Nur ein Glas Wasser!

Der erschöpfte Wanderer war froh, dass er in der brütenden Hitze an diesem heißen Sommertag endlich am Ende der langen, staubigen Straße einige Gebäude entdeckte. Inzwischen war er in Schweiß gebadet und hatte schon längst jede Orientierung in diesem abgelegenen Fleck Erde verloren, weil er sich ganz und gar auf das Navi seines Handys verlassen hatte.

Aber das hatte ihn verlassen, bzw. dessen Akku, der auf einmal leer war. Und mit Wander­karten wusste ein moderner Mensch, für den er sich hielt, nichts mehr anzufangen. Er benutzte sie schon lange nicht mehr und hatte deshalb auch keine bei sich, als er sich verlaufen hatte. Auch keinen Kompass, denn auch dafür hatte er eine Kompass-App auf seinem Handy. Aber damit war es jetzt wohl auch nichts mehr, mit einem leeren Akku.

Also war er froh, dass er dort in der Siedlung am Horizont endlich jemanden nach dem Weg fragen und vielleicht sogar noch einen Schluck Wasser bekommen konnte. Denn auch seine Wasserflasche war schon seit einiger Zeit leer und weit und breit war keine Möglichkeit in Sicht, diese aufzufüllen. Er hatte in­zwischen einen Höllendurst, der ihm fast jede Kraft für ein zügiges Voranschreiten raubte.

Entsprechend hoffnungsfroh war er beim Anblick dieses Ortes, hier, weitab, wie ihm vorkam, von jeder Zivilisation und er freute sich sehr, als er sogar eine kleine Gaststätte mit ein paar Stühlen und Tischen zwi­schen den Gebäuden entdeckte. Als er Platz genommen hatte und bestellen wollte, sah ihn der Kellner und erkannte den neuen Gast am Tisch sofort wieder.

Es war der Steuerinspektor, bei dem er vor einiger Zeit seine Steuererklärung auszufüllen hatte, was ihm damals gewaltige Mühe bereitete. Diesem Mann wollte er, das beschloss er ganz still für sich, jetzt mal ei­nen kleinen Streich spielen und sich auf diese Weise für das bei ihm "bedanken", was er damals in dessen Büro erleben musste. Natürlich ließ er sich nichts an­merken und ging ganz freundlich auf den durstigen Gast zu,

"Was wünschen der Herr?", fragte er den durstig am Tisch Sitzenden. Der Gast überlegte nicht lange, son­dern bestellte einfach nur ein Glas klaren Wassers, das er jetzt am dringendsten vermisste. Er spürte das kühle Getränk schon seine Kehle hinunterfließen und war entsprechend ungeduldig, als der Kellner nach­fragte. "Wünschen der Herr ein Wasser der Marke "xy" oder "yx" oder von vielleicht von.?" Aber diese Frage blieb nicht die einzige und letzte Frage. Im Gegenteil!

Der Kellner fragte den Gast, der immer ungeduldiger wurde, über tausend Einzelheiten, die der Kellner of­fen­bar für wichtig hielt, die den ungeduldigen Gast aber zunehmend nervöser machten. Doch der Kellner ließ nicht locker, sondern wollte es ganz genau wissen und fragte immer weiter. Er wollte auch genau wis­sen, ob er, der Gast, besondere Wünsche, Gewohnheiten, Empfindlichkeiten oder Krankheiten habe, auf die zu achten seien.

Der Gast verstand die Welt nicht mehr. Was wollte dieser Kellner von ihm? Wollte er ihn ärgern oder war er so strohdumm, nicht zu verstehen, dass es ihm, dem Gast, einfach nur darauf ankam, schnellstmöglich sei­nen ständig weiter anwachsenden höllischen Durst zu löschen. Alles andere war im Moment vollkommen unwichtig. Nur diesen unerträglichen Durst wollte er löschen.

Trotzdem hielt er seinen immer größer werden­den Ärger doch lieber unter Kontrolle, denn er wollte es mit diesem Kellner ja auch nicht verderben und am Ende womöglich wegen Unver­schämtheit aus dem Lokal gewiesen werden.

Und so zog sich der Dialog hin. Die Sonne ging langsam unter und die Dämmerung trat ein. Der Gast saß im­mer noch am Tisch und der Kellner fragte immer noch. Der Gast wusste nicht mehr, was er noch tun sollte und war der Verzweiflung nahe.

