift und Bild. Zum anderen bedeutet Digitalisierung die virtuelle Bereitstellung des textlichen Inhalts.

Die Digitalisierung macht aus dem Schutzwall der Bücher, Schallplatten und Dias einem Datenturm aus Speichermedien. Daraus kann einer etwas konsumieren, ohne sich von der Couch erheben, ein reales Objekt zur Hand nehmen und es in ein Wiedergabegerät einlegen zu müssen.

Einer kann seinen Datenturm auch über eine Cloud erreichen. Das macht wohnungslos. Die Wände der Wohnung werden durch die Cloud abgelöst.

Überall beschützt dich der Datenturm mit Ohrstöpsel und Handybildschirm. Die Wohnung ist nur noch eine Haut.

Man muß die Prägung einer Person, geboren 1938, deutsch, gegenüber einer anderen Sozialisierung, anderen Jahrgängen, anderen Regionen, anderen Kulturen dokumentieren. Prägung durch Kunst und Technik, ihr Datenturm.

Das Buch, die Schallplatte, das Dia, die Videokassette haben ihre jeweils spezifische Magie.

Das Papier enthält die Atemluft zur Zeit der Buchherstellung, die Bindung und der Einband enthalten die Handgriffe des Buchbinders.

Der Druck repräsentiert von Gutenberg bis heute die Entstehungszeit des Buches und ist eine Spur des Zeitgeistes. Hinzu kommen die Hände und Persönlichkeit seiner Leser.

Hervorstechend ist die bildliche Darstellung innerhalb eines Buches.

Die Entwicklung des Buchdrucks vom Anbeginn her kann in einer privaten Bibliothek kaum erfahren werden. Doch die seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts rasante Entwicklung der Bilddarstellung kann in einer privaten Bibliothek durchaus dokumentiert werden. Man hält damit eine visuelle Dokumentation der einhergehenden gesellschaftlichen Entwicklung in Händen.

Seit der Steinzeit macht der Mensch Bilder von der Welt. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam zu den Buchillustrationen durch Stiche der Steindruck hinzu. Typisch sind der Brockhaus sowie Tier- und Pflanzenbücher.

Zur Reproduktion der aufkommenden Fotografie folgte der Offsetdruck. Für qualitativ hochwertige Darstellungen diente der Kupfertiefdruck. Mit der Farbfotografie kam der Mehrfarbenrasterdruck, von den Anfängen bis zur heutigen Perfektion.

Da sind die Langewiesche Bildbücher und die frühen Alpenvereinsbände. Man kann sich vorstellen, welche Sensation diese neue Bilderwelt darstellte. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Die frühen Bildbücher sind vergleichbar mit den mittelalterlichen Bilderbibeln an den Wänden der Kirchen.

Die Bilddarstellungen in den Büchern seit 1900 illustrieren die Zeit der Eltern und Großeltern und was durch die Eltern und Großeltern noch in einem selber steckt.

Die Vergangenheit ist hier materiell gespeichert.

Im Holzpapier der Nachkriegszeiten 1918 und 1945 rauschen die Bäume aus der Kindheit der Eltern und der eigenen.

Die Inselbücher demonstrieren die Rückkehr zur Kultur nach den Gräueln des ersten Weltkrieges.

Rowohlts deutsche Enzyklopädie bringen die Wissenschaft zurück nach dem Kahlschlag des Nationalsozialismus.

Die Merianhefte beschwören die Schönheit der Heimat nach den Verwüstungen im Bombenhagel.

Die Reise-, Volkskunde- und Forscherbücher öffnen in die Welt.


XII. Musik.

Den frühen Menschen ist alles beseelt, auch schon den Tieren.

Überall lauert Gefahr. Gefahr ist allzeit gegenwärtig. Doch es gibt auch die herrlichen Früchte. Überall locken die Geschenke der Natur.

Fressen und gefressen werden ist unausweichlich.

Bis auf den Vogelgesang ist die Natur sparsam mit lautlichen Äußerungen. Nur Affengebrüll, Wolfsgeheul, Brunft- und Todesschreie durchdringen die Stille. Das Ohr ist im Normalfall auf leiseste Bewegungsgeräusche eingestellt.

An den heiligen Plätzen aber erhebt sich gefahrlos die Stimme, dort, wo die Gottheit gewogen ist. Es erklingt die Stimme des Lobpreisens oder sie erklingt zur Jagd- und Kampfbereitschaft.

Die Stimme schafft Gemeinschaft. Ungehörte Stimme versiegt.

Musik wird am Versammlungsplatz gemeinsam ausgeführt. Musik ist an die Ahnen gerichtet, Musik geht an die Geister, an die lokale Gottheit, an das Universum.

Musik ist alt wie Höhlenmalerei, doch vergänglicher. Die Musik aller Zeiten ist immateriell gegenwärtig. Maurizio Kagel.

Musik wird von der Luft in den Himmel getragen und in die Welt hinaus. Wenn sie verklungen ist, bleibt sie in den Köpfen der Zuhörer.

Musikaufführungen müssen aus rituellen Gründen wiederholt werden. Dazu wird die Musikausführung Musikern übertragen, Fachleuten, Priestern. Von ihnen wurden Techniken der Musiknotation entwickelt, die Notenschrift.

Die Musiker führen die Musik an den kultischen Orten auf, in Kirchen, Konzertsälen, Opernhäusern, Veranstaltungshallen. Von dort steigt die Musik an die Ahnen, an die Geister, an die lokale Gottheit, an das Universum auf.

Die Musik wird an den kultischen Orten von der gläubigen Gemeinde zu deren Festigung miterlebt.

Vor zehntausend Jahren bestand die Menschheit aus einer Million Individuen. Sie wurden von den Musikaufführungen der kultischen Orte noch unmittelbar erreicht. Heute gibt es zehn Milliarden Menschen. Es besteht das Problem, die Menschen an den Musikaufführungen der kultischen Orte teilhaben zu lassen.

Eine Menschheit ohne kultischen Kontakt ist dem Bösen ausgeliefert. Tanz ums goldene Kalb ist die Folge, Kulturlosigkeit, Unmenschlichkeit.

Seit hundert Jahren kann eine Musikaufführung von einem kultischen Ort in die Welt hinaus getragen werden. Dazu werden die von der Musikaufführung ausgehenden Luftschwingungen in elektrische Schwingungen umgewandelt und per Funk ausgestrahlt.

Die um die Musikaufführung versammelte Gemeinde ist für die Musik aufnahmebereit. Das kann für die Gesamtmenschheit zum Aufführungszeitpunkt nicht vorausgesetzt werden, schon wegen der vierundzwanzig Zeitzonen der Erde nicht.

Vom Anfang an wurde versucht, die Luftschwingungen der Musik zu speichern, um sie zu anderer Zeit und auch an anderem Ort auszustrahlen. Die Tonaufzeichnung wurde erfunden.

Der Luftstrom eines Gesanges enthält Partikel der Kehlkopfmaterie des Sängers. Der Sänger berührt körperlich die Gehörorgane der am Kultplatz versammelten Gemeinde.

