Vor dem Himmlischen Heerscharengericht   (Ein absurdes Schauspiel in 3 Akten)

© Alf Glocker

1. Akt, 1. Szene


Überall nur Rauch! Der Rauch lichtet sich und ein Mann wird hereingeführt. Er glotzt verwundert um sich. Was er erblickt ist ein Gerichtssaal aus Wolken. Auf einer großen weißen Wolke vor ihm sitzt der Richter – offenbar irgendein Heiliger, oder mehr. Rechts neben ihm der oberste Staats- also Himmelsanwalt, auf einer kleineren, grauen Wolke. Links, auf einer winzigen schwarzen Wolke (kniend), der Verteidiger. Es handelt sich um einen Pflichtverteidiger, wie man dem Mann sagt, denn der Mann hat keine Pluspunkte vorzuweisen, mit denen er sich einen Star- sprich „5-Sterneanwalt“ hätte leisten können. No Coins, no Luck!

Der Himmelsanwalt fragt die beiden Engelspolizisten (Engeliszisten), die den Mann im Schwitzkasten hereinführen: „Was habt ihr denn da für ein verkommenes Subjekt angeschleppt. Die beiden Beamten antworten – aufgeregt mit den Flügeln schlagend – „Er ist einfach zu auffällig geworden, man hat zu sehr unter ihm gelitten, da haben wir ihn ent-abgeführt! Auf Erden würde man „Himmlische Gerechtigkeit“ dazu sagen.“

„Recht so! Name??“ donnert der Richter, von seiner Wolke herab. „Egon Ekel, Egon von Egoist kommend“ flüstert der Angeklagte, wahrheitsgemäß.

„Himmelsanwalt: „Das hätten sie nicht besonders zu erwähnen brauchen. Davon gehen wir aus!“

Richter: „Was sind seine Vergehen?“

Ein kleiner buckliger Gerichtsdiener kommt mit einem Bündel Akten unterm Arm herein, die er an den Himmelsanwalt übergibt. Der Gerichtsdiener ist nackt, rot gefärbt, hat einen Pferdefuß, Hörner auf dem Kopf und einen langen, dünnen Schwanz. „Hier, euer Ehrwürden!“

Mit ungeheuer erhabener Miene schlägt der Himmelsanwalt die erste Akte auf. Er knirscht hörbar mit den Zähnen. Dann sagt er sehr ernst: „Anscheinend haben sie schon im zarten Kindesalter gegen alle Regeln verstoßen! Ihre Eltern konnten sie einfach nicht richtig bändigen und erziehen. Sie haben sich willentlich selbständig gemacht, als sie zu denken anfingen – wenn man das überhaupt Denken nennen kann was sie taten, denn an ihre Eltern haben sie ja wohl nicht gedacht! Entspricht das den Tatsachen?“

Der Mann nickt: „Ja“.

Warum haben sie sich denn nicht gefügt, als man es von ihnen verlangt hat? Sie haben ja nicht nur die Eltern und das ältere Geschwister enttäuscht, sondern auch Lehrer und ranghöhere Freunde! Haben sie diese Personen denn gebührend geachtet?“

„Ja“.

„Aha“ wirft der Richter ein, „das ist aber eine dubiose Geschichte! Was trieb sie denn von Anfang an dazu, nur auf sich selbst zu hören und alle Aufträge, sowie die dadurch erreichbaren Zertifikate in den Wind zu schlagen? Sagen sie bloß nicht, es wären `Die inneren Stimmen` gewesen!“ Oder war es doch so?“

„Ja“.

Der Himmelsanwalt wird auf seiner grauen Wolke ganz unruhig: „Es ist doch offensichtlich, daß wir es hier mit einem böswilligen Arschloch zu tun haben, das einfach nie zwischen echten und unechten Aufgaben unterscheiden konnte!“

Das ist dem Pflichtverteidiger dann aber doch einen Tick zu hoch gegriffen. „Ein Spruch“ meldet er sich zu Wort. „`Arschloch` lasse ich noch gelten, bei `böswillig` muss ich zu bedenken geben, daß ich den Angeklagten für viel zu blöde halte, einen Sachverhalt genauestens überdenken zu können!“

Der Richter nickt weise. „Was sagen sie dazu Herr…dings?“

„Ja“.

