Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten  83. Schritt

© Alf Glocker

„Deutschland ist das Land der undichten Nichtdenker!“
„Wer hat das gesagt“, schreie ich die Wand an, durch die ich vorhin mit dem Kopf wollte.
„Alle, die gerade ein überflüssiges Buch geschrieben haben“, antworten mir die, die gerade ein überflüssiges Buch geschrieben haben.
„Wer ist hier überflüssig?“, fragt mich die imaginäre Menschenwürde, indem sie ihren imaginären Hammer schwingt und ihn, nach gehörigem Ausholen, direkt auf meinem Kopf landen lässt.

„Jetzt bin ich sozusagen auch irgendwie mit dem Kopf durch die Wand“, meint mein armes Hirn, während ich zusammenbreche und die (G)Besinnung (= das von mir Überzeugtsein) verliere. Aber das geschieht mir recht! Die wollten doch auch bloß Geld verdienen. Was sollte daran auszusetzen sein? Außerdem lag es außerhalb ihres Verantwortungsbereichs, sich selbst zu entprivilegieren. Die Nachfrage bestimmt den Markt!

„Und wo bleiben die anderen?“, murmle ich, während ich mir schmerzverzerrt den malträtierten Schädel reibe.
„Die schreiben für den Arsch!“, kommt es prompt von den Verlagen zurück, deren Interesse am Niveau in den letzten 50 Jahren auf atemberaubende Weise gesunken ist.

„Und die Privilegierten schreiben für Ärsche!“, kontere ich frech, bevor der imaginäre Hammer der imaginären Menschenwürde erneut auf meinem Haupt landet, um mir eindringlich zu beweisen, daß ich ein Esel bin.

Als ich eine Woche später wieder zu mir komme, merke ich, daß mich irgendwer aufgerichtet hat, um mich betrunken zu machen: Ich werde mit den „echten“ Zielen des Lebens konfrontiert. Und die lauten nicht „Denken und Dichten“, sondern arbeiten und essen – eventuell noch fortpflanzen. Vorher kommt aber das Bemühen ums nackte Überleben (je nackter desto besser).

Also rülpse ich zunächst einmal ausgiebig. Vor meinem geistigen Auge sehe ich ausgefranste Bundespräsidenten, bärtige Jungfrauen, überkandidelte Tennischampions, dekadente Scheinphilosophen sowie die Gekreuzigten vergangener Jahrtausende, die entweder selbst einen sagenhaft ausgelutschten „Bestseller“ schrieben, oder sich von einem Zeugen der Jetztzeit beschrieben finden.

Das ist zwar durchaus schon richtig langweilig geworden, bringt aber verliehene Preise und wird vom begeistert sein müssenden Publikum stapelweise gekauft, weil man beim Studium derartiger Lektüren weder nach- noch vor-denken muss! Man muss halt einfach in den entsprechend einge-bildeten Kreisen darüber reden können.

Nachdem ich ausgerülpst habe, überlege ich mir, daß es vielleicht einfach an der Unumbenennbarkeit der Miseren krankt. Frühere Missetaten darf man jederzeit anprangern – heutige aber nicht, weil sie nicht wie die früheren aussehen. Dafür dürfen heutige anerkannte Schreiberlinge jederzeit gebauchpinselt werden, sobald sie schon mal irgendwie ausgezeichnet worden sind.

Das ist „berechenbar“, da kommt jeder spielend mit und keiner muss sich Sorgen machen, daß da etwas sein könnte, was gefährlich, aber noch nicht beschrieben worden ist. Alles ist gut! So wird das auch in wissenschaftlichen Kreisen gehandhabt: Verkünden darf, wer als Verkünder eingesetzt wurde, nachdem er entweder die Verkünder-Prüfung erfolgreich absolviert hat oder mit einem Sponsor für Verkündigungsrechte im Bett, in derselben Partei, derselben Glaubenskongregation etc. war.

Ich verkündige hiermit mein Ausscheiden! Ich scheide aus, was ausgeschieden werden muss, und veranlasse mich zum Schweigen der Lämmer unter Wölfen, unter denen ich gar nicht erst zu heulen brauche, weil die Gesamtsituation zwar zum Heulen ist, aber die Dichten, des Viel-um-nichts-Geschreis der Undichten wegen, kein Gehör finden.

Dann drehe ich mich so lange um meine eigene Achse, bis die Realität streifenartig surreal wird und ich somit ein Level erreicht habe, das den logischen Schluss zulässt: Erkennbar ist, was erkannt werden darf. Erkannt werden dürfen allemal Schwindelstreifen. Sagen kann ich darüber jedoch nichts, weil ich mich sonst übergeben muss!

Ich müsste also warten, bis ich wieder zum Stillstand komme und die Kraft der logischen Betrachtung zurückgewonnen habe. Nachdem ich das jedoch gar nicht anstrebe – aus der Angst heraus, ich könnte dabei den genehmigten Überblick verlieren –, drehe ich mich einfach weiter im Kreis, bis ich mich in eine Erdumlaufbahn rotiert habe, die so weit über den Dingen steht, daß ich eigentlich auch gleich richtig verrückt werden könnte.

Dann habe ich mein Schicksal erfüllt und bin ein echter Deutscher geworden: ein scheingewissensbeflissener Undichter und Nichtdenker.


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten 83. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten 83. Schritt

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 08.10.2021 7:59 Uhr

Kommentar: Moin Alf,
Text und Bild beeindruckend.
Wünsch dir einen stressfreien Tag
Wolfgang

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten 83. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 08.10.2021 10:38 Uhr

Kommentar: ebenfalls lieber Wolfgang - auch einen stressfreien!
und vielen Dank!

LG Alf

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten 83. Schritt

Autor: Sonja Soller   Datum: 08.10.2021 11:27 Uhr

Kommentar: :-) ;-) !!!!!

Herzliche Grüße aus dem beeindruckten Norden, Sonja

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten 83. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 09.10.2021 19:05 Uhr

Kommentar: Vielen herzlichen Dank

LieGrü
Alf

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