Das Fachgeschäft durch die sich leicht öffnende Tür betretend verwandelt er sich augenblicklich in einen Kunden. Etwas vorsichtig sieht er sich um, prüft den Raum und die Regale, die nach seiner Vermutung die Artikel vorhalten, die, wenn überhaupt, eines Ankaufs würdig sind.

Der späte Nachmittag sorgt für ein milchiges, warmes Licht in den Gängen zwischen den Schränken. Er, der einzige Kunde in dieser Zeit, geht unschlüssig auf eine Regalwand zu, um ein erstes Angebot in Augenschein zu nehmen mit der Gewissheit, einen Kauf noch eine lange Zeit hinauszuschieben oder gar nicht erst in Erwägung zu ziehen.

Von weitem die Unsicherheit des Kunden erahnend nähert sich nun ein junger Mann in grauem Anzug, mit weißem Hemd und silbriggrau gesprenkeltem Binder, behende und dennoch fast unauffällig. Der Anbieter hält den sich in der abendländischen Zivilisation entwickelten Abstand zum Kunden deutlich ein und fragt schließlich nach einem kaum merkbaren Räuspern: »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Der Kunde hätte gerne noch ein wenig ohne Anrede durch den Anbieter den einen oder anderen Artikel geprüft, will andererseits aus Höflichkeit aber auch dessen Freundlichkeit nicht bestrafen und entschließt sich daher zur unverbindlichen Mitteilung: »Ich interessiere mich für Navigationsgeräte.«

Die Bekundung eines bloßen Interesses, so hofft der Kunde, würde ihn nicht in die Verlegenheit bringen, nur mit einem erstandenen Gerät das Fachgeschäft verlassen zu dürfen. Ein Interesse verpflichtet zu nichts. Außerdem muss der Anbieter sich nun ein wenig anstrengen, um aus dem Kunden einen Käufer zu machen.

»Wir haben hier eine Reihe von guten Geräten. Ich bin sicher, es ist etwas für Sie dabei.« Er wendet sich nach links und macht einige Schritte, die dem Kunden signalisieren, ihm, dem Anbieter, augenblicklich zu folgen. Als sie das Regal mit den Navigationsgeräten erreichen, nimmt der Anbieter ein Gerät in die Hand, hält es dem Kunden vor das Gesicht und, das Nacheinander der Wörter immer dichter packend, sprudelt er Versatzstücke aus hinsichtlich der Zieleingabe durch Sensortasten, der Sprachein- und -ausgabe, der automatischen Abblendung des Displays, des Updates von Daten, der Gewährleistung und Garantie und einiges mehr.

Während der Anbieter seine Rede schließlich mit immer neuen technischen Begriffen anreichert, um dem Kunden zu verstehen zu geben, dass er nicht nur ein einfacher Anbieter, sondern ein außergewöhnlicher Anbieter sei, der mit besonderen Fachkenntnissen auf dem Spezialgebiet aller Navigationsgeräte und mit den neuesten Entwicklungen in diesem Bereich höchst vertraut sei, fällt der Blick des Kunden auf ein kleines flaches Gerät in einem anthrazitfarbenen Gehäuse, das weder ein Tastenfeld noch ein Display besitzt. Das Einzige, was aus dem einfachen Gerät kaum wahrnehmbar herausragt, sind zwei Plastiklaschen, die jeweils mit einem kleinen Loch versehen sind. Seitlich befindet sich ein schmaler Schlitz, der mit einem Deckel geschützt ist. Das Gerät ist nicht größer als eine Brieftasche, aber schmaler.

»Was ist das?« fragt der Kunde.