Das bringt den Himmelsanwalt völlig auf die Palme: „Ich will nicht glauben, daß es diesem Subjekt gelingen kann, jetzt auch noch das allerhöchste Weltgericht der Himmlischen Herrscharen zu täuschen, wo ihm doch bereits der Betrug an allen Menschen, mit denen er bisher zu tun hatte, anzulasten ist. Sie müssten sich doch längst furchtbar geschämt haben, sie egoistisches Dings, sie!“

„Ja“.

„Dann schleudere ich ihnen mitten ins Gesicht, daß ich sie für unverschämt genug halte, sich in dieser Situation auch noch eine Partnerin zu wünschen, mit deren Hilfe sie sich von ihren eingebildeten Sorgen ablenken wollten! Ich hoffe ihre Eltern haben alles unternommen dies, mit vereinten Kräften zu verhindern! Ist das so gewesen?“

„Ja“.

„Und sie haben sich nichts dabei gedacht? Sie haben sich nicht überlegt, warum sich – aus ihrer Sicht – die ganze Welt gegen sie verschworen hatte. Sie haben, allen zuverlässigen Informationen ihren sogenannten Weg weiter verfolgt, so, als sei ihre Art zu Denken ein Geschenk, eine `Gottesgabe`?“

„Ja“.

„Es tut mir Leid, höchstes Gericht – müssen wir uns die unerträgliche Selbstdarstellung dieses Marodeurs überhaupt noch länger anhören? Können wir ihn nicht einfach verurteilen? Es ist doch jedem längst klar, worauf das hinausläuft! Der Pflichtverteidiger wird wegen Unzurechnungsfähigkeit auf Mildernde Umstände plädieren! Und wir sollen uns wieder einmal breitschlagen und Gnade vor Recht ergehen lassen? Das kann es doch nicht sein! Damit kommt der Himmelsanwalt zu einem vorläufigen Ende seines Eingangsplädoyers“.

Aber der weise alleroberste Richter des allerobersten Gerichts der Himmlischen Heerscharen bleibt ruhig, wenn auch nicht unbedingt gelassen: „Wir müssen einen gewissen Rahmen, einen Gewissensrahmen einhalten“. Gibt er zu bedenken. Die Aussagen der Sachverständigen stehen noch aus und auch die Gutachter, der vom Angeklagten verursachten Schäden wurden noch nicht gehört. Das Strafmaß kann also noch nicht festgelegt werden“.

Der Angeklagte, der inzwischen auf eine gefühlte Gesamtgröße von 30 cm zusammengesunken ist, blickt schuldbewusst nach oben, wo sich, in der Stratosphäre etwas sehr Ungewöhnliches ereignet: ein Gewitter! Der Egoist erschrickt fast zu Tode, denn hierbei kann es sich nur um die alleroberhöchsten Zeichen über dem allerhöchsten Himmlischen Herrscharen-Gericht handelt. Zeichen, die höchstwahrscheinlich untrüglich auf eine strenge Verurteilung hinweisen!

Wenn ihn jetzt noch etwas retten könnte, dann wäre es ein psychologisches Gutachten für eine latente Möglichkeit bei ihm, sich sofort nachhaltig und ehrlich ändern zu können. Aber das schließt selbst Egon Egoist schlichtweg aus! Er traut sich einfach nicht zu, jetzt noch, im vorgerückten Alter, ein anderer werden zu können, als der er ist!

Der höchstrichterliche Hammer unterbricht jedoch für heute das Verfahren: „Zur näheren Darstellung der Beweislage wird das Verfahren auf morgen vertagt!“


Die 2. Szene des 1. Aktes spielt sich in der Zelle des Angeklagten – einem dunklen Gewissensverlies, wo er mit einem imaginären Dämon ringt, der ihn für den Teufel hält – ab und ist daher nicht weiter erwähnenswert!

Zum besseren Verständnis, hier noch ein kurzer Auszug aus dem dramatischen Disput in der Zelle… Dämon tritt auf „Du Schwein!“ Angeklagter. „Hilfe!“. Dämon: „So ändere dich doch endlich komplett!“
Angeklagter: „Wie denn? Ich kann nicht!“ Dämon: „Unhold, wertloses Stück Scheiße!“ „Hilfe! – Du Nichts, du unendlich unwürdiger Abschaum – Hilfe – Wehr dich nicht, diene! – Hilfe!“Usw. usw.


