Eintrag 1
Man braucht nicht viel. Ein temperiertes Zimmer, Fenster mit Tageslicht, einen Tisch, einen Stuhl, Stifte, Papier, eine Lampe, eine Liege, Decken, ein paar Einrichtungen für die Körperhygiene, drei Mahlzeiten am Tag. Jede Einengung ist Erweiterung. Man braucht einige Tage, bis das Leben sich darauf eingestellt hat, sich befreit hat von der Gier nach Lärm, Kontakt und Information. Man braucht einige Tage, bis die Einschränkung als Gelegenheit gesehen wird, seine Gedanken auf die Reise zu schicken.
Dr. Werner meinte gestern, ein Antrag auf Haftverschonung sei aussichtslos. Schließlich sei ein Mensch ums Leben gekommen. Wie auch immer. Über Mord oder Totschlag werde man später befinden müssen. Vor Gericht. Er jedenfalls, er jedenfalls wolle alle Möglichkeiten ausschöpfen. Dabei müsse ich schon mithelfen. Bislang sei ich in dieser Angelegenheit wenig hilfreich gewesen. Meine Ausführungen seien, ich solle es ihm nicht übelnehmen, verwirrend, bisweilen konfus, bei allem Respekt. Ich solle mal in Ruhe in den nächsten Tagen aufschreiben, was mir durch den Kopf ginge.
Möglicherweise könne er später seine Verteidigung darauf aufbauen. Möglicherweise.
Gut, habe ich ihm gesagt, ich mache das so. Aber ich brauche Zeit, habe ich ihm gesagt. Zeit, Zeit, sagte er, Zeit hätte ich genug. Er könne sich nicht vorstellen, dass die Staatsanwaltschaft einen Antrag stelle, mich aus der U-Haft zu entlassen. Und das Verfahren, sagte er, das Verfahren ... ach Gott. Bei dem, was ich bislang zur Sache ausgesagt hätte, würde man an die Terminierung des Verfahrens noch nicht denken können. Dafür müsse ich Verständnis haben.
Dafür habe ich Verständnis, mehr als Dr. Werner möchte. Verständnis und Zeit.
Ich folge seiner Empfehlung. Nicht seiner Eitelkeit wegen, die sich prima entfalten würde, wenn er Erfolg haben sollte. Nicht seinetwegen, meinetwegen. Ich will mir selbst darüber klar werden, was geschehen ist. Also schreibe ich es auf. Nicht für Dr. Werner, sondern für mich. Er kann später darauf aufbauen, was er möchte.

Eintrag 2
Ich werde in Erinnerungen kramen müssen. Das ist mühsam, das Ergebnis unzureichend. Kaum ist etwas geschehen und wahrgenommen, lagert es sich in ein Archiv. Aber dort bleibt es nicht, wie es geschehen ist. Das Geschehene verändert sich. Lücken entstehen. Versatzstücke bleiben, die neu montiert werden und zu einer veränderten Geschichte werden. Manchmal werden Erinnerungsstücke hineingeflochten, die aus einer ganz anderen Geschichte stammen.
Wie soll es gelingen, sich so zu erinnern, wie es geschehen ist? Die Wahrheit ist nur einmalig, in dem Moment, in dem sie geschieht. Danach ist sie eine Geschichte. Und wenn diese Geschichte aufgeschrieben werden soll, so wie es Dr. Werner wünscht, wird sie in Sprachmuster gezwängt. Dadurch wird sie erzählbar, aber auch immer weniger wahr.
Fest steht, dass es einen Autounfall gab. Dafür gibt es Zeugen, dafür gibt es Zeitungsmeldungen. Diese habe ich erst Monate später gelesen, ebenfalls in einem Archiv, im Archiv der Lokalpresse, an einem Bildschirm.
»In der Mittagszeit geriet ein Kleinlastwagen auf der A 31 zwischen den Anschlussstellen Rhede und Papenburg aus Richtung Süden kommend über die Leitplanken des Mittelstreifens. Das Fahrzeug überschlug sich auf der Gegenfahrbahn, wo es auf der Seite liegen blieb. Zehn Fahrzeuge aus Richtung Norden fuhren in den Transporter hinein, da die Fahrzeugführer offensichtlich nicht rechtzeitig bremsen konnten. Ein PKW brannte aus, die Insassen in diesem Fahrzeug kamen auf schreckliche Weise ums Lebens. Die Insassen weiterer Fahrzeuge wurden teilweise schwer verletzt und mussten mit einem Hubschrauber und einigen Ambulanzwagen in Krankenhäuser der Region und in die Niederlande transportiert werden. Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste waren schnell zur Stelle. Die Autobahn war noch etwa vier Stunden für den Verkehr aus beiden Richtungen gesperrt. Der Gesamtschaden wird auf etwa 900.000 Euro geschätzt.«
Ich war damals der Fahrer des vierten PKW, welchen ich in den aufkreischenden und wummernden Blechhaufen hineinsteuerte. An dieser Stelle oder etwas früher wird meine Erinnerung einsetzen müssen. Die Erinnerung an eine Geschichte, die es niemals geben würde, wenn ich damals gestorben wäre. Der Übergang vom Leben zum Tod war jedenfalls sehr nahe.
Dr. Werner mag diese Geschichte nicht. Dreimal habe ich versucht, ihm zu erzählen, wie alles begann. Beim dritten Mal fuhr er mir in die Parade: »Herr Dr. Ahrmann, diesen Unfall, den sie mir erzählen, hat es tatsächlich gegeben. Kein Zweifel. Sie aber, Herr Dr. Ahrmann, waren zu der Zeit des Unfalls als Oberarzt an ihrem Arbeitsplatz in einem der Krankenhäuser, die einige der Unfallopfer aufnahmen. Auch kein Zweifel.«

