Unterdrückung ist ein Gesetz für Ochsen und Löwen


Helmut erwachte nach einer durchfeierten Nacht als ihm ein sanfter Duft von Vanille und Nelken um die Nase schlich. Es war ihr Geruch. Am Abend zuvor war er auf einer Hochzeit aufgetreten. Als Minnesänger „Thomas of Edingburgh“ verdiente sich Helmut seit einiger Zeit seinen Lebensunterhalt. 
Vor einigen Jahren hatte er die erste Anzeige als Alleinunterhalter in der Zeitung geschaltet und seit her folgte ein Auftrag dem anderem. Helmut liebte es. In seinem Repotoir hatte er verschiedene Popsongs die er auf seiner Akustikgitarre unplugged spielte und ihnen so eine persönliche Note verlieh. Meistens wählte er echte Schnulzen aus. “Evergreens“ mit unschuldigen kleinen Melodien, die jeder kannte und mit denen alle Zuhörer eine oder mehrere Erinnerungen verbinden konnte.
Sein Publikum wollte es in erster Linie kitschig haben. Im späteren verlauf des Abends peppte er sein Programm mit Ihrish Folk auf auch hier hatte er eigenen Texte verfasst die meist von der großen ewigen Liebe handelten. Außerdem hatte er einen besonders schönen Text zur Melodie von „Greensleeves“ ausgedacht, den er selbst viel schöner fand als eine reine Übersetzung des orginal Textes. In seiner interpretation ging es nicht um ein Paar das sich im Streit trennte sondern um einen Mann der seine Frau so sehr liebte, dass er ihr über den Tot hinaus die Treue geschworen hatte und nun an ihrem Grab der gemeinsamen Zeit gedachte. 

„Thomas von Edingburgh“ war ein wahrer Künstler und Entertainer, Helmut hatte nicht all zu viel mit dieser Kunstfigur gemeinsam. Thomas, ein wahrer Frauentyp der mit anwesenden Damen liebliche und manchmal lüsterne Blicke tauschte, der unter der Aufmerksamkeit der Menschen erblühte und niemand empfand etwas anders für ihn als Bewunderung. Manch einer wünschte sich mehr so zu sein wie er und beneidete ihn regelrecht um seine hohe und samtige Gesangsstimme mit denen er anwesende Zuhörerinnen in eine Art Trance versetzte. Helmut hingegen, war sein ausgesprochenes Gegenteil. Er war ein sehr ernster und gehemmter Typ. Meist kleidete er sich in grau, seine Körperhaltung war sehr steif, verkniffen und sehr aufrecht, sein Mund verharrte meistens in einer strichgeraden Position die er höchstens verließ um eine wahre Leidensmiene hervor zu bringen. 

Helmut war ein unverbesserlicher Grübler auf der Suche nach verborgenen Wahrheiten und Spiritualität. Die Welt kam ihm oft sehr dumm und leer vor. Außer ihm schien niemand die metaphorischen Zusammenhänge des Universums zu erkennen und oft war er der Antwort auf die Frage danach, woher die Welt und ihre Menschen kamen schon sehr nahe gewesen. Eine eindeutige Antwort hatte er jedoch bisher nicht gefunden. Diese Tatsache frustrierte ihn und verstärkte seine negative Sichtweise der Welt noch zusätzlich. Im Umgang mit Menschen war er sehr zurückhaltend und wurde auf Grund seiner ständigen Reformierens und seiner oberlehrerhaften Sprechweise, all zu oft das Opfer böser Späße. 
Wirkte er als „Thomas von Edingburgh“ noch so souverän und lebensfroh so verbarg sich hinter ihm ein sehr ernster und ordnugnsliebender Charakter mit einem Auge für Details und dem ständigen Wunsch alles zu verbessern. Seine Kleidung war stets faltenfrei und sauber, seine Wohnung wirkte ordentlich, pedantisch und beinahe langweilig. Sein denken war von einer strengen Einteilung in „richtig und falsch“ geprägt und seine Seele unterlag einer ständigen Kontrolle aus Skrupeln und Moralvorstellungen. 

