Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

© Alf Glocker

67. Schritt

Achtung – weg! Wer oder was ist weg? Das Ziel oder der Weg? Der Tag ist weg! Oder bin ich etwa einen Schritt weiter gekommen? Man könnte es einfach mal so formulieren: „Ja!“

Wieso? Weil ich erkannt habe, daß ich mich gar nicht auf dem Weg in den Wahnsinn befinde? Nicht einmal in 365 Schritten… Nein! Der Wahnsinn befindet sich auf dem Weg zu mir.

Wozu versuche ich also herauszufinden wie ich verrückt werde? Die Verrücktheiten passieren mir einfach, weil sie an jeder Ecke lauern. So ist es! Daß sich daran nichts ändern lässt muss ich mir eingestehen.
Wenn „nötig“, wenn unnötig, wenn es sein muss – und es muss offensichtlich immer sein –, dann begehe ich einen Fauxpas, ob ich will oder nicht.

Die Konstellationen der Personen und Situationen, auf die ich treffe, erfordern dies geradezu. Überall wird anscheinend ein Idiot gebraucht, der etwas komplett verkehrt machen kann. Warum sollte das nicht ich sein?! Und warum sollte das nicht grundsätzlich ich sein?!

Schließlich kommt mir ohnehin schon alles komisch vor, wohin ich auch gehe! Ergo bin natürlich ich derjenige, der an den falschen Stellen Witze macht – wer sonst?! Ich kann mich ja auch nicht zurückhalten, so sehr ich es möchte.

Wie verhext setze ich die kumpelhafte Mitverschworenheit bestimmter Beteiligter voraus um dann, gekonnt blöde, etwas Hirnrissiges zu äußern, das eben überhaupt nicht den üblichen Gepflogenheiten entspricht.

Aber nicht etwa, daß ich dies dann einigermaßen elegant, eventuell witzig anbringe, nein, ich ziehe die unterste Schublade heraus, damit ich mich auch wirklich voll in die Nesseln setzen kann. Das ist wie ein Zwang!

Während der „Tat“ glaube ich sogar noch, jetzt sehr originell zu sein. Sekunden später spüre ich ihn dann schon: diesen eigenartigen Druck auf der Seele, der mir unmissverständlich sagt, was ich gerade wieder für ein ausgesuchter Esel gewesen bin.

Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich mich bereits „profiliert“, mir einen Namen gemacht, respektive denselben aufs Neue eindrucksvoll bestätigt.

Daß ich derlei Geschehnisse nicht verhindern kann, gibt mir zu denken! Vermutlich ist dafür irgendein Kobold in meinem Dummkopf schuld, der mir von innen her ins Ohr flüstert: „Du darfst jetzt auf keinen Fall gut aussehen, sonst hält man am Ende noch was von dir! Vorsicht, du könntest Karriere machen, wenn du schlau bist. Das wollen wir doch nicht – oder?“

Und gleich darauf ist es dann passiert. Ich habe mich bis über beide Ohren blamiert. Nicht, weil ich durchschnittlich fad gewesen bin (wie die meisten anderen, solange sie leben), nein, sondern weil mir in einem kritischen Augenblick etwas absolut Hirnrissiges eingefallen ist, das man unter keinen Umständen, in eben dieser Situation sagen durfte! Und genau das habe ich dann gesagt! Schön – nichtwahr?

Nun, so bin ich eben: genial im Ins-Fettnäpfchen-treten, ein Virtuose im Vor-mich-hin-Spinnen, ein Esel auf dem Eis! Das ist ein Zeichen, daß es mir praktisch andauernd zu wohl ist. Wie anders sollte man es sonst deuten?

Ich behaupte deshalb ganz einfach, daß die Verrücktheiten auf mich zukommen und ich keinen einzigen Schritt in Richtung Wahnsinn selbst zu tun brauche. Da bin ich doch eigentlich zu beglückwünschen! Wer könnte das denn noch von sich behaupten?! Dumm ist nur die, den offenbar lebenslangen Vorgang begleitende Angst…


68. Schritt

Der Tag ist hell, der Tag ist grau, ich geh‘ ihn an und weiß genau, er wird mich wieder überraschen. Das Schicksal füllt die Hamstertaschen! So beginnt der Spießrutenlauf…

Die ersten Hürden, wie Duschen und Frühstück habe ich bereits unheilsfrei gemeistert, doch nun gilt es die Strecke bis zum Zubettgehen ebenfalls geschickt zurückzulegen.

Bevor ich das Haus verlasse, sondiere ich die Gegend. Ist wer zu sehen, bei dem ich mich unsterblich blamieren könnte? Dann schnell aus dem Haus und sich verlieren in der Weite der anonymen Stadt!

Hier, in der nächsten Umgebung könnte ich noch Menschen treffen, die mich – unvorbereiteterweise – etwas fragen könnten, was ich nur ungenügend, oder derart verschmitzt beantworten würde, daß es einem schweren gesellschaftlichen Fehler gleichkäme. Also weg!

Klar, im Trubel der Altstadt, wo ich ein Atelier habe, bin ich auch nicht in völliger Sicherheit, aber ich werde aufpassen! Notfalls kann ich die Straßenseite wechseln, oder nach oben gucken und ein Liedchen pfeifen, um jemandem dezent aus dem Weg zu gehen.