Eintrag 3
Selbstverständlich hat Herr Dr. Werner Recht. Aus seiner Sicht. Wenn man mit den Fragen eines Pflichtverteidigers mitten in eine Geschichte hineinsticht, kommen nur die Antworten zutage, die aus der Geschichte herausquellen. Natürlicherweise kann man nicht als Oberarzt in einem Krankenhaus bei der Arbeit und gleichzeitig als Pharmazieagent oder Arzneimittelvertreter in einen schweren Unfall auf der Autobahn verwickelt sein. Kann man nicht. Aus der Sicht eines Rechtsanwaltes.
Wenn man eine Geschichte richtig verstehen will, muss man von Anfang an zuhören. Eine Fähigkeit, die Dr. Werner nicht zur Verfügung hat. Aber es gibt Antworten, zu denen es noch keine Fragen gibt. Um solche Antworten geht es.
Als ich an jenem Morgen Ende September in einem der billigen Hotels für reisende Vertreter aufwachte, wusste ich gleich, dass dieser Tag nicht mein Tag werden würde. Die Sonne lungerte bleiig am Horizont herum und färbte die struppige ostfriesische Landschaft gelblich ein. Es war viel zu warm für die Jahreszeit, wie es Wettermeldungen formulieren würden. Ich hatte an diesem Tag den Besuch mehrerer weit voneinander entfernter friesischer Landarztpraxen vor mir, um wieder einmal auf die Vorzüge von Pillen, Säften und Tropfen aufmerksam zu machen, die in meinem Kofferraum herum gefahren werden.
Das meiste Zeug in den Kistchen, Päckchen, Fläschchen, Ampullen und Dosen, welches in mehreren unhandlichen Packtaschen verstaut war, sollte nach Rezeptur der Landdoktoren für ältere Menschen sein, die in den Wartezimmern hockten und sich auf friesische Art Unverständliches zuraunten. Wenn auf den Rezepten massenweise jene Artikel aus meinen Packtaschen aufgeführt wurden, war meine Aufgabe erfüllt. Den Rest besorgten tüchtige Apotheken an den Straßenecken ostfriesischer Dörfer. Die Alten waren versorgt mit allerlei Kram, schwangen sich aufs Fahrrad und fuhren in ihre Häuser, um sich mit Lesebrille oder Lupe über die Beipackzettel herzumachen.
Ich hasse meinen Beruf. Besser, ich hasste meinen Beruf. An diesem Morgen wurde es mir wieder ganz deutlich. Mein Magen fühlte sich schlecht an. Das bevorstehende Frühstück aus flitschigen Brötchen und warmflüssigem Ei mit Kaffee im Kännchen würde meine Verdauung zusätzlich in Unordnung bringen. Mein Beschluss, mir am Vormittag nur drei Landpraxen zuzumuten und dann gegen Mittag den Heimweg anzutreten, gab mir für kurze Zeit das Gefühl der Freiheit, in bestimmten Augenblicken doch noch über mich selbst bestimmen zu können.
Damit war der Tag geplant. Drei Landärzte, dann die Heimfahrt nach Süden, nachmittags endlich mal wieder frei. - Diese Arrestzelle beweist, dass es anders kam.

Eintrag 4
Alles verlief fast wie geplant. Die Wartezeiten bei den friesischen Ärzten dauerten länger als an anderen Tagen. Möglicherweise erschien es mir auch nur so, weil mein Magen sich schwerer anfühlte als sonst. Aber der Patient ist König, auch bei Arzthelferinnen. Und Arzneimittelvertreter sind wie lästige Fliegen. Sie kommen immer wieder, auch wenn man sie verscheucht. Und so werden sie behandelt.
Gegen Mittag steuerte ich meinen ungewaschenen Wagen durch die feuchtwarme Septemberluft auf der Autobahn Richtung Süden. Die herunter geklappte Sonnenblende verringerte das Sichtfenster der Windschutzscheibe, auf der die Insektenleichen des Sommers durch die Wischbewegungen des Scheibenwischers von Tagen zuvor gut verschmiert waren. Die Windenergieanlagen längs der Straße bewegten sich nur müde im flauen Wind und trugen dazu bei, meine einsetzende Mittagsschläfrigkeit zu verstärken. Anderen Menschen in ihren Karossen ging es offensichtlich ähnlich, denn niemand fuhr wesentlich schneller oder langsamer als ich.
Als etwa dreihundert Meter vor mir ein weißer Kasten aus der Gegenfahrbahn hochstieg und scheinbar für Sekunden auf dem Mittelstreifen der Autobahn in der Luft stehen blieb, musste ich mich aus der Lethargie befreien. Diese Anstrengung dauerte nur etwa eine Sekunde. Dann übernahm mein Organismus. Das Herz pochte wie wild. Ich riss die Augen auf, um noch besser zu erkennen, dass sich ein schlimmer Verkehrsunfall entwickeln würde. Der rechte Fuß suchte die Bremse, traf die Pedalfläche nur halb und trat zu, was die Muskeln hergaben. Gleichzeitig hoffte ich, dass der Fahrer des nachfolgenden Wagens ähnlich abbremsen würde und das Arzneiarsenal in meinem Kofferraum unbeschädigt ließe. Der sonst in einigen Tagen einsetzende Formularkram wäre unvermeidlich. Dass man in solchen Augenblicken auch derartige Nebensächlichkeiten bedenkt, wurde mir erst Tage später klar.
Der weiße Kasten legte sich mit unerwarteter Langsamkeit auf die Fahrbahn. Die Unterseite mit ihren dunkelgrauen Verstrebungen und vier Räder wurden erkennbar. Kurze Zeit später gab es einen wummernden Knall, dann noch einen. Wenige Sekunden danach noch einmal. Auf der Bremse stehend rechnete ich meinen Aufschlag aus, der kurz bevorstand. Die Bremswirkung würde nicht ausreichen, um den Zusammenstoß zu vermeiden, das war sicher. Aber vielleicht ließe sich die Heftigkeit des Stoßes verringern. Als der umkleidete Motorblock meines Autos das Fahrzeug vor mir erreichte und dessen Heck zusammenschob, dauerte es nur einen Moment, als auch das Heck meines Autos krachend und knirschend zusammengeschoben wurde.
Seltsamerweise verspürte ich nicht die geringsten Schmerzen. Offensichtlich war mir nichts geschehen. Aber ein neues Auto würde beschafft werden müssen. Und gut ist, dass ich es nicht vorher noch habe waschen lassen. Das wäre also eingespart, überschlug ich den Gewinn. Etwas Gutes gibt es immer, dachte ich, bevor Dunkelheit und Geräuschlosigkeit einsetzte.