Helmut legte in seiner Kunst viel Wert auf Details und war auch hier an einer ständigen Entwicklung zum Besseren interessiert. Beinahe niemals war er mit seiner Leistung zufrieden und selbst wenn es nichts mehr zum Verbessern gab, bemühte er sich einen weiteren Kritikpunkt zu finden,um diesen ebenfalls auszumerzen. 
So kritisch wie seiner Kunst gegenüber stand er auf Grund seines hohen Gerechtigkeitssinn auch seinen Mitmenschen gegenüber. Sie waren einfach schlecht und weit entfernt von ihrem göttlichen Ursprung. Sie hatten vergessen das sie einstmals eine unsterbliche Seele gehabt haben und widmeten ihr Leben lieber den einfachen Freuden. Freuden die sich Helmut nicht erlauben konnte und wollte. Er fand es sehr schick den Intellektuellen zu geben und handelte stets mit Vorbehalt, bedächtig und strategisch. Nichts geschah in Helmuts Leben ohne das es vorher auf alle Eventualitäten überprüft worden war. Manchmal artet sein Sicherheitsbedürfnis zu einer wahren Sucht aus. Eben so seine Suche nach der Wahrheit. 
In jedem zwischenmenschlichen Kontakt bemüht er sich darum Lügen auf zu spüren und sobald er eine Ungereimtheit erkannt hatte stellte er kritische Fragen um zu Überprüfen ob sein Gegenüber die Wahrheit sprach. 
Kurz gesagt, war es den meisten Menschen eher unangenehm sich Helmuts Prüfungen zu unterziehen und seine belehrende Sprechweise und seine klaren Überzeugungen, so wie seine liebe zu Regeln machten, ihn nicht unbedingt zu einem angenehmeren Mitmenschen. 

