Man schreibt den 1. April. Ein Reisender schlendert über die holprige Substanz einer Straße im Herzen der Welt. „Rue Napoleon 13“ liest er beeindruckt von verschwenderisch geformten Lettern auf einem Straßenschild, welches das einzige Gebäude zu Seiten des Asphaltbandes ziert. Es ist ein, im empirischen Stil erbautes Patrizierhaus.

Der erwachenden Neugierde des Bummlers entgeht es nicht, daß sich lediglich die Vorderfront des Gebildes in halbwegs akzeptablem Zustand befindet. Dahinter weitet sich eine Mischung aus Ruine und wildem Garten, dessen hervorstechendstes Merkmal eine gewaltige, bis auf die Äste der Krone abgestorbene, Kastanie bildet. Das hohe Alter des Baumes lässt den Betrachter schließen, daß der imposante Bau entweder bereits als Wrack entstand oder schon lange Zeit dem Verfall preisgegeben sein mußte.

Ein Zeichen von Leben vermitteln im ersten Augenblick nur die vielen Maulwurfshügel im Garten, deren Urheber vielleicht für die Austrocknung des riesenhaften Gewächses verantwortlich waren. Der „Lebensbaum“ wirkt gerade zu untergraben…

Forscherdrang beflügelt unseren Freund ein paar Schritte in das Durcheinander aus mannshoch gewachsenem, steppenartigem Unkraut und wüsten Geröllhaufen aus Mauersteinen, morschen Brettern und Glasscherben zu wagen. An der Rückseite der großen Renomiermauer bemerkt er, zwischen den Resten des obersten Geschosses, eine Mansarde, die nur noch von ein paar bemoosten Deckenbalken gestützt wird.

Sie scheint noch einigermaßen gut erhalten, da sie, im Gegensatz zu allen übrigen Bestandteilen des Komplexes, noch unversehrte Fensterscheiben besitzt. Die schwindelerregende Höhe, in der sie sich befindet, ist, aller Wahrscheinlichkeit nach, der günstige Umstand, der verhindert hat, daß gelegentlich umherstreunende Lausbuben sie ohne weiteres mit ihren Wurfgeschossen erreichten. Ein noch Früchte tragender Ast der Kastanie ragt mitten in das weit geöffnete Fenster der Mansarde hinein. Diese Tatsache lässt Gedanken an etwaige Bewohner entstehen.

Einige Zeit vergeht, dann ist an der Pforte, welche mit einem blechernen Schild beschlagen ist, welches die bescheidene Aufschrift „Gott“ trägt, ein Geräusch zu vernehmen. Ein spitzer Zeigefinger stochert in das morsche Holz und versucht es zu bewegen. In der Tat drehen sich fast wie von selbst die rostigen Angeln und geben den Weg ins Innere frei. Den verwunderten Blicken springt sofort ein heller Punkt, aus dem sonst düsteren, mit zahllosen Spinnweben durchzogenen Empfangsraum entgegen. Ein Paar Schritte näher entpuppt sich der Punkt, geheftet an einen Treppenpfeiler, als aus eine Seite aus der Bibel. Sie ist bedruckt mit den Zehn Geboten, aber irgendein Schelm hatte eine Parodie darauf zwischen die Zeilen geschrieben. Zu lesen ist…


Eigentlich solltest du überhaupt nicht töten – also überlege dir wen…
Du sollst den Tag heiligen! – und die Nacht natürlich auch.
Du sollst keine Götter haben (und wenn, dann mach dir selbst einen)!
Liebe deinen Nächsten wie er es verdient hat – und keinen Deut mehr.
Und ehre deine Eltern gleichermaßen, denn sie wussten nicht was sie taten!
Du sollst nicht begehren deines Nächsten extra biedere Arbeitskraft!
Du sollst das Glück nicht zerstören – weder deins sonst eins, außer das eines Zerstörers!
Du solltest möglichst gar kein Zeugnis über deinen Nächsten reden – du kennst ihn nicht!
Du sollst nicht probieren deines Nachbarn Weib, wenn sie nicht damit einverstanden ist!
Du solltest nicht einfach nur arbeiten, sondern wirklich etwas Sinnvolles tun!