2. Akt, 1. Szene


Aurora erwacht hinter dem Horizont und färbt die Wolken von unten gülden. Unten auf der Erde beginnen die Vöglein, die „Er“ dennoch ernährt, zu zwitschern an und die Sonne beginnt zu lachen – so laut, daß allen ganz warm ums Herz wird. Allen, außer dem bereits so gut wie Verurteilten in seiner dunklen Gewissenzelle, die auch dann noch dunkel bleibt, als sich die übrige Welt schon überschwänglich darüber freut, wieder geweckt worden zu sein.

Der Gerichtsdiener kommt vorbei und bringt einen Teller, dessen Rand die Aufschrift „Eine milde Gabe“ trägt, mit Essen herein. „Verdient hast du es dir nicht“, murmelt er in sein Spitzbärtchen, aber davon hattest du ja noch nie eine Ahnung, du Drecksau“!

Scheinbar unbeeindruckt, schaufelt der Delinquent in Spe die wertvollen Speisen in sich hinein, denn sein Wahlspruch ist und war es zu jeder Zeit, sich rücksichtslos zu erhalten. „Das tägliche Essen ist nur ein Hinauszögern des Todes!“. Doch genau darauf kam es ihm immer an, auf dieses Hinauszögern, denn da gab es noch einiges, was es zu erleben galt. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt – auch bei Verbrechern!

Am späten Vormittag wird er wieder dem Allerhöchsten Himmlischen Heerscharengericht zugeführt, um vor der Vorverurteilung noch einmal gründlich be-urteilt zu werden. Das ist ihm klar, das macht ihm etwas aus, aber so ist die Welt, sagt er sich, und weiter „Ich bin nicht Gott, ich weiß zwar nicht was ich tue, aber ich handle weil ich es muss, nach dem schlechtesten Gewissen, was zugleich nichts anderes, als mein bestes Wissen ist“.

Der Angeklagte wird in das Gerichtsareal geführt. „Name!“ donnert der Richter, von seiner großen, weißen Wolke herab. „Uwe Unhold“, flüstert der Angeklagte wahrheitsgemäß.

Sofort macht der Himmelsanwalt einen Sprung – beinahe wäre er von seiner grauen Wolke gefallen – und ruft: „Schizophren! Der Unmensch ist schizophren! Oder will er uns jetzt, im Beisein unserer Fachleute weismachen, daß er durchgeknallt, anstatt falsch und hinterlistig ist, wie ich, in aller Unbescheidenheit glaube?“

„Lassen wir doch erst einmal unsere Spezialisten zu Wort kommen“, jammert der Pflichtverteidiger, dem bei der Sache nicht ganz wohl ist, denn was soll schon groß herauskommen?! Das Individuum wurde schließlich jahrzehntelang beobachtet, bevor man sich entschloss es aus dem Verkehr zu ziehen – und dies im wahrsten Sinne des Wortes „Verkehr“.

Ein flügelloser Himmelsspion schwebt, durch eine Nebeltüre in das Areal. Er lächelt zynisch, die Sonne scheint ihm mitten ins Gesicht, was ihm, durch etwas verbliebenen Rauch aus dem Nebel einen leuchtenden Heiligenschein verleiht. „Ich kann hinreichend Auskunft geben“ verkündet er froh.

„Erzählen sie uns, wie es dem Angeklagten gelungen ist ein solch gerüttelt Maß an Schuld anzuhäufen, dem es vergönnt ist, uns immer wieder in Erstaunen zu versetzen!“ brüllt der Himmelsanwalt ungeduldig,
denn seinem Dafürhalten nach ist der ganze Prozess ohnehin überflüssig. Er möchte schleunigst nach Hause zu seinen süßen Engelchen, die ihm so viel Freude machen, daß er darüber manchmal sogar das Leid der Welt vergisst.

„Wir beobachten die Zielperson schon länger, da wir durch Turbulenzen in seiner Umgebung auf ihn aufmerksam wurden“, berichtet der bezahlte Spitzel, wobei er hörbar mit dem Scheck über die letzten 30 Silberlinge in seiner Hosentasche raschelt. An ein unschuldiges Mädchen hat er sich herangemacht, und zwar aus niederen Beweggründen: er wollte auch einmal Sex erleben, der Spätzünder, Rohrkrepierer, oder wie wir ihn nennen mögen. Von Liebe hatte er keine Ahnung“.