Eintrag 5
Die ebene parkähnliche Landschaft des nördlichen Emslandes lag geräuschlos in der Sonne. Am entfernten Waldrand hoben zwei Rehe gleichzeitig ihre Köpfe und und senkten sie nach einer Weile ebenso gleichzeitig wieder ins Gras. Ohne jeden Laut drehten sich Windräder in der Umgebung, als sei nichts geschehen.
Aus einer Höhe von etwa 12 bis 15 m konnte ich alles beobachten. Die Autobahn unter mir war übersät mit ineinander verschobenen Autowracks und verstreuten Trümmerteilen. Aus einem völlig ausgebrannten Auto in der Nähe eines auf der Seite liegenden Kastenwagens züngelten noch ein paar Flammen. Nach Norden hin hatten sich zahlreiche Autos aufgestaut. Bunt gekleidete Personen liefen zwischen den Fahrzeugen hin und her. Auch auf der anderen Fahrbahn standen einige beschädigte Fahrzeuge auf dem Seitenstreifen, andere Autos fuhren langsam vorbei und setzten ihre Fahrt schließlich beschleunigt fort.
Als sich von Norden her einige Rettungsfahrzeuge mit eingeschaltetem Blaulicht durch eine Mittelgasse, die die Staufahrzeuge gelassen hatten, und ein Helikopter von Westen her der Unfallstelle näherten, vermisste ich die dazu gehörenden Geräusche. Erst jetzt verschuf ich mir allmählich Gewissheit über meinen Zustand. Ich sollte eigentlich verletzt in einem der zusammengeschobenen Autowracks liegen. Tatsächlich aber schwebte ich über diesem Chaos und nahm alles unter mir ohne jedes Geräusch war. Alle Bewegungen erschienen verlangsamt. Ich versuchte meine Arme und Beine zu sehen. Nichts.
Körperlos und offenbar empfindungslos schwebte ich über der Landschaft. Ich benötigte keine Ruder- oder Flügelbewegung, um in der Luft zu bleiben. Um mir eine Rundumsicht zu verschaffen, genügte der einfache Wille oder ein bloßer Gedanke. Ein seltsamer Zustand. Ich erkannte das eigene Auto, konnte jedoch nicht sehen, ob mein Körper noch im Wrack lag. Sind die Aussagen der Philosophen der letzten zwei- bis dreitausend Jahre richtig, dass Körper und Geist voneinander getrennte Wesenheiten sind und nur für die Dauer des Lebens auf der Erde miteinander verbunden werden? Ist nun die Zeit der Trennung angesagt? Was wird aus mir in naher und ferner Zukunft?
Offensichtlich war ich gestorben. Als Geistwesen durfte ich nun körperlos weiterleben. Kein Arzeimittelverkauf mehr, keine billigen Hotels, keine Formulare, keine Schreibereien, keine Erkrankungen, keine Missverständnisse, keine Streitereien, keine Anstrengungen um kleine Pillenverträge, die mir Monatsmiete und Nahrung sicherten. Nur noch Neugier auf die Zukunft, Erwartung und Zuversicht. Schön, dass es auf die eine oder andere Art weitergeht. Wer hätte das gedacht? Ich am allerwenigsten. Offensichtlich wird man auch gnädig bedacht, wenn das Leben nicht immer auf ebenen Pisten ruckelfrei verlaufen ist.
Zwei Rettungshelfer mit orange eingefärbten Westen zerrten an der Fahrertür meines Autos. Mit Mühe gelang es ihnen, sie zu öffnen. Vorsichtig zogen sie meinen Körper aus dem Wrack und legten ihn auf die Fahrbahn. Das war ich. Oder war ich das hier oben, der sich dort liegen sah? Ich hoffte, dass diese Helfer nicht mit ihren unsäglichen Wiederbelebungsversuchen anfingen und mir meinen Logenplatz hier oben streitig machten.