Bei der Tonaufzeichnung berührt der Sänger eine mechanische Membran und überträgt ihr etwas Persönliches, einen molekularen Spin, womit die Membran das Trägersubstrat imprägniert. Eine Wachsschicht wird dabei durch einen schwingenden Stift beschrieben oder eine magnetische Schicht wird durch einen Elektromagneten magnetisiert.

Die so entstehende Aufzeichnung der Musik wird durch den molekularen Spin atomisch auf das Aufführungsereignis personisiert. Mit Gehör und Gehirn des Zuhörers am kultischen Ort geschieht dasselbe. Die Luftschwingungen werden durch elektrochemische Umwandlung atomisch personisiert in die neuronalen Erinnerungsspeicher geschrieben.

Alles wird von allen Dingen der Umwelt imprägniert. Die Natur trieft von atomischen Personisierungen allen Lebendigen rundherum.

Jeder empfindet die Aura der Gegenstände von Verstorbenen, der Dinge des täglichen Gebrauchs im Frankfurter Goethemuseum, eines Leonardoschen Manuskripts, eines authentischen Kunstwerks, der Alltagsdinge im Bauernhofmuseum.

Wird eine atomisch personisierte Aufzeichnung zu anderer Zeit oder an anderem Ort ausgestrahlt, findet durch den zusätzlichen Umwandlungsschritt von der Aufzeichnung zum erneuerten elektrischen Sendesignal eine Schwächung der atomischen Personisierung statt. Die Neu-Aussendung enthält nur noch einen schattenhaften molekularen Spin aus der Kehle des Sängers.

Die aus der Aufzeichnung per Funk verbreitete Musikaufführung vor einem neuen Gemeindeteil entspricht jedoch einer Neuauflage der Musikaufführung vor dem ursprünglichen Gemeindeteil. Es ist, als würden Musikerdoubles die Musik neu aufführen.

Diese Neu-Aufführung der Musik ist als solche der ursprünglichen Sendung der Originalaufführung gleichgesetzt und erzeugt in den neuen Zuhörern und in den neuerlichen Aufzeichnungen eine eigenständige atomische Personisierung.

Deshalb ist in vielen Fällen unwichtig, ob die zur Ausstrahlung verwendete Aufzeichnung aus einer Musikaufführung am Kultort vor einer gläubigen Gemeinde oder aus einer dort speziell für die Aufzeichnung stattgefundenen Aufführung stammt.

Aufnahmen am Kultort selbst sind für Musik mit Antwortgesängen der Gemeinde und für Opern- und Konzertaufführungen mit dem Applaus des Publikums aber unumgänglich.

Die Ausstrahlung einer Musikaufführung eines kultischen Ortes heiligt das Land und segnet das Volk.

Eine Musikaufzeichnung muß gegebenenfalls kopiert werden, um sie an andere Sendeorte zu versenden oder in einem Archiv zu sichern.

Musikalische Aufzeichnungstechniken wandeln grundsätzlich die Luftschwingungen im Kultraum in auf Substrate speicherbare Daten um. Die Kommerzialisierung des Musikbetriebs braucht Speicherungen, die einfach und beliebig oft kopierbar sind.

Werden die Luftschwingungen auf feste oder magnetische Träger gespeichert, sinkt nach dem Kopiervorgang die Qualität durch Ungenauigkeit des Druckvorgangs oder durch Rauschen. Das wird durch digitale Aufzeichnung vermieden.

Wird Musik nur kurz in Sekundenbruchteilen zu Gehör gebracht, werden die differentialen Stückchen Musik durch die Trägheit des Gehörorgans zu einem kontinuierlichen Klangerlebnis integriert. Dabei geht die zwischen den so genannten Abtastpunkten liegende Musik verloren.

Werden die Luftschwingungen in elektrische Schwingungen umgewandelt, können die Schwingungsamplituden je Abtastschritt gemessen und die Messwerte binär abgespeichert werden.

Durch diese so genannte Quantisierung gehen weitere Elemente der Musik verloren, da die binäre Darstellung des Messwerts eines Abtastschrittes entweder kleiner oder größer als der Messwert selbst ist.

Kopien der binär gespeicherten Abtastungen sind identisch der originalen binären Abspeicherung.

Die digitale Technik hat das Erlebnis von Musikaufführungen grundlegend verändert. Wird eine Musikaufführung digital per Funk an die Weltgemeinschaft übertragen, dann erlebt nur die gläubige Gemeinde am Kultplatz die atomische Personisierung. Digitalisierte Musik enthält keine atomische Personisierung.

Eine digitale Übertragung realisiert nur noch die Funktion, dass die Musikaufführung gleichzeitig von anderen Gläubigen gehört wird, damit über die zuhörende Gemeinde ein Strom gegen Himmel steigt.

Die Aufzeichnung einer digitalen Musikausstrahlung wird durch das Senderlogo von einer kommerziellen Kopie unterschieden. Durch das Senderlogo ist sie als Produkt der gläubigen Zuhörer-Gemeinde ideell von Bedeutung.

Im Gegensatz dazu ist die Aufzeichnung einer analogen Musikausstrahlung eine physikalische Manifestation des von der gläubigen Gemeinde gleichzeitig empfangenen Musikereignisses in Form des einen, speziellen Magnetstreifens.

Die Aufnahmen analog gesendeter Musikaufführungen, insbesondere von Live-Sendungen, sind ein großer Schatz. Das Hörerlebnis analoger Aufnahmen ist grundlegend anders, als die Wiedergabe digitaler Speicherungen. Analoge Aufnahmen klingen dem durch digitale Kopien verbildeten Ohr numinos.

Die moderne Funktechnik erlaubt neben der Übertragung des Tones einer Musikaufführung auch die bildliche Übertragung der Musizierenden. Die zusätzliche bildliche Übertragung der Musizierenden könnte ein Ersatz der durch die Digitalisierung verlorenen atomischen Personisierung sein.

Beim originalen Kultereignis im Kreis der gläubigen Gemeinde geht es aber in erster Linie um den Ton und nicht um das Bild der weit vorne am Altar oder auf der Bühne nur schemenhaft erkennbaren Musizierenden.

Die per Funk bildlich dargestellten Musizierenden in nahezu greifbarer Nähe sind etwas prinzipiell anderes, als die atomische Personisierung durch den Ton vor Ort.

Für Opernaufführungen ist die bildliche Übertragung zusätzlich zum Ton angemessen, doch auch eine derartige Opern-Übertragung ist vom Erleben aus dem realen Zuschauerraum weit entfernt.

Musik ist ein gemeinschaftsbildendes Kulterlebnis. Von Seiten der Musikindustrie wird alles getan, das Bedürfnis nach diesem Kulterlebnis kommerziell zu nutzen.

Maschinen kopieren die Aufzeichnungen massenhaft auf vermarktbare Träger. Menschen können diesen Maschinenauswurf erwerben und die Musikkopie an beliebigem Ort und zu beliebiger Zeit konsumieren.

Ein derartiger Musikkonsum hat keinerlei Bezug zur Teilnahme am gleichzeitigen Hören einer Aussendung im Verbund einer gläubigen Gemeinde. Das Abhören eines vermarktet kopierten Trägers kann bestenfalls eine Gedächtnisstütze einer bereits gehörten originalen Musikaufführung oder deren Ausstrahlung sein, andernfalls ist da nichts als Geräusch.