Der Pflichtverteidiger rutscht unruhig auf seiner schwarzen Wolke herum. Das ist ein durchschlagendes Argument, dieses Nichtvorhandensein von Liebe, ob nun aus Unwissenheit, oder aus Niedertracht, das spielt keine Rolle. Das konnte nur noch ins Auge gehen. Und als der Richter fragt „Angeklagter, entspricht das den Tatsachen?“, da nickt dieser Trottel auch noch:

„Ja“.

„Wie ging es weiter?“ will der Heilige Vorsitzende, der Allerheiligste oder mehr, des Gerichts der Himmlischen Heerscharen nun wissen.

„Ganz einfach“, erläutert der Spion. „Wir haben uns ja unter seine Freunde gemischt, um, als V-Männer Genaueres zu erfahren. Deshalb wissen wir auch sogar aus seinem eigenen Munde, daß ihm die sich nun anbahnende Entwicklung Spaß gemacht hat. Die ganz natürlichen Reaktionen einer jungen Frau, ihn auf eine künftige Vaterrolle vorzubereiten, hat er geflissentlich ignoriert, nur weil die intime Wollust, die er, wie er sagte, lange vermissen musste, ihn nun über die alltäglichen Ereignisse in der Arbeitswelt hinwegtrösten sollte, zu erleben“.

Der Richter: „Stimmt das?“

„Ja“.

„Sie glauben also, sie hätten einen Trost für ihr Engagement auf Arbeit verdient, in einem Bereich, der anderen Sterblichen höchste Freuden bereitet, weil sie wissen, daß sie damit die Erhaltung ihrer Art finanzieren können?“

„Ja“.

„Es ist unglaublich! Wie lange wollen wir uns das eigentlich noch bieten lassen? Ich halte das für eine Verhöhnung des Himmlischsten aller Allerhöchsten Heerscharengerichte! Kann man dem denn nicht Einhalt gebieten, hier, in den Gebieten der, von Höchster Stelle verordneten Seligkeit?“ Der Himmelsanwalt trampelt mit hochrotem Kopf auf seiner grauen Wolke herum. Seine Robe, die einer Soutane gleicht ist bereits so sehr durchgeschwitzt, daß sich sogar die nun herein schwebenden Psychiatrischen Gutachter ernste Sorgen machen. Eine von 73 Jungfrauen aus dem Nachbarhimmel eilt herbei und tupft ihm, hingebungsvoll rührend, mit ihrem Keuschheitstüchlein den Schweiß von der Stirn.

Der Pflichtverteidiger fühlt sich aufgerufen, auch etwas dazu sagen: „Mein Mandant hatte ja auch immer ein schlechtes Gewissen, besonders als sich damals sogar seine Schwiegermutter in Spe für ihre Tochter stark gemacht und an ihn appelliert hatte, seinen Charakter zu bessern und sich dem Guten, der bedingungslosen Anpassung an die Gesellschaft, zuzuwenden“.

Richter: „Entspricht das den Tatsachen?“

„Ja“.

Richter: „Nun, die Sachverständigen werden zu klären versuchen ob dies für Mildernde Umstände reicht“.



2. Akt, 2. Szene


Einer der Sachverständigen schwebt nach vorne um seinen Bericht zum Besten zu geben.
„Das Persönlichkeitsbild des angeklagten Subjekts ist, möchten wir einstimmig kundtun, gespalten. Einerseits plagt ihn das Gewissen, angesichts der Erwartungen, die man an ihn hat, und andererseits fühlt er sich andauernd bedrängt einer dubiosen Geschichte nachzukommen, die er für seine eigentliche Aufgabe hält“.

Richter: „Was soll das sein?“

„Er fühlt sich zum Künstler berufen, ist aber gleichzeitig ein so schlechter Geschäftsmann, daß er einfach keinen Künstler glaubhaft darstellen kann. Niemand nimmt ihm ab einer zu sein – sein Verdienst blieb und bleibt weit hinter dem anerkannter Kapazitäten zurück, will sagen: hinter dem Erfolg, den verantwortungsbewusste Leute haben, denen es gelungen ist, eine Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß sie Kapazitäten seien! Kurz: hinter dem Einkommen ganz normaler Menschen also!“

Richter: „Das ist fatal! Und was halten die Sachverständigen in Punkto `Qualität der Arbeit` davon?“

Ein zweiter Sachverständiger schwebt hinzu.
„Wenn man allein die bloße, für ein irdisches Dasein unbedeutende, Qualität der vom Angeklagten erstellten Werke betrachtet, kommt man zu einem völlig unmoralischen Ergebnis! Man müsste ihn womöglich mit dem Versager Schiller, oder dem völlig hemmungslosen Rousseau, die uns ja schon hinreichend bekannt sind, vergleichen. Seine Gemälde ähneln ein wenig denen des erhabenen Dalì, seine Verrücktheiten aber eher denen Van Gogh’s“.