Der Anbieter ist unmerklich verärgert darüber, dass der Kunde offensichtlich seiner Rede nicht weiter folgen will und sich für ganz andere Dinge zu interessieren scheint, antwortet schließlich im Bemühen, seine Sprache möglichst beiläufig klingen zu lassen: »Das ist ein Vermeider!«

»Ein Vermeider?«

»Ja, ein Vermeider. Ein Vermeider ist ein Quasi-Navigationsgerät, eine ganz neue Entwicklung, noch im Beta-Stadium. Wir haben hier nur ein Exemplar. Beim Verkauf dieses Gerätes sind wir verpflichtet, unsere Kunden darauf hinzuweisen, dass es sich um ein Gerät handelt, das noch in der Erprobungsphase ist.«

»Wie funktioniert so ein... Vermeider?«

»Nun, am besten kann man es erklären, wenn man es mit einem Navigationsgerät vergleicht. Bei einem Navi geben Sie ein Ziel ein und das Navi führt sie mit Kartenanzeige oder Sprachausgabe zum gewünschten Ziel. Viele Kunden fühlen sich durch ein Navi allerdings oft auch allzu sehr bevormundet. Manche mögen es nicht, sich von einem Navi herumkommandieren zu lassen.
Es gibt Kunden, die zwar ein Navi haben, es aber meistens ausgeschaltet lassen. Es soll sogar Kunden geben, die immer genau das Gegenteil von dem machen, was ihnen das Navi vorgibt. Für diese Kunden ist der Vermeider entwickelt worden.«

»Ich verstehe nicht.«

»Nun, bei einem Vermeider können Sie kein Ziel eingeben. Es gibt auch keine Sprachausgabe oder Ähnliches.«

Der Anbieter nimmt den Vermeider in die Hand und deutet auf die Plastiklaschen.

»Hier sind zwei Laschen mit jeweils einem Loch. Das ermöglicht Ihnen, den Vermeider an einer modischen Kette zu befestigen, um den Hals zu legen und auf der Brust zu tragen. Wenn Sie nun eine ungünstige Richtung nehmen, meldet sich der Vermeider mit einem leichten Vibrieren. So können Sie eine bessere Richtung einschlagen.«

»Aber dieses... dieser Vermeider weiß doch nicht, wohin ich will.«

»Ja, dadurch unterscheidet er sich von einem Navi. Sie können jederzeit das Ziel wechseln oder gar kein Ziel haben oder ein bestimmtes Ziel im Auge haben. Der Vermeider bevormundet Sie in keinem Fall. Er sagt Ihnen nur, wenn Sie eine bestimmte Richtung wählen, ob es eine ungünstige Richtung ist.«

»Was heißt denn hier 'ungünstig'?«

»Nun, es können Hindernisse auf dem Weg liegen. Oder es handelt sich um eine Sackgasse, oder eine Baustelle behindert Ihr Tempo. Oder die Richtung führt Sie lediglich wieder zum Ausgangspunkt zurück. Es gibt viele Möglichkeiten und Gründe, einen bestimmten Weg nicht zu nehmen. Der Vermeider zeigt nur durch sanftes Vibrieren an, dass Sie auf dem Holzweg sind.«

»Wenn ich das Ding um den Hals hängen habe, funktioniert es offensichtlich auch außerhalb eines Fahrzeuges, oder?«

»Selbstverständlich. Ob Sie mit dem Auto unterwegs sind oder mit dem Fahrrad oder per pedes, der Vermeider weist Sie auf Richtungen hin, die Sie vermeiden sollten. Deswegen heißt das Gerät auch Vermeider. Ob Sie nun eine Richtung, die Sie gemäß Gerät lieber vermeiden sollten, auch wirklich vermeiden, ...das ist Ihre Sache. Sie werden nicht bevormundet.«

»Ich habe immer noch Schwierigkeiten, zu verstehen, wozu es eines Vermeiders bedarf, wenn ich ein bestimmtes Ziel erreichen möchte.«

»Ich will es mal an einem Beispiel deutlich machen. Der Vertreter, der mich gebeten hat, dieses Gerät hier anzubieten, sagte, er benutze diesen Vermeider selbst.
Ich gebe nur wieder, was er mir gesagt hat. Also, dieser Herr wurde eines Abends von seiner Frau gebeten, den Mülleimer auf den Bürgersteig zu stellen, damit die Müllabfuhr...Sie wissen schon.
Also dieser Mann schnappt sich den Mülleimer und will... aber da meldet sich sein Vermeider mit leichtem Vibrieren. Der Mann, den Mülleimer schon in der Hand, geht nun nicht den üblichen Weg, um seinen Mülleimer an den Straßenrand zu bringen, sondern schlägt einen größeren Bogen ein.

