Es war einmal ein kleiner Junge. Seine Eltern hatten ihn sehr lieb. Und weil Sie ihn so lieb hatten, war ihre größte Angst, er könnte einmal in die Hölle kommen. Seine Eltern waren nämlich streng gläubig, muss man wissen. Daher gingen sie wie selbstverständlich davon aus, dass auf alle Ungläubigen die Hölle wartet. Um aber zu verhindern, dass ihrem kleinen Jungen dasselbe Schicksal ereilt, setzten sie alles daran, ihm die Sache mit dem Glauben so einfach wie möglich zu machen. Zum Beispiel, indem sie einen kleinen Apfelbaum vor das Fenster pflanzen. Obwohl der kleine Junge Äpfel mochte, war es natürlich nicht der Apfelbaum an sich, der ihn an Gott glauben ließ. Aber dennoch hatte es mit dem Apfelbaum etwas Seltsames auf sich. Denn immer, wenn es draußen besonders trocken war, forderte ihn seine Mutter auf, für Regen zu beten. Und tatsächlich fing es direkt nach dem Gebet immer an, direkt vor dem Fenster wie aus Kübeln zu gießen. Nach ungefähr einer halben Minute hatte es sich dann meistens ausgeregnet. Draußen war alles so dürr und trocken wie zuvor. Nur der Apfelbaum, der war jedes Mal pitschnass. Die Mutter erklärte ihm, Gott war es, der es regnen ließ. Und je häufiger er Zeuge dieses einzigartigen Schauspiels wurde, desto stärker wurde sein Glaube. Er freute sich über den Apfelbaum. Er freute sich über den Regen. Und vor allem freute er sich über Gott, der sich um alles so wunderbar zu kümmern schien. Lange Zeit war die Freude des kleinen Jungen ungetrübt. Bis zu diesem unglückseligen Tag irgendwann im Spätsommer. Wieder einmal war es draußen furchtbar trocken. Wieder einmal forderte ihn seine Mutter auf, für Regen zu beten. Und natürlich tat er es auch dieses Mal. Und auch dieses Mal begann es, wie aus Kübeln zu gießen. Auf einmal aber vernahm er aus dem Zimmer oben drüber ein lautes Getöse. Und darauf folgend ein kurzen, fluchartigen Aufschrei. Am Fenster segelte eine Gießkanne vorbei. Und im selben Moment sah er den Vater zu Boden plumpsen. Der Vater brach sich das Bein. Aber das war nicht so schlimm, denn ein gebrochenes Bein wächst wieder zusammen. Viel schlimmer war, dass das kleine Herz des Jungen an diesem Tag zerbrach. Nie wieder wollte er beten. Seine Eltern waren Lügner. Und den Gott, den er bereits in sein Herz geschlossen hatte, den schien es nie gegeben zu haben.

Aus dem kleinen Jungen wurde mit der Zeit ein pubertierender Teenager. Und wie pubertierende Teenager so sind, sind sie dagegen. Er fing an gegen alles und jeden zu rebellieren, aber ganz besonders gegen den Glauben seiner Eltern. Aus lauter Sorge, er könne nun für immer verloren gehen, reagierten die Eltern darauf mit einem gewaltigen „Resozialiationsprogramm“. Von der staatlichen Schule abmelden. An der kirchlichen Schule anmelden. Anmelden zum Konfirmationsunterricht. Anmelden im kirchlichen Posaunenchor. Dort aufgrund von fehlendem Talent wieder abmelden. Stattdessen anmelden bei den christlichen Pfadfindern. Doch so sehr sie sich auch bemühten, ihren Sprössling wieder zurück auf den rechten Pfad zu bringen, blieb jede Maßnahme nahezu wirkungslos. Gott war für den Jungen damals an diesem unglückseligen Spätsommertag gestorben. Und er wurde nicht müde, dies jedermann kundzutun, der es hören oder auch nicht hören wollte.