Eintrag 6
Am liebsten hätte ich den Sanitätern, die meinen Körper auf der Fahrbahn untersuchten, zugerufen, dass ich hier oben schwebe. Dass es keinen Zweck habe, nach Leben in diesem toten Körper zu suchen. Dass ich gestorben sei und mit diesem schmerzfreien, empfindungslosen, schwerefreien Schweben sehr zufrieden sei und nichts mehr ändern möchte. Aber ich konnte nichts rufen und die Helfer hätten mich auch nicht hören können. Ich war sicher, dass sie mich auch nicht sahen. Das trennte uns eben. Sie lebten mit ihren Sorgen, Nöten und Eifer und ich war im Begriff, an Überblick und Weisheit zu gewinnen. Eine endlose Zukunft schien vor mir zu liegen.
Warum sie von meinem Körper nicht abließen, erschien mir seltsam. Sie fühlten den Puls, prüften die Halsschlagader, hielten den Flaum einer Vogelfeder vor meine Nase. Macht Schluss, dachte ich. Gestorben ist gestorben. Niemand ist jemals zurückgekehrt. Warum auch? Es geht ja immer weiter. Der Tod ist nur das Ende eines Abschnittes. Man darf sich freuen nach so vielen Jahren der Ungewissheit.
Plötzlich ruderte einer der Sanitäter mit den Armen und rief augenscheinlich etwas. Zwei weitere Rettungshelfer liefen mit einer Trage herbei, die neben meinem Körper auf den Asphalt gestellt wurde. Alle vier Sanis legten mich vorsichtig auf die Trage, die dann mit schnellem Schritt zu einem etwa 40 m entfernt parkenden Rettungsfahrzeug getragen und mit mir hinein geschoben wurde. Durch die geöffnete Tür erkannte ich einen Verletzten, der im Fahrzeug auf den Abtransport wartete.
Ich wunderte mich, wie schnell und unkompliziert ich in das Sanitätsauto hineinschwebte. Heute versuche ich mich zu erinnern, ob es eine bewusste Entscheidung war, lieber doch noch in der Nähe meines leblosen Körpers zu bleiben oder ob es einfach geschah. Ich kann es nicht mehr sagen.

Eintrag 7
Das erste, was ich sah, als ich erwachte, war Dr. Ahrmann, jener Oberarzt Mitte bis Ende 30, der nun in der U-Haft sitzt und diese Papiere beschriftet. Dr. Ahrmann, der einen Text verfasst, als hätte ich ihn geschrieben. Dr. Ahrmann, der beschuldigt wird, einen Mord begangen zu haben. Dr. Ahrmann, der eine Geschichte erzählt, die ihm als phantastische Erzählung ausgelegt wird. Dr. Ahrmann, von dem nichts anderes erwartet wird, als dass er einfach eingesteht, einen Mord begangen zu haben. Jener Arzt, der unter der Last der gegen ihn ins Feld geführten Indizien keine Chance haben wird. Es sei denn, die von ihm aufgeschriebenen Ereignisse stoßen nicht nur auf Unglauben, sondern vielleicht auf den einen oder anderen Zweifel. Auf jene Zweifel, die ihn retten könnten. Auf Zweifel an der Schuld des Angeklagten.
Offensichtlich ist es so, dass, wenn man aus einem mehrere Tage währenden künstlichen Koma erwacht, die erste Person, die sich in der Nähe aufhält, eine Prägung auslöst, als sei man eine Graugans in den Lorenz'schen Feldversuchen. Dr. Ahrmann saß neben meinem Bett und rief leise meinen Namen. Ich brauchte sehr, sehr lange, um mich zu vergewissern, dass ich in einem Klinikbett lag und dass mein Körper mit einer Reihe von Kabeln und Schläuchen mit mehreren Geräten verbunden war.
Erst nach vielen beruhigenden und beschwichtigenden Worten des Dr. Ahrmann, dessen Namen ich erst Stunden später von ihm genannt bekam, setzte eine Erinnerung ein, allerdings erst, nachdem der Arzt fast beiläufig das Wort »Unfall« aussprach. Erinnerungsstücke fügten sich allmählich zu einer Geschichte zusammen, die einen grauenvollen Verkehrsunfall erzählte.
In mir wuchs sehr schnell Vertrauen zu Dr. Ahrmann, der täglich zur Visite kam. An einem der folgenden Tage fasste er den Mut, mir zu sagen, dass meine Heilung zwar Fortschritte mache, dass ich aber mein Leben nach dem Klinikaufenthalt umstellen müsse. Diese Umstellung bezöge sich ganz allein auf die zukünftige Art und Weise der Fortbewegung, die ich für den Rest meines Lebens einem Rollstuhl anvertrauen müsse.
Ich wunderte mich über meinen Gleichmut, mit der ich diese Nachricht entgegennahm. Immerhin war ich der festen Überzeugung, schon eine gewisse Zeit tot gewesen zu sein. Wer aber schon einmal tot war, ordnet alle Probleme des Lebens neu ein. Gleichmut und freundliche Gelassenheit werden zu dominanten Eigenschaften. Eigenschaften, die mir aus dem Leben vor dem Verkehrsunfall nur bei anderen Menschen bekannt waren.
Ich beschloss, die Zeit meiner Heilung zu nutzen, mit Dr. Ahrmann auch über den Tod und über das Leben nach dem Tode zu sprechen. In gewisser Weise war ich schließlich ein Experte auf diesem Gebiet, das ich schon betreten, zumindest aber einmal besichtigt hatte. Der sympathische Mediziner würde mir, so hoffte ich, ein paar Antworten auf Fragen geben können, die bislang unbeantwortet blieben.

