Gemeinsam einsam,
in Massen verlassen,
unter Vielen allein,
trotz Wohlstand nicht frei.

„Nächster Halt Ricklinen“, laut und deutlich ist die elektronische Stimme, in dem sonst eher ruhigen Zugabteil zu hören. Es scheint Niemanden zu interessieren, niemand zeigt auch nur den Hauch einer Reaktion.
Nun gut, ist auch schwer durch die laute Musik im Kopfhörer hindurch irgendetwas von der Aussenwelt wahrzunehmen.
Aber es haben nicht alle Kopfhörer im Ohr... nur circa ein Drittel der Fahrgäste. Zugegeben, es ist auch schwierig sich noch auf die Aussenwelt zu konzentrieren, wenn man gerade in Facebook oder WhatsUp seine sozialen Kontakte pflegt.
Aber da sitzt ein alter Herr ohne Musik oder Handy. Er schaut aus dem Fenster, seine matten Augen zeigen, dass er wahrscheinlich nicht mehr viel Hoffnung für die Welt hat. Naja, was soll’s, wenn’s wirklich kracht ist er schon lange weg. Neben ihm sitzt eine ältere Frau und liest. Vielleicht seine Frau, vielleicht auch seine Freundin oder Schwester, kennen sie sich überhaupt?

Gemeinsam einsam,
in Massen verlassen,
unter Vielen allein,
trotz Wohlstand nicht frei.

Es ist still, nur das sirrende Geräusch der Zugbremse, die Bässe der zu lauten Musik aus einigen Kopfhörer und das Klacken von Fingernägeln auf den Smartphone-bildschirmen ist zu hören.
Der Zug hält, quitschend öffnen sich die Türen, eine kleine Menschenmasse versucht sich durch die Stehenden hindurch zum Ausgang zu zwängen. Vor der Türe stehen weitere Menschenmassen, welche alle in diesen Zug wollen.
Eine Mitvierzigerin beginnt zu schimpfen: „Macht doch mal Platz, zuerst aussteigen lassen und dann einsteigen, das kann doch nicht so schwer sein!“ Ob sie wohl eine von denen ist, die immer schön Platz machen und warten, wenn sie einsteigen wollen?

Gemeinsam einsam,
in Massen verlassen,
unter Vielen allein,
trotz Wohlstand nicht frei.

Der Zug fährt erneut an. Zwei Jugendliche sind eingestiegen, sie diskutieren, sie lachen, sie leben. Die Anderen werfen ihnen genervte Blicke zu, wie soll man so noch schlafen, Musik hören oder sich auf sein Handy konzentrieren können!?
Den Jugendlichen wird unwohl, der eine nimmt sein IPod hervor und setzt sich grosse Kopfhörer auf. Auch der andere beginnt auf seinem Handy herum zu tippen.

Gemeinsam einsam,
in Massen verlassen,
unter Vielen allein,
trotz Wohlstand nicht frei.

Langsam entleert sich das Abteil, bei jeder weiteren Haltestelle. Nun steigt eine junge Frau ein. Sie ist in etwa 25 Jahre alt, nicht sehr dünn aber auch nicht sehr dick. Die Haare sind blond gefärbt, ihre Kleidung ist anständig, elegant. Obwohl viele Plätze frei sind, setzt sie sich nicht hin, sondern stellt sich in die Ecke neben der Tür. Sie schaut zu Boden oder auf ihr Handy, das kann man nicht so genau erkennen, denn sie steht mit dem Rücken zu den Mitfahrenden. Hat sie die Nase voll von der Menschheit oder ist sie einfach gern alleine?

Gemeinsam einsam,
in Massen verlassen,
unter Vielen allein,
trotz Wohlstand nicht frei.

Bei der nächsten Haltestelle steigt eine alte Dame ein. Wie alt sie ist, kann man nicht so genau sagen. Das Übermass an Schminke, die viel zu roten Lippen lassen nur erahnen, wie viel Zeit sie heute schon vor dem Spiegel stand. Ihre Kleidung ist luxuriös, ihr Blick arrogant, oder denkt man das nur, weil sie halt so aussieht?
Sie steigt in das fast leere 1.Klasse Abteil und beginnt einen dicken Modekatalog zu studieren. Kurz hebt sie den Blick, als der Zug erneut hält. Durch die Glasscheibe sieht sie einen schmuddeligen Mann, mit einer Bierdose in der Hand, einsteigen.
Sie rümpft die Nase, sie ist nicht die einzige welche die Nase rümpft.

Gemeinsam einsam,
in Massen verlassen,
unter Vielen allein,
trotz Wohlstand nicht frei.