Jeder spürt das Numinose beim Hören einer Musikaufführung über Funk gleichzeitig mit tausenden anderen. Unbewußt weiß jeder, dass er sich beim Hören einer von einem Sender verbreiteten Aufführung in Gemeinschaft von Tausenden befindet und dass er beim Hören eines Kopiermaschinenauswurfs in kosmischer Einsamkeit auf die Maschine und sich selbst geworfen ist.

Deshalb lässt er den Konsum aus der Maschinenkopie schließlich sein und versorgt sich Tag und Nacht nur noch durch den Sender in Gemeinschaft der Massenzuseher, muß er dabei auch noch so ödes Gedudel ertragen.

Die Problematik des Konsums von Musikkopien zeigt sich auch in der Schwierigkeit, ein Stück aus dem Angebot der Musikindustrie oder aus einer Bestseller gesteuerten Videothek auszuwählen.

Eine per Sendeprogramm der Gemeinschaft angebotene Aufführung befreit aus der kalten Vermarktungsstrategie der Musikindustrie und aus der Leere musikalischer Selbstbezogenheit.

Die Aufnahme einer öffentlichen Sendung ist wie eine Aufnahme am originalen Kultplatz in Anwesenheit der gläubigen Gemeinde. Die Aufnahme einer öffentlichen Sendung ist ein externalisierter Teil des Hörergedächtnisses. Der aus der Kopiermaschine kommende Auswurf ist dem gegenüber schales Spülwasser.

Musik vertreibt Angst. Musik bindet in die gläubige Gemeinde.

Rund um tönt und klingt es ununterbrochen. Der Kommerz missbraucht Musik zu einer Einbindungsillusion.

Der Kommerz hat die Funkhäuser besetzt. Die Unterhaltungsindustrie verführt die Menschen, nach jeder Konsumenttäuschung das Glück der Gemeinschaft immer wieder im nächsten neuen Produkt zu suchen, vorgetäuscht durch eine Gemeinde, aber eine Gemeinde von Käufern und nicht von Hörern.

Die Teilnahme der Menschheit an den kultischen Musikaufführungen ist gesellschaftsrelevant.

Die von der Gesellschaft finanzierten Aufführungskosten sind immens und nur zum geringen Teil durch noch so hohe Eintrittspreise gedeckt. Nicht nur die unmittelbaren Aufführungskosten sind zu betrachten. Das von der Gesellschaft finanzierte gesamte System von der Ausbildung der Musiker bis zum öffentlichen Auftritt gehört dazu.

Wenn der kostenfreie Zugang zum Musiksystem behindert wird, stellt die Kommerzialisierung der Musik eine unzulässige private Bereichung auf Gemeinkosten dar.

Musik ist ein Ruf an die Ahnen, an die Geister, an die lokale Gottheit, schließlich an das Universum. Musik ist eine gemeinschaftsbildende Veranstaltung. Die Inhalte sind in Mythen verpackt und deren Vermittlung geschieht im Kreis der gläubigen Gemeinde.

Bereits in frühester Zeit fanden auf den Kultplätzen Theateraufführungen statt. In weiterer Folge kam es zu Opernaufführungen und Spielfilmvorstellungen. Das festigte die gesellschaftlichen Werte.

Für die Funk-Übertragungen von Theater und Oper und deren Aufzeichnung gelten die für die Musikaufführungen gemachten Feststellungen, wobei die bildliche Darstellung essentiell dazukommt.

Die Analyse zeigt, daß bei bildunterstützten Aufführungsformen der Verlust an atomischer Personisierung durch Digitalisierung keinesfalls kleiner anzusetzen ist, als bei Musik ohne Bild.

Die atomische Personisierung des Bildes.

Das Licht überträgt ein Bild in die Augen des Zusehers. Durch elektrochemische Umwandlung wird das Bild im Gehirn gespeichert.

Durch elektro-magnetische Umwandlung kann ein Bild per Funk gesendet werden.

Ein Bild kann gespeichert werden, wenn das dieses erzeugende Licht chemisch eine photographische Substanz verwandelt. Oder das Bild erzeugende Licht wird durch elektro-magnetische Umwandlung auf einem Magnetband gespeichert.

Die ein Bild erzeugenden Lichtstrahlen werden im Allgemeinen nicht vom abgebildeten Objekt erzeugt.

Ein Bild entsteht durch Reflexion der von einer anderen Quelle erzeugten Lichtstrahlen. Die Lichtstrahlen enthalten deshalb keine atomaren Partikel des Abgebildeten.

Trotzdem ist die Speicherung eines Bildes atomisch personisiert, denn bei der Reflexion überträgt das abgebildete Objekt den Lichtstrahlen einen atomisch personischen Spin, der auf das Speichermedium übertragen wird.

Wird beim Ton Materie des Musizierenden auf die Luftschwingungen übertragen und von den Luftschwingungen ein atomisch personischer Spin auf das Speichermedium, so wird beim Bild der atomisch personische Spin auf die Lichtstrahlen übertragen und erst von den Lichtstrahlen atomisch Personisches auf das Speichermedium oder den Zuseher übertragen.

Die atomische Personisierung bei Tönen ist demnach graduell intensiver als beim Bild.

Die sichtbare Welt ist eine Schattenwelt im Vergleich zur tonalen. Ein Bild ist eine pure Erscheinung und wird erst real, wenn es einen Ton abgibt.

Beim Weitersenden der Speicherung zu einer gläubigen Gemeinde wird die atomische Personisierung abgeschwächt.

Die Aufnahme einer Sendung wird dadurch legitimiert, dass die gläubige Gemeinde diese Aussendung betrachtet und die Abspeicherung deshalb grundsätzlich ein neues Ereignis betrifft.

Für die kommerziellen Kopien von bildlichen Abspeicherungen gilt dasselbe wie im Falle der Musikaufführungen.

Bildliche Aufzeichnungen haben nicht dieselbe kultische Bedeutung wie musikalische. Töne sind vom Mutterleib an existentiell.

Musik wird nach oben gesandt, letztlich an Gott. Szenische Aufführungen werden dagegen an die gläubige Gemeinde gesandt, zur Belehrung, zur Erbauung.

Der akustische Anteil dringt nach oben, der bildliche bleibt hienieden.

Aber das Bild hat auch als solches göttlichen Charakter, nämlich wenn es einen kultischen Platz markiert - wenn es Anteil an einem Tempel hat, an einer Kirche, an einem Museum.

Der Digitalisierungsverlust bezüglich eines kultischen Platzes ist recht fundamental. Kultische Plätze können nur durch analoge Photographie weitervermittelt werden.

Die atomische Personisierung einer photographischen Abspeicherung durch Dias ist ein großer Schatz. Ein Dia enthält unmittelbar den Schatten des Abgebildeten. Das Abgebildete ist holographisch im Substrat präsent. Die Kopie des Dias enthält dagegen nur den Schatten eines Schattens.

Ein Dia ist von der realen Welt atomisch imprägniert. Ebenso ist ein Kunstwerk vom Inneren des Künstlers und von der ihn umgebenden Gemeinde imprägniert.

