Traumprotokolle

Mein Psychoanalytiker riet mir dazu, nach dem Aufwachen jeweils meine Träume kurz festzuhalten, sie gäben wertvolle Einblicke in mein Seelenleben

Montag 21. 10.
Ich gehe zum Fahrradladen und kaufe ein schickes schwarzes Fahrrad,
nicht billig; fahre stolz zum Bahnhof, möchte nach X-stadt fahren.
Gehe zum Fahrkartenautomaten, stelle fest: Geld reicht nicht. Der Zug kommt, ich steige ein, hoffe, nicht auf den Schaffner zu stoßen, laufe durch den Zug bis zum vordersten Wagen. Als ich aussteige in X-stadt, merke ich, dass ich mein Fahrrad nicht mitgenommen hatte. Panik!
Wie gewonnen so zerronnen.

Dienstag 22. 10.
Ich fahre mit meinem alten Rad, grünes Hollandrad, das ich nicht mag,
zur Schule. Dort beeile ich mich, weil es gerade gongt. Da fällt mir ein,
dass ich ja schon in Rente bin. Ich schaue nach meinem Rad: Es ist weg, hatte vergessen es abzuschließen.
Die Münchner Kommissare Batic und Leitmeyer vom Tatort sind schon da, übernehmen die Ermittlungen; sagen, es sei eine rumänische Bande; machen mir wenig Hoffnung. Bin deprimiert.

Mittwoch 23. 10.
Ich halte Unterricht in einer Klasse, keine Unterlagen, improvisiere.
Plötzlich kommen drei streng aussehende Herren in Klassenraum
und setzen sich schweigend nach hinten. Nach Ende der Stunde sagen sie mir, es sei katastrophal gewesen, ich bekäme eine 5.
Ich bin geschockt. Tatort-Kommissarin Lena Odenthal kommt plötzlich
mit gezogener Pistole und verhaftet die drei als Betrüger wegen Amtsan- maßung; bin erleichtert, auch weil mir einfällt, dass ich schon in Rente bin.

Donnerstag 24. 10.
Komme nach Hause, will abendessen und sehe Horst Seehofer an unserem Tisch sitzen. Meine Frau hat rheinischen Sauerbraten und
Feldsalat mit Balsamicoessig gemacht. Sie sagt, sie habe ihn spontan eingeladen, weil er doch unser neuer Museumsdirektor ist.
Seehofer wirkt gebrechlich, aber erzählt gutgelaunt Geschichten von seinen Bergtouren, wir finden ihn richtig sympathisch, ein bisschen wie Luis Trenker. Kein Ton über Politik. Wundere mich über mich selbst.


Freitag 25. 10.
Bin Student am Historischen Seminar der Universität. Der Prof sieht aus wie Harald Lesch und gibt mir mein Referat zurück mit einer vernich- tenden Kritik. Ich frage mich, ob ich nicht schon zu alt für ein weiteres Studium bin und gehe zum Bahnhof.
Wieder ohne Fahrkarte eingestiegen, laufe vor dem Schaffner weg. Privatdetektiv Wilsberg, verkleidet als Eisenbahner, gibt mir falsche Fahrkarte und grinst mich schief an. Erleichterung!

Samstag 26. 10.
Bin in Kiel, stürmisches Wetter. Tatort-Kommissar Borowski und sein Kollege Wallander aus Schweden haben eine Riesenladung geklauter Fahrräder auf einem Containerschiff beschlagnahmt. Mein Hollandrad
ist dabei. Es war eine Russenbande. Fahre nach Hause. Dort sitzen
mein Vater und Richard David Precht in der Küche und diskutieren über den Sinn des Lebens. Nervt mich irgendwie.

Sonntag 27. 10.
Habe wieder neues schwarzes Fahrrad gekauft, gleiches Modell.
Meine Mutter hat mir Geld dafür geschenkt.
Fahre damit zum Flughafen und schließe es an einer dicken Kette an.
Fliege von Frankfurt nach Toronto, um meine Schwester zu besuchen.
Als ich aus dem Arrival Gate herauskomme, sehe ich meine Schwester nicht, aber dafür Greta Thunberg, die mich böse anschaut und sagt:
How dare you! Ich schäme mich total.

Inhalte von Träumen sind Ängste, Wünsche, Erinnerungen und auch
Tagesreste, also Erlebnisse vom Vortag. Das Dramatischste in meinem
Rentnerleben ist das Fernsehprogramm, was ja aus dem oben Geschil- derten ersichtlich ist.


© Björn Scherer-Mohr


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Beschreibung des Autors zu "Traumprotokolle"

Den größten Teil der Traummotive habe ich selbst geträumt.

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