Helmut hatte einen unbewussten Drang die Welt zu verbessern und scheiterte all zu oft an der Realität. Doch nicht nur für seine Mitmenschen wirkte sich Helmuts eigenwillige Art als Belastung aus. Auch selbst litt er sehr darunter, dass in der Welt niemals etwas wirklich perfekt war. Oft war er gestresst und manchmal regelrecht deprimiert. In seiner Seele hatte sich eine tiefe Verzweiflung verwurzelt, die sich in einem tiefen inneren Groll ausdrückte, den er mühevoll unterdrückte. Diese Unterdrückung war notwendig, da er selbst an der Perfektionierung seiner eigenen Persönlichkeit interessiert war. Diese angestrebte Perfektion war an starren Werten und Überzeugungen ausgerichtet, an die Helmut fest glaubte und die ihn vor seinem „niederen Ich“ schützen sollten. Er war in seiner eigenen Person noch viel kritischer als mit seinen Mitmenschen und darum bemüht, stets etwas Besser zu sein als andere. Ging es irgendwo ungerecht zu, war Helmut der erste dem das auffiel und der versuchte das zu ändern. Der bloße Gedanke eine Lüge aus zu sprechen, oder bloß die Wahrheit etwas zu beschönigen, löste in Helmuts Magen wahre Krämpfe aus. Gewann man ihn als Freund, was nicht einfach war, da sich auch Freundschaft in Helmuts Welt an strengen Idealen orientierte, war er mehr als loyal, großzügig, geduldig und hingebungsvoll. Sein Hang zur Perfektion machte ihn zu einer echten Stütze für jeden seiner Freunde, denen er sich ein Leben lang verbunden fühlte. Doch auch hier oder gar in romantischen Beziehungen führten diese Werte zu schweren inneren Konflikten und in Helmut wuchs mit den Jahren die Enttäuschung und der Zorn. Es gab wirklich nicht sehr vielen Menschen die seinen hohen Idealen gerecht wurden. Darüber hinaus war er in emotionalen Angelegenheiten mehr als besitzergreifend. Schnell lies er sich zu einer zornigen Eifersucht hinreisen, die er nur schwer unterdrücken konnte. Oft reagierte er dann rücksichtslos und hinterhältig. Diese Tatsache, die ihm durchaus bewusst war, verstärkte wiederum seinen tiefen inneren Kummer, da diese Gefühle nicht in die zurechtgelegte Vorstellung seines Selbst passte, in der er immer verständnisvoll, großherzig und gerecht war. Ja nahe zu als sanftmütig, romantisch, ehrlich und zuverlässig wollte er sich betrachten. Sein niederes Ich war ihm ein wahrer Feind geworden, den es zu bekämpfen galt. Das hatte mit den Jahen dazu geführt das Helmut verlernte seine Gefühle auszuleben. Er werte viele seiner Empfindungen als charakterliche Schwächen und konnte sie aus genau diesem Grund nicht zulassen. 
All dieses hatte mit den Jahren auch zu seiner Versteifung geführt die er nur als Kunstfigur „Thomas von Edingburgh“ überwinden konnte. Er war sein Tor zur Welt der Emotionen und der Schlüssel zu seinem „reinen Ich“. Als Künstler war er eine wahrlich inspirierende Person. Willensstark, tiefgründig, leidenschaftlich. Alles was er sich als Helmut in seinem echten Leben nicht erlauben konnte, projizierte er in „Thomas von Edingburg“.
Als „Thomas von Edingburgh“ hatte er auch diese faszinierende junge Frau kennen gelernt die sich gestern Abend unter den Gästen der Feierlichkeit befunden hatte. Ein wirklich lebensfrohes junges Geschöpf, das von einem unerschütterlichem Mut beseelt zu sein schien. Glanzvolles langes schwarzes Haar, in Verbindung zu ihren grünen Augen verlieh ihr einen wahrlich mystisches aussehen und rührte Helmuts Herz zu Träumen. Ein warmes Gefühl regte sich in ihm, er begehrte sie und wollte ihr nahe sein. Die junge Frau trug ein äußerst geschmackloses smaragdgrünes Kleid, das mit weißen Perlen bestickt war und außer ihr noch vier weiteren bedauernswerten jungen Damen auferlegt worden war. Doch auch dieses furchtbare Kleidungsstück konnte die Schönheit, die Helmut in ihr erkannte, nicht mindern. 

Er betrachtete sie aus der Ferne und es strahlte der Lebensmut und der Frohsinn der von ihr ausging auf ihn ab. Er fasste sich ein Herz und sprach sie an und die sanfte Stimme mit der sie sein „Hallo“ erwiderte, verhalf ihn über die letzte Stufe seine Erstarrung hinaus zu gehen, und nun war er auch ohne seine Gitarre, eine beeindruckende Persönlichkeit. Es war als verbreite sie irgendeinen Zauber, der Helmut seine Mission, die Welt zu Verbessern vergessen lies. In ihrer Nähe schien alles perfekt zu sein. Sie plauderte in einer Tour vor sich hin und erzählte ihm Abenteuergeschichten, die sie alle selbst erlebt hatte. Plötzlich vergaß Helmut seinen pedantischen Drang, die Worte auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Befreit und glücklich nahm er aufrichtigen Anteil an all ihren Erzählungen. Diese Frau war nahe zu perfekt und selbst eine ausgesprochene Tollpatschigkeit tat dieser Perfektion keinen Abbruch. Mit einem intelligenten Witz täuschte sie geschickt über ein verschüttete Glas Rotwein hinweg, dessen Inhalt eine Tischdecke unbrauchbar gemacht hatte. In einer würdevollen Offenheit und Ehrlichkeit wies sie auf all jene kleinen Unzulänglichkeiten hin, die uns Menschen erst zu echten Menschen machten und Helmut fühlte sich das erste mal in seinem Lebe,n auch außerhalb seiner Auftritte, wie ein mutiger und unbesiegbarer Krieger dessen Unbeugsamkeit außer Frage stand. 
Mit all seinen moralischen Grundsätzen, verwarf er auch seine Überzeugung zur wahren, reinen und unschuldigen Liebe, in der eine Frau sich eine gewissenhafte und reinen Keuschheit bewahren sollte. Er wollte sie haben. Er wollte alles an ihr. Das Feuer das in seinem Herzen aufgeflammt war breitet sich als eine zärtliche Wärme auf seiner Haut aus. Es war als würde ihre Anwesenheit seine Sinne verschärfen und so konnte er ihren süßen nach Vanille und Nelken duftenden Geruch wahrnehmen. Sinnlicher und Anziehender als Blumen ihn versprühen können. 
Er wollte bei ihr sein, sich mit ihr vereinigen und ein Funkeln in ihren tiefen Augen sehen. Sie hatte seinen Instinkt angesprochen und er gab sich alle Mühe sie zu beeindrucken und schließlich gewann er sie. 