Richter: „Das ist allerdings höchst bedenklich! Was wurde dagegen unternommen?“

„Uns ist zu Ohren gekommen, daß sich eine Frau ernstlich bemühte ihn zur Ordnung zu rufen. Sie tat alles, ihn zu einem gebührlichen Lebensstil umzuformen und sie setzte dabei sogar ihr eigenes Leben auf’s Spiel!“

Richter: schnalzt mit der Zunge. „Das heißt, sie hat versucht sich aus Liebe oder etwas Ähnlichem umzubringen“?

„Genau! Sie stellte ihn 2mal vor die Entscheidung `Liebe oder Egoismus` und er hat sich 2mal für seinen Egoismus entschieden! Ein anständiger Mensch hätte sicherlich anders gehandelt!“

Goethe und Voltaire schweben vorbei. Sie grinsen schelmisch, denn von Drückebergerei haben sie keinen Schimmer. Beide hatten Verhältnisse mit zahlreichen Frauen und beide waren sich des Erfolges der Ehre bewusst, die man erreicht, wenn man sich nicht ziert.

Der Angeklagte erschauert zutiefst, in Bewunderung über das Glück arrivierter Kreise und seufzt deutlich vernehmbar.

Es fängt zu regnen an. Der Regen dringt, aus den unteren Wolkenschichten, in einem dicken Strahl nach oben. Aber das Wasser prasselt lediglich auf den Angeklagten, der nun wie ein begoss’ner Pudel dasteht. Alle übrigen Akteure des allerhöchsten himmlischen Heerscharengerichts bleiben selbstverständlich davon verschont und erfreuen sich weiterhin bester Gesundheit, während Egon Ekel alias Uwe Unhold sofort zu niesen anfängt.

„Seht euch das an!“ zetert der Himmelsanwalt, „nun macht er auch noch auf sensibel! Seit Jahrzehnten bereitet er allen, die ihn ertragen müssen widrige Umstände und wenn ihm selbst einmal eine Kleinigkeit geschieht, dann flippt er gleich aus mimt den Eingebildeten Kranken. Man sollte seine `Leiden` deutlich abkürzen! Findet ihr nicht?!“

Der Richter, der Himmelsanwalt, der Pflichtverteidiger und sämtliche anwesenden Koryphäen auf dem Gebiet des reinen Sachverstandes schmunzeln. Aber der Angeklagte fühlt sich zu einem Kommentar hingerissen:

„Ja“.

Ein nun stattfindender Wolkenbruch verdeutlicht den göttlichen Zorn über eine Welt, in der es anscheinend Geschöpfe wie diesen Angeklagten geben kann, der weder genug innere Stärke, noch die Bereitschaft für andere zu sorgen kennt, wenn es um seine sogenannten „Inneren Stimmen“ geht. Daher fällt er aus allen Wolken ins bodenlose Loch!

In rasender Geschwindigkeit nähert er sich der harten Oberfläche der Realität und droht, trotz seiner intensiven Bemühungen den Geist fliegen zu lassen, zerschmettert zu werden.

Das allerhöchste aller Allerhöchsten Gerichte ist darüber auf Äußerste amüsiert! Schallendes Gelächter dringt aus den trocken gebliebenen, himmlischen Gefilden, dann erscheint jedoch auch eine helfende Hand, die den völlig durchnässten Deppen, die getaufte Maus, kurz vor dem Aufprall, auffängt. Der Angeklagte ist, durch den schier endlosen, rasanten Fall, schon fast bewusstlos geworden. Deshalb hört er auch die Stimme kaum noch, die verkündet: „Nicht, daß du es verdient hättest nicht zu sterben, aber so leicht kommst du uns nun auch wieder nicht davon! Das Verfahren wird hiermit auf morgen vertagt!“


Eine Nacht, die es in sich hat, folgt dem Tag auf dem Fuß! Das allerhöchste Himmelsgericht hat die Traumgeister aufgerufen, in die Angstospähre des Angeklagten einzudringen, so, daß sich, im Schlaf, die dämonischsten Schauspiele ereignen, die man sich überhaupt vorstellen kann. Dies geschieht zur Disziplinierung der armen fehlgeleiteten Seele, damit sie anderntags Schutz suchen möge, unter den Fittichen einer bürgerlichen Erwartungshaltung, die mehr als gerechtfertigt scheint! Das könnte eine Umkehr zur Folge und die Einsicht in eine Bestrafung ermöglichen, die ohnehin unausweichlich ist.