Kunstwerke werden an den Kultplatz gebracht, in den Tempel, in die Kirche, in das Museum, dem zugewandt Herabblickenden zum Gefallen.

Musikaufzeichnungen und Dias enthalten die Aura der realen Welt. Ein Bildwerk enthält nur die Hand des Künstlers.

Bei der Wiedergabe einer Aufzeichnung ist die Gemeinde da, die bei der Aufführung bzw deren Aussendung versammelt war. Die Wiedergabe einer kommerziellen Kopie läßt ihren Hörer allein mit der Kopiermaschine.

Daher kommt das Bedürfnis, seine Sammlung kommerzieller Kopien Besuchern zu zeigen, sie ins Netz zu stellen, sie mit der winmx-Gemeinde zu teilen, sie mit den facebook-Freunden zu teilen. Die Sammlung kommerzieller Kopien soll aus der gottverlassenen Einsamkeit im Kreis der gemeinsam Hörenden aufsteigen und atomisch personisiert werden.

Eine Sammlung von Kopien ist ein gemeindefähiges Surrogat des Sammlers. Es steigt aber erst in Gemeinschaft mit den anderen nach oben. Die Vereinigung der vier Millionen shared files in winmx ist ein Beleg dafür.

Die Gesamtheit der Musik aus den Katalogen und Verkaufsregalen des Kopiermaschinen-Kommerzes ist dagegen ein gigantischer Haufen Müll.

Die atomische Personisierung der magnetischen Aufzeichnungen der Funkhäuser ist ein hohes Gut. Die magnetischen Aufzeichnungen der Funkhäuser sind selten Originalaufzeichnungen der Musikaufführungen, sie sind durch mehr oder weniger molekulares Rauschen geschwächte Kopien.

Die hauptsächliche Aura der magnetischen Aufzeichnungen der Funkhäuser kommt aus der Andacht der Funkgemeinde bei der erneuten Aussendung.

Live-Übertragungen haben das höchste Niveau atomischer Personisierung.

Atomische Personisierung bewahrt auch der Druck einer Schallplatte aus der Aufzeichnungsmatrize. Das Plattensammeln belegt die Erlebnisstärke analoger Wiedergabe und die Wirkkraft atomischer Personisierung.

Von Schallplatten gesendete Musikaufführungen sind von magnetischen Trägern gesendeten Aufführungen gleichwertig und mehrfach kopierten magnetischen Aufzeichnungen überlegen.

Wichtig ist die Wiedergabetechnik von Aufzeichnungen. Die Wiedergabetechnik muß zur Aufzeichnungstechnik kongruent sein.

Alles Digitale, und das ist bald wirklich alles, kann in eine Cloud geladen werden, also in den Weltraum. Nur analoges Material, Magnetkassetten und Dias, benötigt Platz hienieden, unabänderlich.

In der digitalen Welt sind die Platz brauchenden Schallplatten, Musikkassetten und Dias unzeitgemäß, sie sind von einem anderen Stern. Musikkassetten und Dias werden massenhaft vernichtet, sie sind zukünftig nur noch seltene Schätze für Außenseiter.

Das ganze technische Niveau von analoger Übertragung, Speicherung und Wiedergabe, von analoger chemischer Abbildung, ist für immer dahingegeben der digitalen Verstümmelung und technischen Primitivität.

Wenn in fünfhundert Jahren nach einem atomaren Blitz alle elektro-magnetischen Speicher gelöscht sind, spielt in der Einöde ein Plattenspieler noch immer Lilly Marlene und Beethovens Neunte Symphonie, sagt ein Vinyl-Philosoph.

Die Musikindustrie.

Den klassische Musikbetrieb, Opernhäuser, Konzertsäle, Staatsorchester und die Ausbildung der Musiker finanzieren die Steuerzahler. Die Eintrittspreise der Aufführungsveranstaltungen decken kaum die laufenden Kosten.

Vier Prozent der Bevölkerung besuchen klassische Konzerte und Opernaufführungen. Das führt zur vordergründigen Frage, ob der Aufwand für den klassischen Musikbetrieb gerechtfertigt ist. In Wirklichkeit heißt das aber, daß der bestehende Musikbetrieb nur vier Prozent der Bevölkerung versorgen kann. Eine Verkleinerung des klassischen Musikbetriebs wäre eine Unterschreitung einer medialen kritischen Masse und würde langfristig zum Verschwinden der klassischen Musik führen. Eine Vergrößerung des klassischen Musikbetriebs zur direkten Versorgung eines größeren Bevölkerungsanteils ist finanziell nicht tragbar.

Die klassischen Musik-Aufführungen müssen deshalb der Allgemeinheit durch die Sendeanstalten von Radio und Fernsehen kostenlos verfügbar gemacht werden. Doch es werden nur wenige Aufführungen ausgestrahlt, und aus wiedergaberechtlichen Gründen sind es über Jahre hinweg immer dieselben.

Die Masse der Aufführungen geht mit teuren Karten, die nur einen Bruchteil der Kosten decken, an die Reichen und an die Musikindustrie zur kommerziellen Verwertung.

Im klassischen Musikbetrieb findet sich dasselbe Muster wie bei den staatlichen Museen. Staatliche Museen treiben zum Gewinn privater Sammler die Preise der Kunstwerke in die Höhe, sodaß die Öffentlichkeit sich auf dem Kunstmarkt nicht mehr bedienen kann.

Die Museen sind nur noch da, auf Kosten des Steuerzahlers den Sammlern hehre Tempel ihres Nachlasses zu bauen.

Ebenso werden den Reichen die Tempel ihres Musikkonsums auf Kosten des Steuerzahlers errichtet.

Das läuft wie bei den olympischen Spielen in Rio de Janeiro. Der Bau der olympischen Stätten hat die Staatskasse geplündert. Eine Eintrittskarte zur Eröffnungsfeier kostet vier brasilianische Monatslöhne.

In allen Fällen steht jedoch der Allgemeinheit zuerst der kostenlose Zugang zu den von ihnen zuvor schon teuer mit Steuergeldern bezahlten Kulturgütern zu.

Kultur gebührt nicht mehr den Adeligen und Kirchenmagnaten auf Kosten des Volkes.

Die Kunst Schaffenden werden heute vom Kommerz verführt, gar mit Hilfe der Gesellschaft, gar mit Hilfe des Steuerzahlers, zum Gewinn der privaten Kulturindustrie zu produzieren. Der Kunstliebhaber wird so doppelt und dreifach geschröpft.

Die Reichen führen Krieg gegen die Armen und die Reichen werden ihn gewinnen. Staat und Kultus gehört ihnen. Warren Buffett.

Im Zeitalter des Internets ist die Kulturindustrie nicht mehr der notwendige Vermittler zwischen Künstler und Gesellschaft. Sie ist unverschämter Abzocker und Hemmschuh für die Kreativität des Volkes.

Nur eine Aufführung, die durch Fernsehen und Rundfunk veröffentlicht ist, nur eine Aufführung, die der Weltgemeinde, der sie zusteht, geboten wurde, ist wertvoll. Der Rest wird vor der Verwertungsindustrie zu Schanden.