Zugegeben: dabei könnte ich aus Versehen unachtsam eine dieser unmöglichen Fahrbahnen betreten, einen Autofahrer zum Ausweichen veranlassen, wobei vielleicht meinetwegen ein Chaos entstünde. Oder aber ein Autofahrer müsste scharf bremsen, was eventuell einen Auffahrunfall oder gar eine Massenkarambolage zur Folge hätte. Eine weitere Möglichkeit wäre noch, daß ich aus Versehen – hochkonzentriert mit der Umgehung von zu befürchtenden Schwierigkeiten beschäftigt – bei Rot eine Fußgänger-Ampel missachte und von einem Polizisten zurückgepfiffen werde…

Während der dann meine Personalien aufnimmt, kommt natürlich der ominöse Bekannte, dem ich auszuweichen versucht habe heran, um mich zu begrüßen. „Zu peinlich!“ Kann ich da nur sagen.

Als dies alles zu meinem Glück ausnahmsweise einmal nicht eingetreten ist und ich das Ateliergebäude erreicht habe, stehe ich vor dem nächsten Problem: mein Ateliernachbar rechts leidet unter Verfolgungswahn! Und er bezichtigt den Nachbarn links, einen sensiblen Musiker, daß er ihn abhöre um die Informationen an den CIA weiter zu geben.

Es muss mir also gelingen beiden auszuweichen, da sich sonst der eine über den andern bei mir beklagt. Dazu habe ich keine Lust! Außerdem würde ich ganz bestimmt eine witzig sein sollende Bemerkung machen, die dann alle Beteiligten noch viel mehr verwirrt als sie es ohnehin schon sind.

Endlich am geographischen Bestimmungsort meines Körpers „Atelier“ angelangt, fällt mir siedend heiß ein, warum ich überhaupt her gekommen bin: jemand will meine Bilder ansehen und vielleicht eines davon käuflich erwerben.

Panik bricht aus! Das ist das Schlimmste überhaupt! Was soll ich denn sagen ohne skurril und weltfremd zu wirken? Bin ich nun redegewandt oder nicht? Jain! Redegewandt im herkömmlichen Sinne von Smal-Talk-redegewandt bin ich absolut nicht, ich bin nur sehr geschickt darin Formulierungen zu entwerfen, die mich spitzfindig und gleichzeitig idiotisch aussehen lassen. Das widerspricht sich ja nicht!

Als die Leute eintreffen stellt sich heraus wie unnötig meine Befürchtungen waren: ich lasse mich in ein Gespräch verwickeln, in dessen Verlauf ich unglaublich zutraulich werde! Nach dem mir der weibliche Part des Paares erklärt hat wie toll die Farben des Werkes seien, für das sie sich interessieren, will der Mann wissen was denn für ein Sinn dahinter stecke, denn das Bild sähe so aus, als gäbe es einen.

Sofort fühle ich mich verstanden! Ich philosophiere ungefähr eine halbe Stunde lang, frei von der Leber weg vor mich hin und bemerke dabei nicht, wie sich die Gesichter meiner Gäste aus einem strahlenden Etwas in den Ausdruck der Furcht verdunkeln. Einwände wie „ja?“ oder „aber“ überhöre ich solange geflissentlich, bis sie plötzlich nicht mehr da sind. Irgendwann zwischen meiner 1. Und 3. Begeisterung müssen sie das Atelier wieder verlassen haben.

Noch tief in Gedanken versunken, die ich selbstverständlich sofort aufschreiben musste, gehe ich die Treppen hinunter in den großen historischen Innenhof den Gebäudes. Irgendwie habe ich auch nicht mehr aufgepasst, denn vor dem Gemüseladen dort, steht plötzlich eine alte Bekannte vor mir, die schöne Gabi!

Vor ewigen Zeiten (ca.10 Jahre) durfte ich sie einmal nackt malen. Treffen wollte ich sie jetzt eigentlich nicht, denn soweit ich weiß war sie früher immer sehr frech und konnte mich leicht in Verlegenheit bringen.

Doch es ist zu spät! „Hallo A.“ tönt sie fröhlich. Alle Leute blicken auf.
Ich, immer noch halb in Grübeleien verstrickt, blicke ebenfalls auf. „Hallo Gabi“, sage ich erstaunt. Dann fällt mir plötzlich ein, daß ich noch ein Gemälde von ihr herumstehen habe, das ich ihr einmal schenken wollte. Wieder formuliere ich, etwas ungeschickt was mir durch den Kopf geht.

„Ach, komm doch mal kurz mit hoch“ sage ich unverblümt, „ich möchte dir etwas zeigen“. Gabi grinst mich von einem Ohr zum anderen entwaffnend an, dann kontert sie: „Mein lieber A., was denkst du dir? Ich bin verheiratet und habe Kinder!“

Die Umstehenden horchen interessiert auf! Ich muss hier raus! Dringend! So werfe ich nur noch ein unqualifiziertes „Achwas?!“ in die Runde und mache mich eiligst vom Acker.

Der Heimweg gestaltet sich dann wieder wie der Hinweg. Ich passe teuflisch auf keinem mehr zu begegnen. Dafür reichen meine Kräfte einfach nicht mehr – und endlich bin ich zuhause. Nach ein paar Arbeitseinheiten ist es dann auch schon wieder Abend. Ich bin froh diesen Tag einigermaßen schadlos überlebt zu haben, frage mich allerdings schon warum ich mich, warum sich mein Mensch, mit dem ich manchmal nur bedingt etwas zu tun haben möchte, dermaßen dämlich verhalten hat.


© Alf Glocker


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Beschreibung des Autors zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten"

Bild: Acryl auf Karton /digital verändert

Titel: Die Apotheose des Trinuit

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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Autor: axel c. englert   Datum: 05.03.2015 17:57 Uhr

Kommentar: Nach wie vor höchst interessant!
Der Wahnsinn hält uns fest gebannt...

LG Axel

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