Dann dämmert über einem vor Erschöpfung Keuchenden der Tag!



3. Akt, 1. Szene


Dem Gefangenen wurden inzwischen Ketten angelegt. Rasselnd schleppt er sie hinter sich her, voller Verwunderung, daß ihn die Wolken immer noch tragen. Es sind die Ketten der Abhängigkeit von einem Gesellschaftssystem, welches sich einer wohlverdienten Rechtmäßigkeit erfreut, ohne gesicherte Anhaltspunkte dafür zu haben – wenn man einmal die Urteilssprüche des Allerhöchsten Himmlischen Heerscharen-Gerichts außer Acht lässt.

Sämtliche, im Gerichtssaal über den Wolken versammelten Amts- und Würdenträger erheben nun gleichzeitig ihre Stimmen und schreien – nahezu schon unartikuliert - : „Wie heißen Sie??!!“

„Mein richtiger Name ist `Lottergraph Luzifer`“.

Der Gerichtsdiener mit den Hörnern, dem Pferdefuß und dem roten Schwanz grinst hämisch, erhebt jedoch keinen Einspruch um nicht aufzufallen.

Richter: „Na, das ist doch endlich einmal ein Eingeständnis der offenen Art. Unsere Traumgeister haben also etwas bewirkt?!“

Der Angeklagte, noch schwitzend von der Folter der Nacht, gesteht:

„Ja“.

„Was für ein Häufchen Elend!“ lacht der Himmelsanwalt. „Man will ihm jetzt gar nicht mehr zutrauen was er alles verbrochen hat. Doch dem Vergessen muss ganz entschieden vorgebeugt werden. Deshalb habe ich vor das allerhöchste der himmlischen Heerscharengerichte nun einen kurzen Filmbericht kommen lassen, in dem der Angeklagte –sozusagen „eingebunden“ – unfreiwillig die Hauptrolle spielen wird. Wir zapfen ganz einfach seine Erinnerungen an! Diese zeigen wir jedoch, von einem Projektor, auf das Wolkenweiß geworfen, aus der Sicht seiner Mitmenschen. Was der, sich insofern praktisch selbst Verurteilende dabei für Empfindungen haben wird, als er sich endlich erkennen muss, ist jedoch echt. Er wird die Ereignisse quasi noch einmal seitenverkehrt erleben!“

Während in der hohen Runde der allerhöchsten Himmlesgestalten alles beschaulich bleibt, hebt in und um Lottergraf Egon-Uwe Luzifer-Unhold-Egoist ein gewaltiger Sturm an. Der Zorn der Welt, dem er stets aus humanitären Gründen gegen sich selbst, erfolgreich ausgewichen ist, entlädt sich auf seiner Seele, einer Seele, die es vorzugsweise anderen überließ sich dem realen Treiben zu stellen, da sie nur die „Betrachtung und Beschreibung der Welt“ als ihre ureigenste Aufgabe ansah – nichts weiter. Was ihn jetzt be-trifft, sind die Folgen des Begehrens, die Mühsal der Ansprüche, sowie die Duldung einer Zeit, die, wie alle Zeiten scheinbar idiotisch und schwachsinnig ist, denn ausschließlich das göttliche Urteil regelt ihren Sinn!

Durch die entsetzlichen Traumerlebnisse bereits vorgeschwächt, wird der Lottergraf aufs Unsanfteste hin und hergeworfen! Endlich muss er einmal selbst ausbaden, was er bisher weitestgehend anderen überließ. Er muss schlagen und beißen, töten und getötet werden, sich untergeben, dienen und herrschen, um am Leben zu bleiben. Das ist kein Ponyhof!

Dabei werden ihm seine dichterische Halsschlagader, seine gestalterische Bauchaorta, ja sogar sein überhebliches Rühr-mich-nicht-an-Herz aus dem Leibe gerissen. Die anwesenden „Sachverständigen“ gebieten jedoch, aus Gründen der Wahrheitsfindung, dem Treiben keinen Einhalt. Und die höchsten der allerhöchsten Himmelsgestalten lächeln zufrieden, denn wer sich der Welt widersetzt, der wird vom Zweifel, oder, wie in diesem Fall, eben von den Fakten in der Luft zerrissen werden. Es ist wie es ist.