XIII. Fernsehen 1995.

Es gab eine Zeit, da das Fernsehen das Haupt-Medium kultureller Zusammenkunft war, zuerst in Konkurrenz, später in der Nachfolge des Kinos. Anders als im Kinosaal fand diese Zusammenkunft in Millionen familiären vier Wänden um den Fernsehaltar statt.

In der Anfangszeit des Fernsehens, mit wenigen täglichen Sendestunden, sind Reportagen, Dokumentationen und Unterhaltungsshows die typischen Produktionen. Als das Fernsehen ganztags zu senden begann, erhöhte sich der Bedarf an Sendematerial schlagartig. Medienunternehmer kauften die Rechte am Filmbestand der Menschheit und vermarkteten sie im Fernsehen.

Kinosterben war die Folge des rund um die Uhr sendenden und um viele Privatkanäle erweiterten Fernsehens. Das Fernsehen wurde zum zentralen Kulturplatz.

Als 1995 bis 1998 die Filmklassiker im Fernsehen gezeigt wurden, war das für eine in der Kinozeit geprägte Person ein einziges Fest. Wenn der Film das Menschengeschlecht erzog wie zuvor das Buch, so hatten die im Fernsehen gebrachten Kinofilme ihr Publikum bereits zuvor im Kinosaal erzogen. Die nunmehrige Verfügbarkeit der Filme im Fernsehen galt im Wesentlichen der Festigung dieser Erziehung.

Mit Hilfe des Videorecorders schickte sich der Filmliebhaber an, seine Bücherwand durch eine Sammlung von Videokassetten zu ergänzen.

Das aktuelle Kino selbst aber wandelte sich von der Erziehung des Menschengeschlechts zu nur noch kommerzorientierter Blockbuster-Produktion. Die TV-Filme ihrerseits hatten lediglich das Ziel des Tageserfolgs zur Steigerung der Einschaltquote. Wozu die nach der alten Kinozeit entstandenen Produkte erziehen, ist zweifelhaft. Sie erziehen zu Narzissmus und Konsumhörigkeit.

Es wurden die zwischen 1995 und 1998 vom Fernsehen gesendeten Filmklassiker auf Videorecorder aufgenommen und stehen hier, nachträglich digitalisiert, zur Verfügung.

Die Sendung dieser Filme im Fernsehen war ein gesellschaftliches Ereignis, liefen die Filme doch viele Jahre lang nicht mehr im Kino und ihre Ausstrahlung im Fernsehen stieß damals auf noch auf sie geprägte Personen. Die Sendung dieser Filme im Fernsehen hatte 1995 bis 1998 deshalb die über das ganze Land gelegte Magie von hunderttausend gleichzeitigen, auf sie bezogenen, Zusehern.

Die Aufzeichnung eines vom Fernsehen gesendeten Films ist durch das Senderlogo ausgezeichnet und unterscheidet sie von den in Einsamkeit konsumierten Produkten aus dem Videothekensumpf.

Die zeitliche Folge der aufgezeichneten Filme ist ein transzendentaler Pfad des Landes der Jahre 1995 bis 1998.

Das geistige Leben einer Zeit und damit das Leben jedes Einzelnen wurzelt im vorangehenden. Das kann auf dem Hintergrund dieser Aufzeichnungen erfahren werden. Was dem gegenüber aus dem Geflacker der aktuellen Medienindustrie folgt, ist nicht schlecht genug zu bewerten - Unmenschlichkeit und Völkermord.

Der Stellenwert des Fernsehens hat sich durch die Digitalisierung und die neuen Online-Medien grundlegend verändert. Zwar stirbt das Fernsehen nicht, wie einst das Kino, aber es degeneriert vom gesellschaftlichen Kulturplatz zur Kulisse einer allgegenwärtigen Beträufelung durch Politik-, Unterhaltungs- und Werbeindustrie.

Das Internet ist der gesellschaftliche Platz der Zeit. Aber das Internet ist ein Marktplatz für den Online-Handel und überträgt den Kultaspekt aufs Shopping. Das Internet führt zum Sterben der Einzelhandelsgeschäfte wie einst das Fernsehen zum Kinosterben führte. Als Reaktion darauf schafft der Handel Discounterketten, wie Hollywood die Blockbuster-Produktionen als Reaktion auf das Fernsehen schuf.

Das kultische Gemeinschaftserleben verkümmert endgültig im marktgesteuerten Privatkonsum. Computerspiel- und Pornoindustrie haben ein mehrfaches Volumen vom alten Hollywood und vollenden den Weg vom Kinosaal und vom familiärem Fernsehaltar zum einsamen Konsum. Die Macht der Medienindustrie erhebt sich endgültig über Millionen Einzelindividuen, fixiert sie auf den allgegenwärtigen, schließlich individualisierten, Bildschirm. Jeder starrt ununterbrochen auf seine Hand - den Handybildschirm - oder in seine Medienbrille.


XIV. Fernsehen 2009.

Seit Aufkommen der Digitalisierung und der Online-Industrie verlor das Fernsehen seine Funktion als gesellschaftlicher Kultplatz. Das Fernsehen ist nur noch Berieselungsmedium. Das Fernsehen ist heruntergekommen zur allgegenwärtigen Geflackerkulisse der Politik-, Unterhaltungs- und Werbeindustrie, gesteuert von Einschaltquoten.

Das öffentliche Fernsehen erhebt gegenüber der Masse des Privatfernsehens aber immer noch einen kulturellen Anspruch.

Das öffentliche Fernsehen kann seinen, von den Zusehern bezahlten, Kulturauftrag nur mühsam rechtfertigen. Einen Teil der Rechtfertigung stellen die Sendungen klassischer Musik dar.

Sendungen klassischer Musik erfüllen erstens den Kulturauftrag öffentlicher Sender. Zweitens rechtfertigen sie die immensen staatlichen Subventionen zum Erhalt des klassischen Musikbetriebs, indem sie scheinbar dessen Ergebnisse der Gemeinschaft verfügbar machen.

Der gesellschaftliche Aufwand für den klassischen Musikbetrieb wird durch die Musikindustrie für ihre kommerzielle Nutzung mißbraucht. Die Musikindustrie versucht, durch ihre Industrieprodukte und Onlinemedien die Ausprägung der Musikkultur zu bestimmen.

Dennoch ist der Sog öffentlicher Fernsehausstrahlungen von klassischen Musikaufführungen unbestreitbar. Er kommt aus dem Erleben von hunderttausend gleichzeitigen Zusehern zum Zeitpunkt der Sendung. Er kommt aus der durch die Fernsehausstrahlungen über das Land gelegten kultischen Aura.

Demgegenüber ist das Angebot von Mediatheken, aus denen einer sein Programm zu den ihm genehmen Zeiten selbst gestalten kann, ein von der Medienindustrie gesteuerter gigantischer Irrtum. Dadurch wird die Transzendenz der landesweiten Ausstrahlung einer Musikaufführung in eine ergriffene Zuhörergemeinde hinein tausendfach zerstückelt und zerstört.

Die Selbstgestaltung seines Programms aus Mediatheken vernichtet das Fernsehen endgültig als Kultplatz und degradiert es zu einer Rumpelkammer bereits erledigter Aussendungen.