Helmuts Hand tastete auf die andere Seite der großen Matratze, seine Hand glitt über das kühle weiße Bettlaken das ein paar Falten warf. Sie war fort. Von einem sehnsüchtigen Bedauern erfüllt setzte sich Helmut auf und blickte sich im Zimmer um. Wie konnte sie nur fort sein? Die tiefe Enttäuschung die in seiner Seele beheimatet war, kehrte in ihr Zuhause zurück und von der vergangene Nacht, blieb nur ein schwacher zauberhafter Geruch übrig der seiner Haut und der Bettwäsche anhaftet. Gramvoll und steif verließ er das Schlafzimmer und begab sich durch die sterile Perfektion seiner Wohnung bis hin ins Bad. Dort schlug sich ebenfalls Helmuts Sinn für Perfektion nieder, die Einrichtung überzeugt durch seine zeitlose Eleganz und macht sein Badezimmer zu einem puren Genuss. Die Schränke waren mit stilvollen Elementen verziert, die Hochglanz-verchromten Griffen, setzten leise Akzente und machten diesen Raum, der wirkte als sei er einem Einrichtungskatalog entnommen worden, zum gemütlichsten Raum in Helmuts Wohnung. Vereinzelt übrig geblieben Wassertropfen in der Duschwanne und ein geöffnetes Fenster deuteten daraufhin, dass sie hier gewesen war. Er hatte tief und traumlos geschlafen, so erholsam wie lange nicht mehr. Ihr fort gehen hatte er nicht einmal bemerkt. 
Helmut betrachtete sein Gesicht im Spiegle und auf der Ablage unterhalb des dreitürigen Schrankes lag ein kleines rosarotes „Post it.“ Sie hatte ihm eine Nachricht hinterlassen. Mit Mittel- und Zeigefinger nahm er das kleine Stück Papier auf. Auf ihm stand:

„Men are admitted into Heaven not because they have curbed & govern’d their Passions or have No Passions, but because they have Cultivated their Understandings“ 

-William Blake.- 

Ein kleiner schwarz-weißer Schmetterling flatterte zu dem geöffneten Fenster hinein, setzte sich für einige Sekunden auf Helmuts Hand, schlug zappelig mit seinen Flügeln startete, nur um sich auf dem großen Badezimmerspiegel erneut niederzulassen.
Helmut, der wie wir wissen einige Einblicke in die metaphysischen Zusammenhänge unserer Welt hatte, verstand die Botschaft. Er musste sie wiederfinden. Was auch immer es ihn kosten sollte, er musste diese Frau finden.


© the cute little dead


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Beschreibung des Autors zu "Unterdrückung ist ein Gesetz für Ochsen und Löwen"

aus Liebe und Verbundenheit für William Blake

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