Eintrag 8
Zunehmend bestimmten düstere Stimmungen und melancholische Gedanken meine langweiligen Tage. Möglicherweise lag es daran, dass die Heilung langsamer verlief als erwartet, der Termin meiner Entlassung noch unbestimmt und in weiter Ferne lag oder meine Zukunft in einem Rollstuhl doch belastender erschien als vermutet. Der erlebte Schwebezustand über der Unglücksstelle war zudem immer wieder Teil meiner Erinnerungen. Dass ich von gutmeinenden Helfern ins Leben zurückbeordert wurde, obwohl ich doch schon das Leben nach dem Tode genießen durfte, verwirrte mich immer noch und verhalf nicht zu besserer Laune.
Dr. Ahrmann blieb nicht verborgen, dass sich Melancholie und depressive Verstimmung bei seinem Patienten breit machten. Als Ursache vermutete er mein zukünftiges Leben im Rollstuhl. Daher versuchte er, mir eine Vorstellung von der neuen Wirklichkeit zu vermitteln, ohne den Fehler der Schönfärberei zu begehen. Dass sein Vortrag einen bestimmten Gedanken beförderte, der zu einem späteren Zeitpunkt noch bedeutsam für Dr. Ahrmanns heutige Anwesenheit in einer Gefängniszelle sein würde, ahnte ich in diesem Augenblick nicht. Und Dr. Ahrmann erst recht nicht.
Daher versuche ich, den Monolog meines Leibarztes, wie ich ihn mittlerweile insgeheim nannte, so gut, wie es die Erinnerung gestattet, wiederzugeben:
»Lieber Mann, denken Sie daran, wie Sie das Autofahren erlernt haben. Das Gefährt war Ihnen vollkommen fremd. Sie hatten an hundert Dinge zu denken, an die Drehung des Steuerrades bei einer Kurve, an die Pedale unter Ihnen, die rechtzeitig betätigt werden wollten, an die Gänge, die zusammen mit einer Kupplung zu schalten waren undsoweiter, undsoweiter. - Und nun denken Sie an Ihre Autofahrkünste vor einiger Zeit. Das Auto bewegte sich scheinbar mühelos. Ohne Nachzudenken konnten Sie alle Pedale, Schalter und Gänge betätigen. Sie waren in der Lage, beim Autofahren Radio zu hören, sich mit jemandem durchaus konzentriert zu unterhalten, auf die Unachtsamkeiten anderer Autofahrer zu achten, Schilder zur Kenntnis zu nehmen und mehr. Sie wissen, was ich Ihnen sagen will?
Ihr Gehirn hatte die Fähigkeit entwickelt, ein Gesamtmodell von Ihnen und Ihrem Auto zu produzieren. Ähnlich, wie Sie beim Laufen nicht darüber nachdenken, wie Sie das rechte Bein vorsetzen, dabei die Balance prüfen, bevor Sie sich für das linke Bein entscheiden, so ähnlich funktionierte nun auch das Autofahren. Und das bei Geschwindigkeiten, die niemals beim Laufen erreicht werden können. Ihr Gehirn hat aus Ihnen und Ihrem Auto ein Gesamtsystem gemacht, das automatisch funktioniert. Dieses Gesamtsystem wird erst wieder auf Ihren Körper reduziert, wenn Sie Ihr Auto verlassen.
Haben Sie schon einmal einen Kunstflieger betrachtet, der am Himmel mit seinem kleinen Flugzeug die schwierigsten Kunstflugfiguren vorführt? Dieses ist ihm nur möglich, wenn sein Gehirn ihm in dieser Phase simuliert, dass er mit seinem Flugzeug ein lebendiges Gesamtsystem bildet, indem quasi automatische Steuerungen vom Gehirn übernommen werden, ohne dass sich der Flieger bei jeder Kurve oder Wendung bewusst machen muss, was er tun muss, um bestimmte Bewegungen seines Gesamtsystems Pilot-Flugzeug zu bewirken. Es funktioniert einfach von selbst. Das Gehirn hat übernommen und überlässt es dem Flieger, derweil über ganz andere Dinge nachdenken zu können. Und das auch noch mit demselben Gehirn, welches gleichzeitig seinen Herzschlag und seine Verdauung regelt, ohne dass es ihm bewusst gemacht wird. Eine Meisterleistung.«
Dr. Ahrmann redete sich in eine Begeisterung hinein. Ich wusste längst, dass er nun bald auf den Rollstuhl zu sprechen kommen würde. Sein Vortrag hatte kein anderes Ziel, als mir das Leben im Rollstuhl realistisch zu beschreiben. Aber dieser Arzt hatte dabei einen Satz ausgesprochen, der mich in ganz anderer Hinsicht nicht mehr los ließ.

Eintrag 9
Als Dr. Ahrmann, nicht ohne auch noch das Fahrradfahren zu erwähnen, allmählich darauf zu sprechen kam, dass ich in Zukunft mit meinem Rollstuhl ein Gesamtsystem, welches von meinem Gehirn automatisch gesteuert wird, bilden würde, konnte ich mich nur mit Mühe in Geduld fassen.
Ich nutzte daher die nächste Gelegenheit, die sein Vortrag zuließ, um ihn zu unterbrechen. Ich erinnere mich, dass nun ungefähr folgender Dialog zustande kam, ein Dialog, der schließlich in einem Streitgespräch endete:
»Herr Dr. Ahrmann, Sie erwähnten, dass ich während des Autofahrens mit meinem Auto ein Gesamtsystem bilde ...«
»Ich sagte, dass Ihr Gehirn während des Autofahrens ein Gesamtsystem generiert. Auf dieser Grundlage laufen einige Funktionen nahezu automatisch ...«
»Ich habe verstanden. Sie erwähnten auch, dass, wenn ich das Auto verlasse, sich das nun von meinem Gehirn zu steuernde Gesamtsystem wieder auf meinen Körper reduziert.«
»So ist es, jedenfalls ungefähr.«
»Das System besteht in diesem Fall nur noch aus meinem Körper?«
»Ja, aber was wollen Sie damit sagen?«
»Was ist, wenn ich nun auch dieses System verlasse?«
Dr. Ahrmann stutzte. Er atmete tief. Man sah ihm an, dass ihm diese Art der Frage neu war. Nach einer Pause antwortete er:
»Sie können Ihren Körper nicht verlassen. Ihr Gehirn ist mit Ihrem Körper verbunden.«
Ich lächelte ihn freundlich an. Nun ließ auch ich eine bedeutungsvolle Pause zu und sagte schließlich:
»Ich habe meinen Körper schon einmal verlassen.«
Ich genoss seinen verdutzten Blick. Dann erzählte ich ihm von dem Verkehrsunfall, der Ursache für meinen Aufenthalt in dieser Klinik war und besonders ausführlich meine Erlebnisse, die mir einen Blick über die Grenze von Leben und Tod gestattet hatten.
Dr. Ahrmann hörte aufmerksam zu. In seinem Gesicht war nicht das geringste Anzeichen von Spott oder Überheblichkeit zu erkennen, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Als ich endete, sagte er mit leiser Stimme:
»Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass sich alles so zugetragen hat, wie Sie es geschildert haben. Ich möchte versuchen, zu erläutern, was ich darüber denke. Sie sind nicht der Erste, der mir solche oder ähnliche Erlebnisse berichtet.«