Es werden die zwischen 2009 und 2015 gesendeten Aufführungen klassischer Musik digital gespeichert. Die Senderlogos in den Aufnahmen beweisen ihre Authentizität. Die zeitliche Folge der aufgezeichneten Aufführungen klassischer Musik konstituiert ein magisches Abbild des Landes der Jahre 2009 bis 2015.

Das geistige Leben einer Zeit und damit das Leben jedes Einzelnen wurzelt im vorangehenden. Das kann auf dem Hintergrund dieser Aufnahmen erfahren werden. Was dem gegenüber aus dem Geflacker der aktuellen Medienindustrie folgt, ist nicht schlecht genug zu bewerten - Unmenschlichkeit und Völkermord.

Man könnte jede Aufzeichnung des Fernsehens von 2009 bis 2015 als transzendentes Abbild des Landes dieser Jahre bezeichnen. Doch es ist ein Unterschied, ob Sendungen Millionen Zusehern sinnfreies Rauschen und Flimmern vermitteln oder ob hunderttausend Zuseher gleichzeitig im tiefen Fühlen und Denken einen kollektiven Strom zum Himmel richten.

Es hat Sinn, die magischen Momente des Landes in der gesendeten klassischen Musik zu bewahren, anstatt das jahrtausend alte Getöse der so genannten Unterhaltung. Das Denken, die Kunst, die Humanität setzten sich seit eh von panem et circenses, ins Wirtshaus gehen, Kartenspiel, Pferderennen, Bumsmusik- und Tanzveranstaltungen ab.

Seit eh und je geht es um die kultische Bezogenheit der Menschen. Religion bot der regionalen Bevölkerung mit der Kathedrale und ihrem Bischof kultischen Halt. Danach bot der Nationalismus Millionenmassen den kleinsten gemeinsamen Nenner.

Die klassische Musik ist unser kultischer Bund. Vor fünfzig Jahren war es Aufgabe der öffentlichen Medien, die Kultur zu befördern. Insbesondere dienten sie der Verbreitung und Pflege klassischer Musik. In ihrer Allgegenwärtigkeit konnte man der klassischen Musik nicht entgehen. Kultur ist nur gegen den Sog des vulgären Amusements und kommerzieller Verführung tradierbar. Man erinnert sich noch, wie lange es brauchte, die Schönheit der klassischen Musik dem eingängigen Rums-da-da vorzuziehen und den zum Himmel aufsteigenden Strom im Verein der hörenden Gemeinde wahrzunehmen.

In Konkurrenz mit den kommerziellen Medien verfallen heute auch die öffentlichen Medien der panem et circenses Ideologie. Dem Auftrag, die Kultur des Volkes zu befördern und durchzusetzen, kommen sie nur noch in Alibi-Veranstaltungen zu kirchlichen Festtagen nach oder sie produzieren marktschreierische Starkult-Events. Besonders perfide ist es, die klassische Musik in eigene Kultur-Sender abzuspalten, und so die Volksmassen in den Hauptsendern erst recht Rums-da-da berieseln zu können.

Im Grunde wurde die klassische Musik der CD-Industrie überlassen. Das ging eine Zeit lang gut. Es zeigt sich aber, daß als Folge des Versagens der öffentlichen Medien, die Kultur zu befördern, wegen mangelndem Käufernachwuchs die klassische CD-Industrie selbst zu Grunde geht. Dann werden die philharmonischen Orchester und Opernhäusern dem Rotstift zum Opfer fallen. Vulgärer Brei breitet sich über das Land.


XV. Webshots2000.

Hundert Jahre chemische Photographie mit lichtempfindlich beschichtetem Trägermaterial, mit der beschränkten Bilderzahl pro Film, den Photoapparaten vom Großformat zum Kleinbild, den ausgefeilten Aufnahmetechniken, den Entwicklungs- und Kopieranstalten, den Studios zur Bildbearbeitung, schufen den photographierenden Weltbetrachter. Sein immer auf Motivsuche offenes Auge, seine Beherrschung der komplexen Aufnahmetechnik, sein Präsentieren des aus der Photoindustrie oft erst nach Wochen verfügbar gemachten Ergebnisses, brachten ihm bewundernden Respekt ein.

1976 erfand ein junger Kodak-Ingenieur die digitale Photographie. Anfangs eine belächelte Kuriosität, setzte sich die digitale Photographie um das Jahr 2000 durch. Für die Photographen gab es, neben der sehr speziellen Polaroidtechnik, erstmals wirklich die Möglichkeit, das Ergebnis ihres Tuns unmittelbar in Händen zu haben und nicht erst nach Bearbeitung in Entwicklungs- und Kopieranstalten. Die Digitalität ermöglichte auch die Bearbeitung der Aufnahmen im Computer und die Präsentation im Internet. Man kann sich den Aufruhr der Gefühle in den Photographen dieser Jahre nicht heftig genug vorstellen.

Wesentlich war früher das Auge des Photographen, es sucht diejenigen Anblicke in der Welt, die das teure Photomaterial und den aufwendigen chemischen Herstellungsprozeß wert sind, so wie der Maler nach den Motiven sucht, die das teure Malutensil und den stundenlangen Malprozeß wert sind. Der Digitalphotograph hat als Beschränkung für die Motivsuche nur noch die pure Verwertbarkeit.

Webshots war das erste große Internet-Forum für Photographen. Ws2000 enthält achthunderttausend Photographien, aufgenommen von sechstausend Photographen weltweit. Ws2000 zeigt den Entwicklungsstand der digitalen Photographie um das Jahr 2000. Darüber hinaus ist ws2000 ein Archiv zum Studium der Alltagskultur und welche Bilder ein Amateurphotograph macht.

Das künstlerische Niveau der Bilder in webshots ist bemerkenswert. Das kommt von der Tatsache, dass die ersten Digitalphotographen von der hoch stehenden Analogphotographie kommen, in der jedes Photo einer spezifischen Anstrengung bedurfte und noch nicht dem heute üblichen Spontanknipsen entsprang.

Das Webshots System

Webshots richtete eine strenge Inspektion ein, um den Inhalt der hochgeladenen Alben zu kontrollieren. Die Webshots Inspektoren entfernen verbotene Alben sofort, vor allem brutalen und pornographischen Inhalts. Webshots ist so Teil der öffentlichen Moral. Zum Studium des ganzen Spektrums der Alltagskultur sind noch Quellen nötig, die den von den Webshots Inspektoren ausgesonderten Teil der gesellschaftlichen Realität liefern.

Eine Webshots Jury sucht täglich drei Alben zur Ausstellung aus, so genannte Featured Albums.

Ws2000 als authentisches Kunstwerk

Die in ws2000 enthaltenen Photographien sind nach individuellen Kriterien - objects trouvees - vom Autor ausgewählt und herunter geladen worden. Ws2000 ist ein authentisches digitales Multimedia Kunstwerk. Jedes Bild in ws2000 ist ein Originalbild, weil eine digitale Kopie vom digitalen Original nicht unterschieden ist. Jedes Bild in ws2000 fixiert die Zeit und den Ort seiner Aufnahme, es ist vergleichbar mit der unmittelbaren Projektion einer Wahrnehmung auf die Wand von Platon’s Höhle.