Langsam war die Dunkelheit eingebrochen und die Straßen­laternen hatten sich eingeschaltet. Von kurzen Unterbrechungen abgesehen, in denen der Kellner verschwand, um andere Gäste zu bedienen, erkundigte sich der Kellner weiterhin, wie er sagte, streng nach Vorschrift des Amtes für gesunde Ernäh­rung, nach den Befindlichkeiten des durstigen Wanderers, der nicht mehr ein noch aus wusste.

Als er dann noch mit ansehen musste, wie andere Gäste, die lange nach ihm gekommen waren, genüsslich ihre Getränke zu sich nah­men, war er am Ende seiner Kräfte. Er rannte voller Verzweiflung auf die Straße zurück, von der vor einigen Stunden gekommen war.

Der Kellner, der den Gast aber nicht ohne Erklärung für sein Verhalten ziehen lassen wollte, rief diesem nach, ob der Wanderer sich denn nicht mehr erinnern könne, an ihn, den Kellner, als er vor einigen Wochen bei ihm im Steuerbüro des nunmehr flüchtenden Gastes war, um nur seiner Pflicht als einfacher Bürger nachzukommen.

Dort saß er damals, vollkommen eingeschüchtert vom Glanz und Pomp um ihn herum und musste erleben, was mit ihm geschah, als er seine Steuererklärung für sich, seine Familie mit zwei Kindern und seine kleine Garten-Lokalität pflicht­gemäß und ordentlich aus­füllen wollte.

Er sollte in diesem Steuer-Fragebogen alle Fragen der Welt beantworten, als kleiner einfacher Mann, der nichts anderes besaß als diesen winzigen Gasthof mit nur geringem Einkommen aufgrund der wenigen Gäste, fernab der Großstadt und auch sonst nur mit wenig Hab und Gut,

Er sollte darin beantworten, ob er Besitz im Ausland und wie viele Angestellte er hatte. Und ob diese in Vollzeit oder in Teilzeit bei ihm arbeiten. Ob er Landwirtschaft, eine Bank, einen Konzern oder die Her­stel­lung von diesem und jenem betrieb und ob diese hergestellten Produkte Genehmigungs-, Ausfuhrsteuer- oder Einfuhrsteuer-pflichtig waren. Und wenn ja, warum und seit wann.

Er hatte dort im Steuerbüro stundenlang gesessen und gegrübelt, an welcher Stelle er was mit Ja oder Nein oder sonst was beantworten sollte. Denn schließlich wurden falsche Angaben mit allerlei Strafen be­droht. Kei­ner hatte ihm damals geholfen. Nicht der Steuerinspektor, der ständig neue Leute empfing und wieder ver­ab­schiedete und auch sonst niemand. Er saß dort einfach als ein kleiner verschüchterter Mann und war vollkommen überfordert von den vielen Fragen über Dinge, von denen er nie zuvor in seinem Leben etwas gehört hatte.

Das alles rief der Kellner dem Gast hinterher, als dieser voller eigener Verzweiflung schließlich in der Dunkel­heit der Nacht verschwand.

Dann wandte er sich wieder seinen Gästen zu, die es mit diesem Steuerinspektor ebenfalls schon oft genug zu tun gehabt hatten und durchaus die Gefühle und Gedanken des Kellners nachempfinden konnten. Sie dank­ten sogar ausdrücklich dem Kellner, voller Verständnis, für diese Lektion, die er diesem Inspektor soe­ben er­teilt hatte.

Es wurde noch ein äußerst lustiger und gemütlicher Abend für alle, die sich dort versammelt hatten und gemeinsam der Ansicht waren, dass es die Obrigkeit manchmal wirklich zu weit trieb mit dem Geld eintrei­ben bei den kleinen Leuten, das dann am Ende für Waffen und in den Taschen von zweifelhaften Personen und Konzernen landete. Ihnen selbst und den Nöten und Sorgen von einfachen Bürgern wurde dagegen wenig Verständnis ent­ge­gen­ge­bracht.

Man erkennt daran, dass es nicht nur Kellnern mit kleinen einfachen Lokalen auf dem flachen Land so zu gehen scheint, denn einige der Gäste waren Touristen aus großen Städten mit durchwegs höherer Bildung, die vollkommen gleicher Meinung waren und den Kellner für sein Handeln feierten.


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© (C) Chris Krönig


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Beschreibung des Autors zu "Nur ein Glas Wasser!"

Was ist schlimmer? Durst an heißen Tagen oder manche Steuerfragen?

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