Das schummerige Zwielicht wird langsam durchschaubar, je mehr die Gewöhnung der Augen fortschreitet, und lässt nun Nischen und Fußboden näher erkennen, wo sich ein geschäftiger Rummel vollzieht. Ratten erscheinen, wohlgemästet, Proviant von einer Wohnstatt zur anderen transportierend, so als sei schwunghafter Handel im Gange – bis die eklige Idylle ein Blitz unterbricht!

Unter dem Prasseln des Donners verzieht sich das Völkchen in seine Löcher, nur der fremdartige Gast steht allein. Beim Einbruch eines Lichtfetzens vom Himmel, durch das weitgehend zerstörte Dach, wagt er den Aufstieg über die wurmstichige Haupttreppe, die, aller Wahrscheinlichkeit nach, zu der bereits beschriebenen Mansarde führt. Da es zu regnen beginnt und überall ein Gemisch von Schmutz und Wasser aus den Ritzen des Fehlbodens rinnt, scheint dies die einzige Möglichkeit zu sein, ins Trockene zu gelangen.

Der Start nach oben geschieht jedoch nicht ohne Schrecken. Wie Schildwachen versperren, von Zeit zu Zeit riesige Spinnen, die ihre Netze quer über die Stiegen gespannt haben, den Weg. Jedesmal ist einiger Mut vonnöten diese Hindernisse zu überwinden.

Erschöpft, und trotz aller hektischen Bemühungen völlig durchnässt, kommt unser Streber endlich an eine Tür. Seine dezenten Klopfgeräusche bleiben jedoch ohne Resonanz. Ungeduldig greift er nach der Klinke und drückt sie nach unten. Doch die fällt ihm aus der Hand.

Das scheint zuviel für einen einzelnen Menschen. Im Zorn erhebt er ein Bein und bringt seinen Widersacher „Türe“ zum Einsturz. Sie fällt krachend in den dahinter liegenden Wohnraum.

Ein blumengemusterter Großvatersessel ist das erste Objekt, das dem, durch den sich ihm nun bietenden Anblick, völlig Fassungslosen, auffällt. Schwere golddurchwirkte Vorhänge und Käfige, angefüllt mit schmuckbehängten Papageien, runden das Bild ab.

An einem, mit vergilbtem Papier beladenen Barocksekretär vorbei, taumelt der nunmehr Verzückte auf den großen, mit geblümtem Stoff überzogenen Lehnstuhl zu, wobei er unvermittelt in den Gesichtskreis zweier alter, eisiger Augäpfel gerät. Der Thron ist besetzt!

„Ich habe dich erwartet, mein Sohn“, krächzt es verächtlich zwischen den Stoffblüten hervor.
„Wer sind Sie?“ kommt es zurück. Der Greis lächelt bescheiden und anscheinend hilflos. Dann rafft er sich auf Antwort zu geben: „Ich bin du!“

Der Gemeinte bricht in schallendes Gelächter aus, das sein Gegenüber jedoch mit den Worten unterbricht: „Es ist zu spät geworden für deine Umkehr – du wirst gezwungen sein zu bleiben!“ Dann beginnt, mit dem hereinbrechenden Abend, ein seltsames Ritual, bei dem kaum noch gesprochen wird, da sich die beiden Gestalten gegenseitig jeweils ein wenig unheimlich sind.

Während man oben tafelt ist in den Balken das unablässige Geräusch des Holzwurms zu vernehmen – und zweifelhafte Elemente haben bei Nacht und Nebel das Amt für Denkmalpflege benachrichtigt, man solle doch umgehend einen Bautrupp schicken, um eine abgestürzte Mansarde zu erneuern.


© alf glocker


1 Lesern gefällt dieser Text.


Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Das allerjüngste Gericht"

Re: Das allerjüngste Gericht

Autor: possum   Datum: 11.05.2019 0:27 Uhr

Kommentar: Lieber Alf ... wie du nur immer wieder den Nagel auf den Knopf triffst erstaunlich! Lieben Gruß!

Re: Das allerjüngste Gericht

Autor: Alf Glocker   Datum: 13.05.2019 7:13 Uhr

Kommentar: Danke Dir liebe Possum!
Liebe Grüße
Alf

Kommentar schreiben zu "Das allerjüngste Gericht"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.