Der Teenager reifte zu einem jungen Mann heran und war irgendwann froh, sein Elternhaus verlassen zu dürfen. Weit weg zog er. So, als wolle er in der Ferne Zuflucht vor der fürsorglichen Obhut seiner Eltern finden. Er schrieb sich an der Universität für Meteorologie ein und begann, sein Leben zu leben. Semester um Semester ergötzte er sich an dem glückseligen Rhythmus von Studieren, Arbeiten und Feiern. Die Zeit verflog und ehe er sich versah, befand er sich schon mitten in den Abschlussprüfungen. Statt zu feiern verbrachte er nun nahezu jeden Abend alleine am Schreibtisch. Und wie er an einem Abend so dasaß und dem Regen lauschte, der leise auf das Dachfenster prasselte, da wurde er auf einmal ganz nachdenklich. Keine Gießkanne am Himmel, dachte er. Und dennoch, was für ein Wunder, dass es regnet. Regen. Wasser, das aus dem Meer zum Himmel aufsteigt, um vom Wind Richtung Festland geblasen zu werden, wo es als Niederschlag die Erde bewässert. „Wer hat sich das ausgedacht?“, fragte er sich insgeheim, selbst davon überrascht, sich solch eine Frage zu stellen. Eine Antwort hatte er nicht. Jedenfalls nicht im Kopf. Aber ein wohliges Gefühl stieg in ihm hoch, das er aus Kindertagen kannte. Er ging zum Wasserhahn, um sein Glas aufzufüllen. „Irgendwie regnet es auch für mich“, dachte er, während er zusah, wie das Wasser ins Glas plätscherte.

Weitere Monate vergingen und der junge Mann hatte sein Diplom. Die erste Bewerbung war auch direkt erfolgreich. Ein großer Nachrichtensender zitierte ihn zum Vorstellungsgespräch. Also setzte er sich ins Auto und fuhr seiner vielversprechenden Zukunft entgehen. Es begann leicht zu regnen. Der Regen wurde stärker. Der Regen wurde so stark, dass er nichts mehr sehen konnte. Fluchend brachte er den Wagen am Seitenstreifen zum Stehen. Er war spät dran. Aber das war dem Regen egal. Aus Angst, er könne sein Vorstellungsgespräch verpassen, tat er nun etwas, das er seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte. Er fing an zu beten. „Gott, wenn es dich gibt, dann mach bitte, dass der Regen aufhört!“ Der Regen wurde noch stärker. Minuten verstrichen, jede einzelne so lang, wie die Ewigkeit. Als der Mann sich bereits sicher war, dass er auf jeden Fall zu spät kommen würde, ließ der Regen langsam nach. Er wollte gerade los fahren, da passierte vor ihm Schreckliches. Ein Kind wollte die Straße überqueren. Vielleicht hatte es nicht richtig geguckt, vielleicht war auch der Fahrer des herannahenden Autos für einen kleinen Moment unachtsam. Auf jeden Fall gab es einen lauten Knall. Gefolgt von einem markerschütternden Schrei. Eine Sekunde brauchte der junge Mann, um zu realisieren, was da gerade vor ihm passiert war. Dann zog er blitzschnell sein Handy und wählte den Notruf. Im nächsten Augenblick war er bereits auf dem Weg zum Jungen. Seine Knie fingen an zu schlottern, als er diesen ohnmächtig in seinem eigenen Blut liegen sah. Trotzdem war er gezwungen zu handeln. „Gott, lass ihn nicht sterben!“ Er kniete sich zu dem Jungen herunter, fühlte seinen Puls, der kaum noch vorhanden war. Panik ergriff ihn. Wo blieb eigentlich der Krankenwagen? Wild entschlossen, den Jungen irgendwie am Leben zu halten, versuchte er es mit Mund zu Mund Beatmung und Herzmassage. Dann endlich hörte er hinter sich den erlösenden Klang der Sirene. Die Männer vom Rettungsdienst eilten heran. Einer fragte ihn, ob er den Krankenwagen gerufen hätte. Die anderen kümmerten sich um den Jungen. Der junge Mann wurde etwas zur Seite gedrängt. Von dort beobachtete er, wie sie dem Jungen Schläuche anlegten und ihn in den Krankenwagen schoben. Dann jagte der Krankenwagen auch schon mit Blaulicht davon. Nur der Notarzt war jetzt noch mit ihm an der Unfallstelle. „Der Junge wird überleben“, rief dieser ihm zu. Und noch etwas rief er: „Sie, lieber Freund, Sie hat der Himmel geschickt!“


© Benni


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Beschreibung des Autors zu "Der Regenmacher"

Warum regnet es? Bescheurte Frage! Damit Leben wachsen kann.

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