Auf meinem, zumindest in diesem Jahr, 365 Schritte währenden Weg in den Wahnsinn, komme ich öfter mal an mysteriösen Stationen vorbei, auf deren Hinweisschildern extra betont wird, daß genau hier ein Servicepoint für Lebenshilfen verankert sei. Im Volksmund werden diese Points „Tempel“ oder auch „magische Orte“ genannt, an denen man einer bestimmten Sache frönen kann, soll, darf – dem sogenannten „wahren Glauben“. Stets halte ich dann interessiert an, denn in meiner Seele taucht immer wieder diese eine Frage auf:
Gibt es eigentlich, oder uneigentlich, oder andererseits, höchstens aber überhaupt, einen „wahren Glauben“? Zunächst komme ich gehörig ins Schlingern, doch dann, nachdem mir mehrmals schwindlig geworden ist, weiß ich es! Die Antwort heißt: „Aber selbstverständlich!“ Ich überprüfe meine Erfahrungen und ich erinnere mich an sehr befriedigende Erlebnisse … Als ich kürzlich mit Allah im 7. Himmel war und dort Mohammed traf, sagte mir der, es gebe einen (wahren Glauben). Das imponierte mir mächtig. Warum also sollte ich mich dagegen sperren?
Doch, um ganz sicher zu gehen, reiste ich vorsichtshalber noch mal eben kurz in die Vergangenheit, wo ich just an einer Kreuzigung vorbeikam. Eine Kreuzigung, das ist eine damals nicht ganz unübliche Bestrafung auf römische Art: eine ganz teuflische Methode übrigens! Am Kreuz hing damals ein gewisser Jesus und ich fragte ihn: „Tut das denn nicht weh?“ Er aber sagte mir, es täte sehr weh, aber damit seien die Leiden von der ganzen Menschheit genommen.
Ich staunte nicht schlecht und wandte mich um. Was ich sah, machte mir nicht grade viel Mut – denn die Leiden unter den Menschen gingen, anscheinend ungeachtet der Aussage des Gekreuzigten, unvermindert weiter. Warum also sollte ich dem armen Gekreuzigten nun nicht den Gefallen tun und ihn in seiner Annahme bestätigen?! Doch andererseits war ich auch sehr traurig geworden.
Ich brauchte dringend eine Ablenkung! Dazu nahm ich, liebend gerne, an einer Party mit Brahma, Wischnu und Krischna teil. Dort war es enorm lustig – da badeten die schönen Nymphen im See, da schien der blaue Mond, da waren die Kühe heilig und die Gurus weise, und was sie sagten, klang zudem recht schlüssig, aber sollte ich dabei stehenbleiben?
Immerhin hatte ich noch eine Verabredung mit einem Dicken, der mir was Wichtiges von einer Loslösung von allem Irdischen erzählen wollte. Anerkennend musste ich zugeben, daß seine Leistungen in Sachen Versenkung beeindruckend waren. Sobald ich ihn imitierte, spürte ich die Erde unter dem Arsch nicht mehr, ich war leicht geworden wie ein Vogel im Niemandsland. Aber irgendwie wurde ich den Gedanken nicht los, daß er, der Dicke, ebenfalls einen kleinen, charmanten Vogel hatte.
Um mich zwitscherte plötzlich alles – und ich hörte auch noch begeistert hin! Ich freute mich mit Zarathustra am Licht, trank und vögelte mit den griechischen Göttern um die Wette, tanzte mit den Inkas auf der Milchstraße herum, brummelte geheimnisvolle Worte für das Shinto, ich trug die Bundeslade mit, durch den Sinai, ich schlug mich mit den üppigen Walküren herum, schaute den Nornen beim Spinnen zu, so lange, bis ich es selber fast konnte, und ich brachte Donar seinen Hammer zurück, den er im Zorn verschleudert hatte. Und ich ließ mir, last not least, von Manitu mein Totemtier, den Raben, zeigen. Kurz: Ich war mir für keinen Blödsinn zu schade!
Ich baldowerte sogar mit Ramses und den anderen Pharaonen an einer Reise ins Jenseits herum! Und am Ende stellte ich fest: Ja, es gibt den wahren Glauben! Er ist überall, in unseren Hirnen und Herzen, er hilft uns, wenn wir nicht mehr wissen, was wir noch tun sollen, um am Leben zu bleiben. Glauben ist also wertvoll, so sagte ich mir – unbedingt! Glaube versetzt sogar Berge! Bloß eines kann der wahre Glaube leider nicht, er kann uns nicht wirklich weiterbringen, egal, welcher wahre Glaube es ist, denn die Beschränkung auf ein Gebiet macht zwar unheimlich stark, aber nicht frei!

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 255. Schritt

© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 255. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 255. Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 11.05.2022 10:41 Uhr

Kommentar: Wie wahr, lieber Alf, jeder hat oder nicht, seinen Glauben, nur wer in seinem Glauben verhaftet ist, der ist nicht frei!!!

Interessante Beschreibung des Glaubens!!!

Herzliche Morgengrüße aus dem vogelfreien Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 255. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 11.05.2022 16:36 Uhr

Kommentar: Genau liebe Sonja

Herzl Grü aus dem (un)gläubigen Süden
Alf

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 255. Schritt

Autor: Kathleen   Datum: 11.05.2022 19:45 Uhr

Kommentar: Wie wahr lieber Alf,

die Beschränkung auf ein Gebiet (Glauben) kann wahrhaft starrsinnig machen.

Liebe Grüße aus der Mitte Deutschlands

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 255. Schritt

Autor: Jens Lucka   Datum: 11.05.2022 22:04 Uhr

Kommentar: Da hast du sowas von Recht lieber Alf.

Herzliche Grüße von Jens

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 255. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 12.05.2022 7:01 Uhr

Kommentar: Kathleen - Vielen herzlichen Dank...bin angenehm überrscht, daß es noch mehr von "uns" gibt!

Jans - Dir auch meinen herzlichen Dank!°

Lie Grü Alf

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