In diesem Moment löst sich eine Firstpfanne, scheppert die Dachneigung hinunter, bekommt durch die Dachrinne noch einen zusätzlichen Drall und schlägt heftig auf dem Boden auf. Und, was soll ich sagen... genau auf die Stelle, an der der Mann normalerweise mit seinem Mülleimer gegangen wäre und genau zu diesem Zeitpunkt. Ein Navi hätte hier nicht geholfen.«

»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?«

»Ich wollte Ihnen nur an einem Beispiel den Unterschied zwischen einem Navi und einem Vermeider verdeutlichen. Niemand ist gezwungen, einen Vermeider zu besitzen oder ihm zu trauen. Man kann sozusagen einen Vermeider... auch vermeiden.«
Der Anbieter ist schier begeistert über seinen Wortwitz.

»Ich verstehe Sie so, dass ein Vermeider nicht nur im Straßenverkehr angibt, welche Richtung man tunlichst vermeiden soll, sondern auch... im Leben.«

»So ist es. Aber bevor Sie jetzt anfangen, Feuer zu fangen... Ich muss Sie pflichtgemäß darauf hinweisen, dass dieses Gerät noch in der Entwicklung ist. Wenn Sie es erwerben wollen, muss ich Sie darum bitten, schriftlich zu bestätigen, dass wir für Ihre Entscheidungen, die Sie auf der Grundlage des Vibrierens Ihres Vermeiders treffen, nicht haften. Wir haften nur für die technische Funktionalität.«

»Nun, das wäre kein Problem. Bislang habe ich ohnehin für meine Entscheidungen immer haften müssen. Daran würde sich nichts ändern.«

»Sie wollen es also?«

»Augenblick noch. Es gibt doch Situationen im Leben, da gibt es keine günstige Richtung. Sie kennen das doch auch. Sie machen etwas und haben anschließend das Gefühl...wie man es auch gemacht hätte, es wäre immer falsch gewesen.«

»Nun, ich denke, dass man sich in solchen Fällen oft vom Urteil anderer Menschen abhängig macht. Man tut etwas und schon sagt eine Menschengruppe, das ist ja wohl nicht zu glauben. Tut man das Gegenteil, gibt es wiederum Menschen, die einem den Verstand absprechen. Gerade in diesen Fällen ist ein Vermeider besonders hilfreich. Er vibriert nicht mal so und mal so. Sondern er vibriert nach meinungsunabhängigen Maßstäben.«

»Das ist es, was ich suche. Meinungsunabhängige Maßstäbe. Die Wahrheit an sich. Nicht die Wahrheit, die die Menschen in ihren Köpfen herumtragen und gegeneinander richten. Jeder sollte so einen Vermeider haben. Was könnte man nicht alles vermeiden: Parteienstreit, hitzige Debatten, Konkurrenzkämpfe, Familienstreitigkeiten, Vereinsmeiereien, Kriege, Hungersnöte, Katastrophen. Zumindest könnte man Katastrophen aus dem Wege gehen. Ein tolles Gerät, und es liegt hier so unscheinbar zwischen Ihren Navigationsgeräten. Ohne jede Werbung.«

»Nun, wir haben bislang nicht gewusst, wo wir es unterbringen sollen. Die Nähe zu Navigationsgeräten schien uns am plausibelsten. Haben Sie eine bessere Idee?«