Eintrag 10
»Unmittelbar nach Ihrem Verkehrsunfall war Ihr Gesamtorganismus, also Körper und Gehirn, in einer besonders prekären Situation,« erläuterte Dr. Ahrmann und fuhr fort: »Es ging um Leben und Tod. Ihr Gehirn schaltete alle Schmerzreize aus und simulierte eine Vorstellung, wie Sie sie beschrieben haben. Sie schwebten nach Ihrer Empfindung über der Unfallstelle und konnten von oben scheinbar alles sehen.«
»Meine Augen - meine wirklichen Augen - waren geschlossen. Ich habe mich gesehen. Ich habe meinen Körper gesehen und die gesamte Unfallstelle.«
»Eine Simulation Ihres Gehirns.«
»Mein Ich, mein Bewusstsein befand sich über der Unfallstelle im Schwebezustand. Ich habe nicht geträumt. Es war alles sehr real.«
»Ihr Ich, wie Sie es nennen, ist Bestandteil dieser Simulation. Übrigens nicht nur in Stresssituationen, sondern generell.«
»Mein Ich ist eine Simulation meines Gehirns? Ich bin eine Simulation?«
»Ihr Gehirn generiert ein Bewusstsein. Dieses Bewusstsein ist notwendig, damit Sie sich in der Welt angemessen bewegen können. Damit sich Ihr Gehirn in jeder Situation möglichst richtig entscheidet, muss es sich von der Außenwelt abgrenzen. Zu diesem Zweck simuliert es ein Bewusstsein, ein Ich, wie Sie nennen. Dieses Bewusstsein wird von Ihrem Gehirn erzeugt und grenzt Sie mit Ihrer Ich-Empfindung von der übrigen Welt ab. Dieses Bewusstsein als eine Simulation zu bezeichnen ist nicht falsch.«
»Ich war also niemals tot?«
»Nein. Sie wären sonst nicht hier.«
»Was wäre, wenn ich gestorben wäre?«
»Wären Sie gestorben, wäre Ihr Gehirn ohne jede Funktion. Es könnte somit auch kein Bewusstsein generieren.«
»Aber wo wäre ich in diesem Falle?« - Ich betonte das »ich« besonders scharf.
»Wo waren Sie vor Ihrer Erzeugung?«
Dr. Ahrmann genoss die Wirkung seines Arguments. In mir türmte sich ein riesiger Berg voller Widersprüche auf. Ich sollte eine Simulation sein, erzeugt durch ein durchblutetes Organ? Eine Simulation, die sich auf die Socken macht und den Körper verlässt, wenn es eng wird? Nichts weiter? Eine Simulation, die am fernen Waldrand Rehe erkennen konnte, obwohl der Körper mit geschlossenen Augen auf dem Straßenasphalt lag?
Dr. Ahrmann verließ das Krankenzimmer und wünschte noch einen schönen Tag.

Eintrag 11
Mit ein paar hingeworfenen - zugegeben, auf den ersten Blick plausiblen - Argumenten plädierte Dr. Ahrmann offensichtlich für die Sinnlosigkeit des Seins. Der Mensch, seine Selbstachtung, seine Würde, sein Bewusstsein, seine Überzeugungen, seine Erfahrungen, seine Erkenntnisse, seine ethischen Vorstellungen, sein Ich und alles, woran er glaubt - nichts weiter als die Simulation eines qualligen Organs, das Sauerstoff verschlingt und zusammen mit seinen ausgeklügelten Simulationen zerfällt, wenn dieser Sauerstoff ausbleibt?
Das darf nicht richtig sein. Das darf niemals richtig sein.
Wenn die Verlagerung des Ichs, des eigenen Bewusstseins, in einer Todesgefahr - Dr. Ahrmann sprach von einer prekären Situation - aus dem Körper heraus nach außen nichts weiter ist als eine Simulation des Gehirns, eines Gehirns, das die Nähe des eigenen Ablebens verspürt, dann, ja dann ...
Ein Plan reifte heran, langsam nur, allmählich sich verdichtend, schließlich in seiner kalten Konkretheit einfach und klar, wenn man ihn emotionslos betrachtete. In Wirklichkeit jedoch war dieser Plan ungeheuerlich.
Am nächsten Tage, so beschloss ich, würde ich Dr. Ahrmann ein Angebot machen. Ich war sicher, dass er dieses Angebot nach ein paar formal vorgetragenen Widerstandsritualen schließlich annehmen würde. Dr. Ahrmann, der kühle Mediziner, der neugierige Wissenschaftler, er würde es tun.

