Von ihren Besitzern vergessen stand sie einsam in einem Winkel des Zimmers und wartete darauf, dass jemand sie entzündete. Heller strahlen als alle Kerzen auf der Welt wollte sie und Wärme spenden allen frierenden Herzen, doch seit langem wurde sie von ihrem Besitzer nicht mehr beachtet.

„Es ist zu gefährlich, eine Kerze anzuzünden“, hatte sie einen seiner Gäste einst reden gehört, „was ist, wenn dir das ganze Haus abfackelt?“
Bis heute verstand die Kerze seine Worte nicht. Hatte sie ihrem Hausherrn denn jemals Anlass zur solch einer Befürchtung gegeben? Sich nicht stets vielmehr darum gemüht, ihm zu gefallen, als sie von der Mitte seines Tisches aus ihr Licht in die Dunkelheit strahlen durfte? Niemals hatte sie es gewagt, an so etwas auch nur zu denken. Wozu hätte sie ihm denn auch schaden sollen? Dankbar war sie ihm jedes Mal gewesen, wenn er ihrem Dasein einen Sinn verliehen hatte, doch nun, nun stand sie einfach nur herum und fühlte sie genauso überflüssig wie der Staub, der sich langsam an sie heftete.

Ein Tag folgte dem anderen und einer Nacht der nächsten. Waren es Wochen, Monate oder gar Jahre, wie viel Zeit verfloss, wusste die Kerze nicht. Immerhin war sie ja nur eine Kerze. Nichtsdestotrotz erschien es ihr wie eine Ewigkeit, bis ihr Besitzer in seinem hohen Alter dahinschied und sie in neue Hände gelangte.

„Schaff mir dieses hässliche Ding aus dem Haus!“, befahl ihre Erbin, eine hochnäsige Dame von reicher Herkunft, ihrem Diener, als sie sie erblickte. Panik ergriff die kleine Kerze. Was hatte sie nur getan? Was falsch gemacht, dass sie dermaßen von der Dame, die sie noch nicht einmal kannte, verachtet wurde? In Traurigkeit zerfließen begann die kleine Kerze in den Handschuhen des Dieners, der sie aus dem Zimmer brachte; wie Tränen tropfte ihr Wachs auf die Erde.

„Hab keine Angst, es wird dir nichts geschehen“, flüsterte die Stimme des Dieners im Wind ihr zu.
„Geduldig hast du gewartet und die Hoffnung nie aufgeben. Dafür sollst du nun belohnt werden.“

Auf und ab hüpfte die Kerze neben dem Diener, der sie auf seiner Kutsche über einen steinigen Pfad führte. Wie staunte sie über den Himmel, die Wolken, die Bäume, die Blumen, die Welt. Nie zuvor hatte sie die wunderbare Schöpfung zu Gesicht bekommen. Nie zuvor die Luft der Freiheit geatmet.

„Wo sind wir, Diener? Wo bringst du mich hin?“
„Zu deinem Freund. Er hat mich gebeten, dich wieder zu ihm zurückzubringen.“

Fröhlich spielten die Blätter des Herbstes im Wind und tanzten im Klang seiner Flöte. Vögel zwitscherten in ihrem Freudentaumel Lieder aus längst vergangenen Zeiten und auf leeren Wiesen trafen sich Geister, um gemeinsam Kaffee und Tee zu trinken. Von Leben quoll jener Ort über, der von vielen Menschen als der schrecklichste Ort betrachtet wurde. Lebendiger als manch ein Lebender erschienen hier deren Bewohner.

„Der Schleier, der auf unseren Augen lag, ist nun gefallen!“, jubelten die Heimgekehrten und staunten über das ihnen offenbar Gewordene. Freunde und Familien wurden wieder vereint und feierten gemeinsam Feste; manch ein Geist begleitete seine Besucher auf einen Spaziergang. Was allen einst verheißen war, wurde hier den Neuankömmlingen zur Realität. Groß war die Verwunderung bei jenen, die an der Erfüllung des Versprechens gezweifelt hatten.