Obwohl es unablässig donnert und blitzt, obwohl die Schleudertraumen in Sekundenschnelle aufeinander folgen, dauert diese Form der Beweisführung den ganzen Tag und endet am Abend mit einer Art Belastungshöhepunkt, der seinen Ausdruck im orgiastischen End-Schrei des Angeklagten findet:

„Iiiiijjjaaaaahh!“

Dann bricht er beinahe besinnungslos zusammen. Vom Gerichtsdiener aufgesammelt und fortgetragen, bemerkt er nicht mehr, wohin man ihn bringt. Sein Glaube an ein irgendwo existierendes Irgendwas ist rückstandslos verschwunden. Er schließt die Augen – wie er immer die Augen vor dem heilenden Unheil verschloss – und schläft ein. Alles was er noch registrieren kann ist, das Tönen von Engelposaunen und danach den einsetzenden Chor aus reinen Geistern, die „gloria in exzelsis deo“ singen. Seine Augen sind inzwischen verdreht…


3. Akt, 2. Szene

Ein spätes Erwachen kennzeichnet das Zimmer, in der Psychiatrischen Klinik Graphenstedt, Kreis Wackelheim. Das Licht tritt nur gedämpft in den Raum. Der Patient darf nicht erschreckt werden, denn heute steht immerhin noch eine Schocktherapie im Programm.

Der Mann ohne Ausweis, ohne Identität, ohne Ehre und ohne Antriebe steht seufzend auf. Ihm ist, als ginge er zum Schafott, doch wie immer irrt er sich. Nur das Badezimmer wartet auf seine Reste. In den Spiegel guckt er erst gar nicht, denn darin erscheint, soviel weiß er noch, jeden Tag ein anderer. Einmal ist es Graf Dracula, dann ein durchsichtiges Glasgespenst mit Dornen-Lorbeer-Kranz, eine hämisch grinsende Visage, deren Muse ein abscheuliches Schlangenhaupt ist, oder einfach ein dümmlich dreinglotzender Kretin. Jeder dieser Anblicke stößt ihn ab!

Er versucht sich angestrengt zu erinnern: “Was habe ich getan? Wo kam ich denn eigentlich her? Wo wollte denn überhaupt hin? Wer bin ich und was soll ich hier?“ Aber der Spiegel, in den er nicht hineinzublicken wagt, kann ihm keine Auskunft geben.

Unerklärlich ist ihm die Schwere seiner Glieder. Es ist auch, als würde ihn ein fremdes, falsches Gefühl zu Boden ziehen. Und dann diese Anstalt – tägliche Schocktherapien, vorzügliches Essen, ohne daß er etwas dazu beigetragen hätte. Widersprüchlichkeiten die nur durch Widersprüchlichkeiten zu erklären wären, „aber nicht in diesen Sphären“ philosophiert er wahnsinnig vor sich hin.

„Der Abschaum der Menschheit besteht aus ihren Denkern“ grübelt er weiter. Nein, es fällt ihm einfach so ein, wie ihm immer alles einfach so eingefallen ist, erinnert er sich schwach. „Kann man sich vor Einfällen schützen?“ fragt er sich selbst. Aber dann müsste die Antwort ja „Nur, wenn man arm ist im Geiste“ lauten. Das darf nicht sein. Denn den Armen im Geiste wird der Erdkreis gehören. Oder hat er da etwas durcheinander gebracht? Denen, die keines guten Willens sind ist beschieden, was man Idioten zuschreibt, deren wichtigstes Anliegen es ist höhere Ordnungssysteme zu erschaffen. Wem steht das zu?