Eintrag 12
Am nächsten Nachmittag machte Dr. Ahrmann wie immer seine Visite bei mir. Die üblichen Fragen, die üblichen Messungen, Eintragungen in ein Heft undsoweiter.
»Herr Dr. Ahrmann, haben Sie einen Moment Zeit, mich anzuhören?«, trug ich meinen auswendig gelernten Einstieg in einen längeren Monolog vor. Dr. Ahrmann bejahte, nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben mein Bett.
»Herr Dr. Ahrmann, ich möchte im Zusammenhang mit der gestern geführten Diskussion um die Simulationsfähigkeit des Gehirns im Rahmen einer Nahtoderfahrung noch einmal darauf zu sprechen kommen, dass ...«. Die in der schlaflosen Nacht vorformulierten Worthülsen klangen fürchterlich.
»Sprechen Sie einfach drauf los,« machte er mir Mut.
»Also gut,« sagte ich, »... aber lassen Sie mich bitte vollständig ausreden.« Dr. Ahrmann machte eine aufmunternde Handbewegung.
»Ich glaube nicht, dass bei einem nahen Tod das Gehirn das Bewusstsein per Simulation nach außen befördert. Ich glaube, dass es die Seele ist, die den Körper verlässt, verlassen muss. Ich glaube, dass es ein Leben nach dem Tode gibt. Aber Ihre Vorstellung von einer Simulation des Gehirns und meine Vorstellung von einer Seele widersprechen sich. Aber wir können durch ein Experiment herausfinden, was richtig ist.«
Dr. Ahrmann runzelte die Stirn, schwieg aber.
»Wir haben alle technischen Möglichkeiten, diesen Nahtod bei mir erneut herbeizuführen, kontrolliert sozusagen. Ich bin noch an diesen Geräten angeschlossen. Sie brauchen mit Ihren Fachkenntnissen nur ein paar Knöpfe zu bedienen, um meinen Tod herbeizuführen, das heißt, nicht ganz, nur so ein bisschen. Nur so weit, dass ich in eine prekäre Lage komme. Nur so weit, dass mein Gehirn entweder wieder eine Simulation außerhalb meines Körpers generiert - 'generiert' haben Sie gesagt - oder aber meine Seele sich auf den Weg ins Jenseits macht. Dann holen Sie mich mit diesen Apparaten wieder zurück.«
Dr. Ahrmann stand abrupt auf, setzte sich aber wieder.
»Ich erzähle Ihnen dann, wie es war. Vor dem Experiment deponieren Sie im Laborraum, den ich niemals zuvor gesehen habe, einen Zettel mit irgendeinem Text. Ich mache mich als Simulation oder auch als Seele durch alle Wände hindurch ins Labor und lese den Text auf dem Zettel, falls es mir möglich ist. Wenn ich zum Ende dieses Experiments den Zetteltext richtig aufsagen kann, ist mein Ich keine Simulation. Denn mein Gehirn ist noch in diesem Zimmer, meine Augen auch. Nur die Einbildung meines Gehirns ist auf Reisen. Diese kann etwas erfinden, zum Beispiel Rehe am Waldrand oder irgendeinen Zetteltext, keinesfalls aber den richtigen Text.
Bin ich jedoch in der Lage, den Text zum Schluss korrekt wiederzugeben, dann, Herr Dr. Ahrmann, dann verabschieden Sie sich von der Simulationstheorie. Dann, lieber Herr Dr. Ahrmann, dann war etwas ganz anderes unterwegs zum Labor.«
Dr. Ahrmann sprang auf, rückte seinen Stuhl energisch ans Fenster, rief: »Sie sind total verrückt!« und verließ schnaubend das Zimmer. Ich wusste, dass der Fisch an der Angel hing. In den nächsten Tagen hieß es: »Ziehen und Leine lassen.«

Eintrag 13
Das System »Ziehen und Leine lassen« verlief dann doch nicht so, wie ich erwartete. Dr. Ahrmann machte in den folgenden Tagen seine Visiten, war kurz angebunden, verließ immer schnell das Zimmer. »Wir machen Fortschritte,« war seine regelmäßige Schlussbemerkung.
Am fünften Tag nach dem Angebot für das Nahtod-Experiment kam Dr. Ahrmann Stunden nach der Visite noch einmal in mein Zimmer und stellte sich neben das Bett. Er sah mich fest an: »Wann machen wir es?«
Meine Antwort war seit Tagen vorbereitet: »Sobald wie möglich.« - Ich freute mich auf das Experiment. Der Schwebezustand am Unfallort war ständig in meiner Erinnerung und löste ausschließlich ein gutes Gefühl der Leichtigkeit und der Zuversicht aus.
»Heute abend,« sagte Dr. Ahrmann und verließ wieder den Raum. Ich hatte volles Vertrauen zu diesem Arzt und zu der bevorstehenden Seelenwanderung, die schließlich im Gegensatz zu der Situation bei diesem schrecklichen Verkehrsunfall unter kontrollierten Bedingungen verlief.
Gegen 21.00 Uhr betrat Dr. Ahrmann wieder das Zimmer.
»Sie wollen es wirklich?«, fragte er.
»Nichts lieber als das,« antwortete ich mit fester Stimme.
»Legen Sie sich ganz zurück und entspannen Sie sich.« - Er machte sich an den Geräten zu schaffen.
Ich versank ins Dunkle wie bei einer Narkose. - Als ich erwachte, schwebte ich an der Zimmerdecke. Ich sah meinen Körper im Bett liegen und Dr. Ahrmann intensiv mit den Geräten beschäftigt. 'Alles läuft wie geschmiert,' dachte ich. 'Es ist wunderbar.'
Ich genoss noch kurz den Augenblick und erinnerte mich dann an meine Aufgabe. Die Durchdringung der geschlossenen Tür machte keine Probleme. Auf dem Flur huschte eine Nachtschwester herum. Sie bemerkte mich nicht. Selbstverständlich nicht. Ich folgte federleicht und immer einen halben Meter unter der Flurdecke den Weg zum Labor gemäß den Angaben meines Leibarztes. Auch die Labortür war kein Hindernis. 'Auf dem Rückweg nehme ich den direkten Weg durch die Wände,' dachte ich.
Unübersehbar auf einem Labortisch lag ein Zettel. Als ich den Text las, bestätigte sich meine gelegentliche Vermutung, dass Dr. Ahrmann bisweilen zum Zynismus neigte. Dort stand in großen Lettern, von einem Drucker ausgespuckt, der Satz: »Es gibt ein Leben vor dem Tod.«