Die Gesamtheit der Bilder von ws2000 spiegelt die Welt des Jahres 2000 in den Augen von sechstausend menschlichen Individuen. Für eine Ausstellung der Sammlung ist eine anspruchsvolle Installation nötig, um ein erfolgreiches Surfen in ihr zu ermöglichen.


XVI. Winmx2000.

Winmx ist ein Internet filesharingprogramm mit vier Millionen Teilnehmern, die die in ihren shared files enthaltene Musik über peer-to-peer Verbindungen austauschen können. Ein shared file enthält zwischen zehn und dreitausend Musikstücke.

Ab dem Zeitpunkt, an dem ein Rechner ans Netz geht, kann sein shared file von allen anderen Teilnehmern gebrowsed werden. Dazu steht in winmx eine Keyword orientierte Suchfunktion zur Verfügung, zum Beispiel Suche nach Komponistenname, Interpretername, Musiktitel.

Wer in einem shared file ein gewünschtes Musikstück findet und dieses auf seinen Rechner laden will, wird von winmx in die zum shared file gehörende Warteschlange eingereiht. Wenn im shared file Rechner genügend Rechner- und Übertragungskapazität zur Verfügung steht, um zum anfordernden Rechner eine peer-to-peer Verbindung herzustellen, beginnt die Übertragung des Musikstücks.

Die Übertragungsdauer ist abhängig von der aktuell verfügbaren Übertragungskapazität. Die Übertragung hält solange an, solange die Verbindung steht.

Bricht die Verbindung ab, bevor das Musikstück zur Gänze übertragen ist, z.B. wegen Netzunstabilität oder weil einer der beiden Rechner vom Netz geht, dann speichert winmx den Stand der bereits erfolgten Übertragung. Wenn wieder eine Verbindung zwischen den an der Übertragung beteiligten Rechnern hergestellt werden kann, wird das Laden an der unterbrochenen Stelle fortgesetzt.

Voraussetzung zur Teilnahme an dieser Internetfunktion ist die Digitalisierung der Musik. Für Musik von Schallplatten und Tonbändern ist dazu ein eigener Vorgang nötig. Musik auf CDs ist bereits digitalisiert.

Bei Digitalisierung auf CD Format benötigt eine Stunde Musik etwa sechshundert MegaByte Speicher. Nimmt man pro CD fünfzehn Musikeinheiten, so genannte Songs, so ergibt das pro Song vierzig MegaBytes. Ein shared file mit zweihundert Songs ist somit acht GigaByte groß. Dreitausend Songs benötigen hundertzwanzig GigaBytes. Die Übertragung eines Songs über eine peer-to-peer Verbindung durchschnittlich guter Qualität benötigt zur Zeit, 2003, etwa eine Stunde.

mp3

Jede digitale Datei kann komprimiert werden, indem informationstheoretisch redundante Daten so verschlüsselt werden, daß sie beim Decomprimieren wieder richtig reproduziert werden können. Die Komprimierungsmethode für Musikdateien, die sich weltweit durchgesetzt hat, heißt mp3.

Musik mit hoher digitaler Qualität, das heißt mit CD Qualität, kann mit mp3 auf ein Siebentel des ursprünglichen Speicherbedarfs komprimiert werden. Qualitätsmaß der Komprimierung sind die Kilo Bits pro Sekunde. Für CD Qualität sind mindestens hundertzweiundneunzig Kilobits per second erforderlich.

Für einfache Qualitäten, zum Beispiel mit hundertachtundzwanzig Kilobits per second, sind Komprimierungen um den Faktor elf möglich. Das reicht für Sprache aus, dafür sind auch sechsundneunzig bzw vierundsechzig Kilobits per second noch brauchbar, was einem Komprimierungsfaktor zwanzig ergibt.

Mittels mp3 kann ein shared file von zweihundert Songs mit ein GigaByte anstelle von acht GigaBytes realisiert werden. Die mittlere Übertragungsdauer eines mp3 Songs beträgt etwa acht Minuten anstelle einer Stunde ohne Komprimierung. Ein ungeheurer Effektivitätsgewinn, mit dem überhaupt erst die Nutzung des Internets für Musik möglich wurde.

Doch das ist noch nicht das Ende der mp3 Geschichte. Normalerweise müßte ja auf der Empfängerseite der komprimierte Song dekomprimiert werden, um auf einem konventionellen CD Player abgespielt zu werden. Mp3 ist aber ein Komprimierungsverfahren, das on the fly decomprimiert werden kann, sodaß ein mp3 Player direkt mit einem mp3 Bitstrom gefüttert werden kann.

Mp3 Player sind die Erfolgsgeschichte des beginnenden Jahrtausends. Sie sind Musikgiganten im Miniaturformat und mittlerweile überall integriert, in Computern, DVD-Playern, Autoradios und Handies.

Auf dem langen Weg von der Digitalisierung zur Decomprimierung können Probleme auftreten. Es können mp3 Artefakte entstehen, insbesondere Knacklaute. Deshalb ist es empfehlenswert, vor Produktion einer mp3 CD die Musik kontroll zu hören und die Artefakte mittels eines Musikbearbeitungsprogramms, wie dem audio cleaning lab von Magix, zu entfernen.

Investitionen

Es gibt derzeit, 2003, keine nennenswerte mp3 Musik im Handel. Um mp3 Musik zu erhalten, ist ein Computer mit Internet-Anschluß erforderlich, möglichst mit einer höheren Bitrate als die, die der konventionelle Telefonanschluß bietet. Das erforderte 2003 einen Computer im Werte von tausendfünfhundert Euro und zusätzliche Hardware im Werte von tausend Euro sowie monatliche Anschlußgebühren von etwa siebzig Euro.

2003 war mp3 Musik eine reine Liebhaberanwendung und eben die Musikliebhaber waren es, die dieses innovative Gebiet beförderten.

Seit die Industrie die Internet Musik entdeckt, sinken die Investitionskosten zur Nutzung der Internetmusik, dafür muß nun für jeden heruntergeladenen Song extra bezahlt werden. Die peer-to-peer Tauschbörsen, die Pioniere dieser faszinierenden Anwendung, werden mit urheberrechtlichen Vorwänden verdrängt.

Besonders zu bedauern ist, daß so einerseits der Schwarmintelligenz von Millionen Musikliebhabern ihr brillantes Forum genommen wird, andererseits wird auch die Entwicklung eines leistungsfähigen Anwendungs-Systems von vier Millonen peer-Rechnern, eine private Grundlagenforschung geradezu kosmischen Ausmaßes, gestoppt.

Downloaden

Downloaden in einer peer-to-peer Tauschbörse ist ein mühsames Geschäft. Insbesondere die Dynamik des peer-to-peer Netzwerks führt zu Problemen bei den Übertragungen.

Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Sie liegen im An- und Abschalten der über den ganzen Erdball verteilten Teilnehmer Rechner und in ihrer von einem Augenblick zum anderen stark schwankenden Rechner- und Anschlußkapazität. Das Internet selbst durch den Wechsel der beteiligten Router und Server, trägt daran den geringsten Anteil.

Zur Bewältigung dieser Probleme gibt es verschiedene Maßnahmen und erst durch viel Übung beherrschbare Tricks. Der erfolgreiche Download eines Musikstücks in einem stark frequentierten peer-to-peer Netzwerk erfodert die ungeteilte Aufmerksamkeit des downloadenden Teilnehmers, denn die meisten Maßnahmen sind nur innerhalb eines bestimmten Zeitfensters wirksam.