„Stehlen sie sich nicht ganz einfach aus dem Kreis echten, unverfälschten Seins? Wer gibt ihnen das Recht zu bezweifeln was unzweifelhaft existiert? „Es ist ein Vergehen wider die Schöpfung nach Lösungen zu suchen, welche geeignet sind die Evolution, respektive deren geplantes Ende zu verhindern!“

Stimmen? Stimmen! Niemand, der Mann ohne Identität, hat gerade Stimmen gehört! Kein Wunder also, daß man ihm Schocktherapien verordnet… Und zu allem Überfluss glaubt er sich jetzt auch noch an den allerhöchsten Richterspruch eines Allerhöchsten Himmlischen Heerscharengerichts zu erinnern, der ihm ebenso verrückt vorkommt wie er sich selbst. Er lautet: „In Anbetracht der Schwere der vom Angeklagten begangenen Verbrechen gegen die Unmenschlichkeit, sehe ich mich veranlasst die Höchststrafe – ein gewaltsames Leben – durch die Unvorhersehbarkeit eventueller Leidenssteigerungen zu überschreiten. Ich verhänge hiermit: Das Damoklesschwert! Möge es ihn treffen, wenn der richtige Augenblick gekommen ist!“

Niemand geht müde an seinen, ihm zugedachten, genehmigten Arbeitstisch. Doch bevor er ihn erreicht, um zu notieren, was die „Stimmen“ ihm einflüstern, oder zeichnerisch festhält, was er mit Hilfe von Muse Medusa halluziniert, erkennt er sie…! Die gesamte Zimmerdecke ist voll davon. Ein Damoklesschwert am andern lässt keine Zweifel darüber aufkommen, daß Auswegmöglichkeiten nicht existieren. Niemand bricht am Arbeitstisch zusammen! Das hat er erwartet, soweit musste es ja kommen: Unrecht, gegenüber dem Unrecht zieht weiteres Unrecht nach sich! Und das mit Recht!

Wie aus einer Wolke seiner Umnebelung hört Niemand erneut und ein letztes Mal die Stimme des Höchsten Richters des Allerhöchsten Gerichts der Himmlischen Heerscharen: „Angeklagter, nehmen sie das Urteil an?“ Dann öffnet er den Mund um ein völlig absurdes Unwort zu sagen, eines, das angesichts der überall herrschenden Umstände gar nicht vorkommen darf… Es lautet:

„Nein!“

Der Vorhang fällt!


© Alf Glocker


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Beschreibung des Autors zu "Vor dem Himmlischen Heerscharengericht (Ein absurdes Schauspiel in 3 Akten)"

Bild: Titel: Welttheater, Technik - Öl auf Leinwand

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Kommentare zu "Vor dem Himmlischen Heerscharengericht (Ein absurdes Schauspiel in 3 Akten)"

Re: Vor dem Himmlischen Heerscharengericht (Ein absurdes Schauspiel in 3 Akten)

Autor: Yvane   Datum: 13.02.2015 15:11 Uhr

Kommentar: Wow!!!!
LG Yvane

Re: Vor dem Himmlischen Heerscharengericht (Ein absurdes Schauspiel in 3 Akten)

Autor: Alf Glocker   Datum: 13.02.2015 17:16 Uhr

Kommentar: Dank!

LG Alf

Re: Vor dem Himmlischen Heerscharengericht (Ein absurdes Schauspiel in 3 Akten)

Autor: axel c. englert   Datum: 13.02.2015 18:09 Uhr

Kommentar: Das ist direkt ein großes Werk!
(Auch das Bild ist nicht grad Zwerg...)

LG Axel

Re: Vor dem Himmlischen Heerscharengericht (Ein absurdes Schauspiel in 3 Akten)

Autor:   Datum: 13.02.2015 21:12 Uhr

Kommentar: Diese EIN=SICHT ist erschütternd.

Doch das Weltbild ist erst drei Jahrtausende alt.
Und die sogenannte Schöpfung erschöpft sich nicht, auch wenn dieses Leben
an seiner Unfähigkeit zu leben untergeht.

Ich finde manche Wortspiele mit dem Recht genial.

Und von Vor-Denkern und Vor-Schriften habe ich ebenfalls die Nase voll.

Ich bekenne mich...

unschuldig, Herr Ab.Richter!


Bravo!

Ganz großes Kopfkino!

Re: Vor dem Himmlischen Heerscharengericht (Ein absurdes Schauspiel in 3 Akten)

Autor: Uwe   Datum: 13.02.2015 23:29 Uhr

Kommentar: "...sich rücksichtslos erhalten"?
"JA!"

Re: Vor dem Himmlischen Heerscharengericht (Ein absurdes Schauspiel in 3 Akten)

Autor: Alf Glocker   Datum: 14.02.2015 10:19 Uhr

Kommentar: Ich bedanke mich in aller Form,
denn ich sehe: ich bin verstanden worden!

Grüße
Alf

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