Eintrag 14
'Dieser Arzt ist nicht nur ein Zyniker sondern auch ein Idiot,' dachte ich. 'Wie kann man nur einen solchen Text auswählen?' Ich erinnerte mich an diesen Satz, als Buchtitel vielleicht, als Filmtitel etwa, vielleicht auch nur ein Zitat aus irgendeiner Aphorismensammlung. Wie sollte so ein einfältiger Text als Beleg für die Existenz einer Seele oder einer Gehirnsimulation gelten? Ein solcher Satz hätte schon länger in irgendeinem meiner Gehirnlappen gewesen sein können, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre. 'Warum hat er keinen fremden Text oder irgendeinen Code, von mir aus auch chinesiche Schriftzeichen genommen?', dachte ich. Eine kleine Hoffnung bestünde darin, dass mir dieser Arzt bestätigt, dass ich den richtigen Text gelesen habe. 'Ich werde diesen Kerl irgendwann dazu überreden müssen, das Experiment zu wiederholen.'
Ich schwebte ohne Probleme durch die Wand auf den Flur und sah über meiner Zimmertür ein Licht blinken. Am Flurende öffnete sich eine Tür. Zwei Schwestern und schließlich noch ein Pfleger stürzten den Gang entlang und rissen die Tür meines Zimmers auf. Schwebend folgte ich ihnen.
Dr. Ahrmann beschäftigte sich hektisch mit den Geräten, rüttelte an meinem Körper, drehte wieder einige Knöpfe und legte Schalter um. Mit einer seltsamen Ruhe nahm ich wahr, dass wohl etwas schief ging. Hektische Wiederbelebungsversuche. Eine Schwester rannte weg und kehrte mit einem Gerät voller Kabel zurück, die an meinem Körper angelegt wurden. Beim Einschalten bäumte er sich mehrere Male heftig auf.
Erschöpft gab man nach vielen Minuten schließlich auf. Dr. Ahrmann schaute zur Decke und sank plötzlich langsam ohnmächtig zu Boden.
Mit stoischer Gelassenheit stellte ich fest, dass ich offensichtlich tot im Bett lag. Eine Rückkehr in diesen leblosen Körper schien vollkommen aussichtslos. Trotz der chaotischen Situation bewegte mich seltsamerweise die Frage, was meine Schwebeexistenz denn nun wirklich sei, Simulation oder Seele. Schließlich konnte ich das Ergebnis meiner Textexegese in diesem Moment nicht mit Dr. Ahrmann austauschen. Ich hatte das Gefühl, dass ich - zumindest für eine Übergangszeit - einen Körper brauchte. Nur für eine Übergangszeit. Nur für eine kurze Zeit.
Dr. Ahrmann lag noch immer bewusstlos auf dem Boden.

Eintrag 15
Als ich aus der Ohnmacht erwachte, wurde ich von den Schwestern und dem Pfleger aufgerichtet. Ich hatte das Gefühl, dass ich Dr. Ahrmann schützen musste und rief mit seiner Stimme und aus seinem Mund: »Dr. Ahrmann hat das in meinem Auftrag getan. Dr. Ahrmann hatte meine Genehmigung. Dr. Ahrmann hatte meine Erlaubnis. Bitte, lassen Sie mich los.«
»Er ist verwirrt,« sagte eine Schwester.
»Was hat der Doktor da nur machen wollen?«, fragte der Pfleger.
»Was immer er dort hat machen wollen, der Patient ist tot.«, war die Antwort.
»Der Patient lebt.«, rief ich. »Hier bin ich. So begreifen Sie doch.«
Niemand begriff.
Die nun folgenden Zeilen sind direkt an meinen Pflichtverteidiger Herrn Dr. Werner gerichtet:

Lieber Herr Dr. Werner,

Sie haben nun meine Geschichte gelesen. Ich hoffe, dass Sie damit über genügend Material verfügen, um darauf meine Verteidigung aufzubauen. Ich beneide Sie nicht. Vermutlich werde ich als Dr. Ahrmann verurteilt, der einen seiner Patienten aus ungeklärten Gründen in den Tod geschickt hat, indem er die lebenserhaltenden Geräte ausschaltete. Vermutlich werden ihm einige Dinge zugute gehalten, da medizinische Gutachten ausweisen werden, dass der Angeklagte an einer schweren Persönlichkeitsstörung leidet und sich häufig mit seinem Opfer identifiziert.
Sie, Herr Dr. Werner, wissen es nun besser, sofern Sie mir glauben. Das Gericht aber werden Sie wohl kaum von dieser Geschichte überzeugen können.

Ihr Dr. Ahrmann

Jedenfalls nennen mich alle so.


© Rolf Kirsch


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Beschreibung des Autors zu "Das Experiment"

Kurzgeschichte




Kommentare zu "Das Experiment"

Re: Das Experiment

Autor: LunaeLumen   Datum: 06.04.2013 22:19 Uhr

Kommentar: ich fand die kurzgeschichte sehr fesselnd.wirklich super geschrieben =)

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