Der Betrunkene torkelt zu einem Viererabteil und setzt sich. Der junge Mann, wahrscheinlich ein Student welcher ihm gegenüber sitzt, packt fast panisch seine Tasche und verlässt fluchtartig das Abteil. „Alles Schweine, verwöhnte Gören“ lallt der Trinker dem Flüchtenden hinterher. Die Menschen welche es mitbekommen haben, verdrehen die Augen. Sind sie etwas Besseres, oder haben sie überhaupt keine Schuld an dem Schicksal dieser Menschen? Helfen sie immer, wenn sie um Geld oder etwas anderes gebeten werden?

Gemeinsam einsam,
in Massen verlassen,
unter Vielen allein,
trotz Wohlstand nicht frei.

Nun steigt ein junges Mädchen, naja eher eine junge Frau ins Abteil. Sie trägt ein feines Lächeln auf den Lippen, ihre grünen Augen lächeln mit. Ist das Lächeln aufgesetzt oder ist sie verliebt? Nein, sie hat bestimmt etwas genommen! Auch ihre Kleidung deutet darauf hin und sie läuft Barfuss, die ist sicher so ein bekiffter Hippie!
Sie hat braune, gelockte, ziemlich lange Haare und ein schönes Gesicht. Ein Junge mit Kopfhörern in den Ohren ruft ihr „Freak“ hinterher. Auf ihr Gesicht legt sich ein freches Grinsen, sie ist sich das wahrscheinlich gewohnt, fast scheint es so als höre sie das gerne.
Sie setzt sich auf den frei gewordenen Platz bei dem Betrunkenen. Sie lächelt ihm aufmunternd zu und macht es sich bequem. Der Trinker scheint schon lange nicht mehr so freundlich behandelt worden zu sein, denn er beginnt zu strahlen. Aus seiner Jackentasche zieht er eine weitere Bierdose und bietet sie ihr an. Das Hippiemädchen lehnt dankend ab: „Ich trinke kein Alkohol“. Er packt es wieder ein und meint: „Jaja, Leute wie du stehen ja eher auf Drogen, aber das ist gefährlich.“
Nun lacht die junge Frau laut und meint dann: „Ich weiss, dass man mich in diese Schublade steckt, aber ich nehme keine Drogen. Ich mag einfach diese Kleidung und diese Leute.“
Die Fahrgäste schauen sie an, wenige bewundernd andere misstrauisch oder böse und manche einfach interessiert. Wenn das Mädchen ihnen in die Augen schaut, blicken sie peinlich berührt, schnell irgendwo anders hin.

Gemeinsam einsam,
in Massen verlassen,
unter Vielen allein,
trotz Wohlstand nicht frei.

Der Trinker beginnt zu schwärmen: „Jaja, die Hippiezeit, das war noch eine schöne Zeit, jeder konnte machen was er wollte, Drogen bekam man an jeder Ecke, man wollte noch etwas verändern und die Mädchen waren auch nicht so spiessig, wie sie es heute sind. Das war die totale Freiheit!“
„Ich glaube nicht, dass Freiheit nur darin besteht, nicht arbeiten zu müssen und Drogen zu nehmen oder alles zu haben was man möchte. Man kann im grössten Wohlstand gefangen sein, genau so gut kann man im Gefängnis frei sein, denn die wahre Freiheit kommt von Innen!“ antwortet das junge Mädchen, drückt dem Penner einen Geldschein in die Hand, steht auf und wünscht ihm noch einen schönen Tag. Verdattert sieht er ihr nach. Das ist nicht gerade wenig Geld und sie sieht auch nicht aus, als würde sie im Luxus schwimmen.
Beim Aussteigen wirf das Mädchen dem Jungen welcher sie Freak genannt hat noch einen kecken Blick zu. Dann ist endlich wieder Ruhe eingekehrt.
„Nächster Halt, Felden, Endstation, bitte alle aussteigen“ laut und deutlich ist die elektronische Stimme, in dem sonst eher ruhigen Zugabteil zu hören.


© Sally777


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Beschreibung des Autors zu "Gemeinsam einsam"

Gesellschaftskritische Beobachtungen einer Pendlerin

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Kommentare zu "Gemeinsam einsam"

Re: Gemeinsam einsam

Autor: noé   Datum: 14.06.2014 3:22 Uhr

Kommentar: Danke für's Mitnehmen, ich bin begeistert von diesem Text! Wunderschön. Und wunderschön und glasklar beobachtet. Ich wünschte mir mehr Leute mit solch wachen Sinnen und einem so tollen Schreibhändchen!!
noé

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