„Sei mir gegrüßt! Wie freut es mich, dich kennenzulernen!“
Aufhorchten die Geister bei diesen Worten und ebenso die kleine Kerze. Ein Kennenlernen zwischen einem Bewohner und einem Gast. Ein Ereignis, das jedem Verstand unbegreiflich war, wie der Diener der kleinen Kerze verriet. Doch nichts war unmöglich dem, der an das Unmögliche glaubte. Eine neu entstehende Freundschaft, eine Freundschaft über alle Grenzen hinweg. Nähe durch Liebe ermächtigt.

Blumen streckten neugierig ihre Köpfe nach dem Diener und der kleinen Kerze aus und warten, von ihnen bestaunt zu werden. Zum Dank betörten sie sie mit ihrem himmlischen Duft.

„Hier ist mein Zuhause?“ Kaum konnte die kleine Kerze es glauben. Weit übertraf die Schönheit dieses Ortes das Zimmer, das ihr, seit sie denken hatte können, als ihr Zuhause gedient hatte. Weit übertraf er all ihre Vorstellungen, die sie sich je von der Welt gemacht hatte.
„Ja!“, lachte der Diener und hielt an einem der vielen Gräber, die den Verstorbenen als letzte Ruhestätte dienten. „Sieh mal, wer da ist.“
Neugierig wandte sich die Kerze zur Seite und erstarrte in ihrer Überraschung. Es war ihr Vorbesitzer! In die Gegenwart der Geister eingekehrt stand er neben der Kutsche und strahlte vor Freude. Niemals hätte die kleine Kerze damit gerechnet, ihn je wiederzusehen.
„Vergib mir, kleine Kerze! Vergib mir, dass ich dich nie genug zu schätzen gewusst habe! Von jetzt an soll es anders sein.“
Behutsam nahm der Hausherr die kleine Kerze in seinen Arm und die kleine Kerze schmiegte sich an seine Brust. Nichts gab es zu vergeben, nichts zu verzeihen. Vergessen war der Kummer der Einsamkeit in der Geborgenheit ihres Besitzers.

Lichter begannen an den Betten der Geister zu leuchten, als die Sonne sich zu ihrem wohlverdienten Schlafe niedersank und ihr Bruder der Mond seinen Dienst antrat. Lichter, die wie kleine Sterne an dem dunkel gewordenen Himmelszelt eifrig funkelten und den Geistern Wärme spendeten. Jene Wärme, welche ihre Besucher in ihren Herzen getragen hatten, als sie aus Liebe die Kerzen für sie entzündeten.

Auch leuchtete die kleine Kerze mit ihnen; leuchtete im Schoße ihres Hausherrn in ihrer Begeisterung heller als alle anderen Kerzen zusammen. Wie sie es sich stets gewünscht hatte, bekam ihr Dasein nun wieder einen Sinn. In Liebe brannte sie und erfüllte dadurch ihren Zweck.

Still wurde es an dem besonderen Ort; still wurden die Blätter, still der Wind. Still wurden auch die Vögel und die Geister. Im Schutze der Nacht genossen sie ihre Ruhe und bargen sich gemeinsam mit der kleinen Kerze und ihrem Besitzer in die ihres Schöpfers ewige Zärtlichkeit.


© Nikola Ristić


2 Lesern gefällt dieser Text.




Beschreibung des Autors zu "Die kleine Kerze"

Erschienen in Buchform in:

https://www.epubli.com/?s=Lichtreiche+Schatten

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Die kleine Kerze"

Re: Die kleine Kerze

Autor: Angélique Duvier   Datum: 15.10.2023 13:41 Uhr

Kommentar: Liebe Nikola,

Deine Geschichte gefällt mir. Möge Das Licht der Kerze noch lange strahlen!

L.G.

Angélique

Kommentar schreiben zu "Die kleine Kerze"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.