»Da haben Sie nun so ein wunderbares Gerät und befragen es nicht selbst. Sie hätten es sich um den Hals hängen und irgend eine Richtung in Ihrem Laden nehmen sollen. Das Gerät hätte Sie durch Vibrieren schon darauf aufmerksam gemacht, wo es nicht liegen will. Auf diese Weise hätten Sie herausgefunden, wo es schließlich am besten angeboten wird.«

»Wissen Sie, daran haben wir auch schon gedacht. Mein Chef hat mir gesagt, machen Sie das mal. Ich habe es aber nicht gewagt und das Ding hier zu den Navis gelegt. Der Chef glaubt immer noch, dass der Vermeider selbst hier liegen will.«

»Aber warum haben Sie es nicht wirklich benutzt?«

»Vielleicht hatte ich Angst, dass mir das Ding mitteilt, dass ich den falschen Beruf habe und mir den Weg zum Chef zeigt, um zu kündigen.«

»Aber das wäre doch dann eine richtige Entscheidung gewesen. Wer weiß, welche Lebenschance Sie nun versäumen, nur weil Sie Ihrem eigenen Gerät nicht folgen wollen. Nun sind Sie immer noch in diesem Geschäft und könnten 'was Besseres machen.«

»Ich weiß nicht. Ich will lieber alles so lassen. Vielleicht will der Vermeider auch noch, dass ich meine Frau vermeiden soll.
Ich weiß, man muss dem Vermeider nicht folgen. Aber wenn er einem erst einmal ins Hirn setzt, dass man einen nicht ganz richtigen Weg gegangen ist, bleibt das immer im Kopf und man denkt und denkt... was wäre gewesen?«

»Ich verstehe Sie nicht. Sie sind der Anbieter und bieten Ware feil. Aber anstatt mich davon zu überzeugen, wie wundervoll Ihre Artikel sind, muss ich Sie offensichtlich überreden, mir den Vermeider zu verkaufen.
Wissen Sie was, ich will das Ding. Ob ich immer alle Richtungen in meinem Leben vermeiden will, die mir der Vermeider anzeigt, ist immer noch meine Angelegenheit. Da bin ich ganz autonom. Packen Sie es nicht ein, ich hänge es gleich um. Dieser Lederriemen hier kommt dazu. Wo ist das Papier, das ich unterschreiben soll? Kann ich mit Karte zahlen?«

Mit sich zufrieden verlässt der Kunde das Geschäft, den Vermeider am Lederbändchen um den Hals.
Der Anbieter sieht ihm nach. Der Kunde geht vor bis zum Bürgersteig, zögert einen Moment und wendet sich lächelnd nach links.
Der Vermeider scheint funktioniert zu haben, denkt der Anbieter. Vielleicht wollte der Kunde nach rechts abbiegen, aber der Vermeider hat vibriert und der Kunde hat gehorcht und die Richtung gewechselt. Oder aber der Kunde wollte sich ohnehin nach links wenden und der Vermeider hatte keine Einwände.

Wie auch immer, denkt der Anbieter, der Kunde wird nicht feststellen können, was die vermiedene Richtung für ihn bereit gehalten hätte. So aber ist der Kunde glücklich, einer vermeintlich falschen Richtung noch rechtzeitig ausgewichen zu sein. Der Vermeider soll dem Kunden doch schließlich nützlich sein.

Nachdenklich geht der Anbieter ins Lager nebenan, schaltet die Beleuchtung ein und greift in eine Schachtel. Er entnimmt einen weiteren Vermeider, öffnet das an diesem Gerät seitlich angebrachte Batteriefach und führt eine kleine Batteriezelle, die er aus einem Schälchen unter der Schachtel fingert, in den Schlitz ein.

»Fertig,« murmelt er, wissend, dass nun der Vibrator im Gerät mit Energie versorgt und der auf einer Platine angebrachte Zufallsgenerator aktiviert ist.


© Rolf Kirsch


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Beschreibung des Autors zu "Der Vermeider"

Wer die falschen Wege meidet, ist auf die richtigen angewiesen.

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