Erfolgreiches Downloaden aus einem peer-to-peer Netzwerk ist engagierte, nicht jedermann gelegene, Expertenarbeit. An guten Tagen kann in acht Stunden download Arbeit etwa siebenhundert Mega Bytes Musik gezogen werden, was in mp3 etwa sieben CDs im Standardformat entspicht. Es gibt aber auch Tage, an denen praktisch nichts geht.

Legt man dieser oben so genannten Expertenarbeit einen angemessenen Stundenlohn zugrunde und berücksichtigt noch dazu die Investitionskosten an Arbeitsplatz, Geräten und Gebühren, dann kostet eine downgeloadete CD ein Vielfaches des Marktpreises und die unglaublichen Maßnahmen des Fachhandels gegen diese Liebhaber Kultur sind umso unerträglicher.

Der Fachhandel will den Musik Liebhaber zwingen, sich mit hunderten öder CD Boxen zuzustellen und mühsam damit seinen CD Player zu bestücken. Der Fachhandel verwehrt dem Musik Liebhaber den Aufbau einer Sammlung von durch ihn selbst ausgewählten Musikstücken im Austausch mit seinen Musikfreunden.

Der besondere Wert der in den shared files von winmx gespeicherten Musik liegt darin, daß sie nicht aus den Lieferkatalogen der Musik-Industrie stammt, sondern aus dem lebendigen Gebrauch von millionen Musikliebhabern.

Die shared files von winmx sind das durch das oftmalige tief emotionale Hören der Liebhaber gleichsam herausgeschwitzte Musikgut der Menschheit. Dieses Gut hat mit den vierzigtausend im Handel lieferbaren CD-Titel nichts gemein.

Ein Großteil der im winmx enthaltenen Titel sind vor allem hinsichtlich ihrer Aufführungen und Interpreten überhaupt nicht mehr lieferbar. Sie stammen von Aufnahmen alter CDs, Schallplatten, Liveübertragungen und unplugged Aufnahmen.

Der besondere Wert der in den shared files von winmx enthaltenen Musiksammlungen liegt in der indiviluellen Zusammenstellung der Musikstücke aus den von der Musikindustrie auf die diversen Träger gepreßten Packungen.

Die Sammlungen der Musikliebhaber sind völlig unabhängig von allen Beschränkungen, denen die Plattenproduzenten unterliegen, z.B. hinsichtlich der bei ihnen unter Vertrag stehenden Interpreten oder davon, daß ein verkaufbares Musikprodukt die Trägerkapazitäten ökonomisch ausnutzen muß und deshalb immer etwa einstündige Pakete schnürt.

Eine kommerzielle CD-Sammlung enthält eine Menge Schrott. Der Musikliebhaber braucht eine Möglichkeit, seinen eigenen file mit den ihn wirklich interessierenden Musikstücken zu schaffen.

Die Summe der in den winmx shared files enthaltenen Musik, ja jeder individuelle shared file selbst, ist ein kultursoziologisch wichtiges Gut hinsichtlicht der Anwendung der Musik im gelebten Leben.

Man kann darauf hinweisen, daß es Aufgabe von gemeinnützigen Musikbibliotheken ist, die Träger aller je vermarkteten Musikprodukte, und in Zukunft auch die immateriell im Internet erschienene Musik, zu archivieren. Das mag eine hehre Aufgabe sein, für den Musikliebhaber ist ein solches Archiv aber eine tote Wüstenei.

Ist es schon öde, aus den Katalogen der auf dem Markt befindlichen vierzigtausend CDs diejenige Musik und diejenigen Interpretationen heraus zu filtern, die man, vielleicht, haben will, wie öde ist es erst recht, aus den nach rein organisationstechnischen Gesichtspunkten aufgebauten hundertfach größeren Konvoluten der Archive seine Musik zu finden.

Es ist Sache von wissenschaftlichen Spezialisten, ein bestimmtes Werk in einem Archiv aufzuspüren. Ein Liebhaber aber will von einem Cicerone durch die Welt seiner Liebe geleitet werden oder zumindest will er im Austausch mit Gleichgesinnten sein Interesse wecken lassen.

Fatal ist auch, daß bei den in Archiven abgelegten Werken ihr tatsächlicher Gebrauch weitgehend unsichtbar ist. Verkaufsstatistiken und Ausleihraten beziehen sich auf die von den Vermarktungsstrategen der Musikindustrie geschnürten Packungen und geben nur eine unzuverlässige Spur vom tatsächlichen Gebrauch.

Was würden wir dafür geben, zu wissen, welche Musik der auf uns über Handschriften überkommenen frühen Musik der Musik-Liebhaber der Zeit und in welchem Ausmaß konsumierte. Die Tatsache der schriftlichen Überkommenheit alter Musik sagt darüber nichts aus, sie könnte auch ein Zeichen besonders geringen Gebrauchs sein, weil ihr guter Erhaltenszustand der eigentliche Grund ihres Überkommens ist.

Es zeigen ja auch die Sammlungen gut erhaltener Schellack- und Vinylplatten in ihrer niemaligen Gebrauchtheit eine unangenehme Sterilität. Sind unsere Museen der Alltagskultur nur Ladenhütersammlungen aus vergangenen Tagen?

Was würden wir dafür geben, zu wissen, welche Werke seiner Sammlung und in welchem Ausmaß Goethe wirklich konsumierte, um das Beispiel eines Prominenten zu nennen, von dem es bereits viele Informationen aus seinem Umfeld gibt.

Die vorstehenden Bemerkungen zeigen den großen Wert, der in den vier Millionen winmx shared files liegt. Erst wenn ein Benutzer sich die Mühe gibt, ein Werk aus dem Paket eines kommerziellen Datenträgers herauszulösen, es mit einem von ihm selbst entwickelten file Namen zu versehen, der sein spezielles Interesse an diesem Werk dokumentiert und nicht das wissenschaftsgetuige Protzentum eines Musikverlagsstrategen, erst dann ist das Werk geadelt.

Erst wenn ein Benutzer das Werk in seiner liebhaberspezifischen Ausprägung in den shared file seiner Anlage einbindet und im Kontext der übrigen dort versammelten Werke der Welt zur Ansicht stellt, erst dann ist das Werk herausgelöst aus der Regalexistenz eines zusammengepopelten Herstellerprodukts - und dieser Vorgang wiederholt sich im winmx vielmillionenfach.

Der unermeßliche schwarmintelligente Wert der winmx shared files muß für sich selbst und die Nachwelt gerettet werden. Er kann von einem Augenblick zum anderen unwiederbringbar gelöscht sein. Dann sind wir wiederum nur auf die Machwerke der Profit gesteuerten Vermarkter angewiesen.


© AU


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Kommentare zu "Kein Ende des Schreckens - Begründungen für Kunst"

Re: Kein Ende des Schreckens - Begründungen für Kunst

Autor: Angélique Duvier   Datum: 25.04.2022 14:35 Uhr

Kommentar: Unglaublich lang, aber gut und passend zum Titel.

L.G.

Angélique

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