Zeitweise war beherrscht sie vom Gedanken,
dass jeder sie begehrte, und den ranken
und liebestollen Leib versenkt' sie dann

mit eil'gen Gesten, plötzlichem Erschlaffen
in Linnen und Damast. Und in den Bann
zog ihre Anmut uns, die kindliche des Affen.

"Les fleurs du mal" Baudelaire



Das beste an ihr war, dass sie mir nicht sagte, dass sie mich durchschaute.
"Eigentlich finde ich Cafés schrecklich", sagte ich und wartete auf ihr "So?"

"So?", sagte sie, "dann wollen wir gehen". Ich zahlte und wir gingen auf die Tür zu. "Ich bin mit dem Auto hier", sagte sie, "hast du einen Führerschein?" Ich verneinte, „wie sollte ich den als Student bezahlen?!“ Sie lachte. "Wenn ich fahre, habe ich das Recht, dich dahin zu fahren wohin ich möchte". Wir stiegen ein.

Sie hatte eine Villa im Grunewald. Das Haus war im altenglischen Landhausstil gebaut. An der Außenmauer führte ein großer Kamin nach oben, der mit Efeu überwuchert war. Hinter dem Haus standen die Bäume dicht an dicht. Wie ein Märchenwald. Die untergehende Sonne spannte hinter den Spinnweben einen bronzenen Grund zwischen den Stämmen aus und machte aus den Blättern, die auf dem kleinen Teich schwammen, welke Schiffe, die planlos durch das Glück kreuzten.

Wir waren in das Zimmer getreten und ihr Blick glitt zärtlich über den kleinen Biedermeiersekretär, der in einer Ecke stand, über die zierlichen Sessel und ein Tischchen, dessen Oberfläche glänzte als sei sie feucht. Die Farben der Stoffe waren vollendet aufeinander abgestimmt, verblasstes Violett und Zimt herrschten vor. Herbstfarben.

"Ich werde Tee kochen", sagte sie, "setz dich doch, oder schau dir die Bücher an, während ich kurz in die Küche gehe". Ich ging zu einem Nebenraum, in dem die Bibliothek untergebracht war. Die Regale reichten bis unter die Decke. Es machte mir Spaß, die Bücher halb herauszuziehen, die zu meiner Stimmung passten. Die "Rue Morgue" Gedichte von Benn, Schnitzlers "Reigen", den "Törless" von Musil und Baudelaires "Les Fleurs du Mal".

Dann setzte ich mich in einen der Sessel. Vor dem Fenster weinte ein Vogel immerzu den selben Satz, und die Blätter dröhnten, wenn sie ins Gras stürzten. Die Schatten der Zweige vor dem Fenster gingen wie Hände hin und her, und ich fragte mich, wie lange ich das wohl aushalten konnte. Alles das hier, den weinenden Vogel, die Spinnweben, die feuchte spiegelnde Oberfläche des Tisches und das geschwärzte Silber ihrer Augen.

In diesem Augenblick kam sie mit dem Tee zurück. Duftender Earl Grey. "Soll ich Kaminscheite nachlegen?" fragte sie. "Wenn Sie Scheite nachlegen, bin ich verloren", hörte ich mich sagen, und erschrak über diesen idiotischen Satz. "Man ist so selten verloren".

Dann war ihre Stimme ganz nah. "Hab keine Angst. Nach dem Frühling kommt der Sommer", sagte die Stimme irgendwo an meiner Schulter. Und dann merkte ich, dass ich sie geküsst hatte. "Madame, ich liebe Sie", sagte ich. "Kleiner Heine", sagte sie sanft und streichelte mir über die Schultern. "Hoffentlich halte ich das durch", dachte ich. "Mein Oktavian", flüsterte sie an meiner Schulter und ihre Stimme klang weich wie Regenwasser, das über rundgewaschene Steine fließt.

"Vielleicht wartet sie darauf, dass ich sie ausziehe. Ich kann sie doch nicht einfach ausziehen", schoss es mir durch den Kopf. Ich schaute ihr direkt in die Augen. Sie waren von einem Kranz kleiner Fältchen umgeben. Wie kleine Sonnen. "Mein Gott", dachte ich, "sie ist alt". Das herunterbrennende Kaminfeuer zog mir die Hitze in die Schläfen.

Sie hatte wunderbare Hände, aber ihre Haut war dünn und hell. Wie Papier. Wir gingen ins Schlafzimmer hinüber, sie rückwärts, wobei ihre Hände auf meinen Schultern lagen. Ich küsste sie, und sie zog mir den Pullover über den Kopf. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die warme Wolle auf dem Boden lag. Ich öffnete ihr Kleid. Sie schüttelte sich unmerklich, so dass es an ihr hinunterglitt. Mit ihren papierkühlen Händen umfasste sie meine Oberarme und ging rückwärts.

Und dann geschah das Unfassbare.

Ihr Gesicht verwandelte sich langsam aber unaufhaltsam. Ihre zart geschwungene Nase wurde flach, ihr Mund breit. Ihre Lippen sprangen vor, das Kinn floh zurück. Die Arme wurden länger und länger. Ihre Hände hatten plötzlich keine Daumen mehr sondern nur fünf gestreckte Finger. Sie entfernte sich immer weiter von mir, wobei ihre Hände, auf denen man jetzt deutlich die braunen Altersflecken sah, meine Oberarme weiter umfasst hielten. "Komm, kleiner Oktavian!" rief sie gurrend. "Oktavian, tavian, pavian!" rief der Vogel vor dem Fenster.

Die Frau war jetzt fast vollständig verwandelt. Sie lockte. Ihre Hände lösten sich von meinen Armen, sie hüpfte zum Bett und sprang hinauf. Jetzt saß sie auf den Satinbezügen, wobei sie sich mit den Handrücken aufstützte. "Du hast ja keine Haare, du Affe", dachte ich. "Komm, kleiner Oktavian!", flüsterte das haarlose Äffchen. "Pavian, Pavian!" weinte der Vogel vor dem Fenster.

Ich stürzte mich auf sie. Unsere Körper gerieten ineinander. Mit angestrengten, lächerlichen, äffischen Bewegungen ritten wir in die Dunkelheit hinein.

Als ich dann später in der Nacht aufwachte, sah ich sie neben mir liegen. Sie hatte die Fäuste geballt und schnaufte leise wie ein Tier. Sie fühlte sich warm an und roch leicht nach dem Vorangegangenen.

Da ging ich hinter das Haus und erbrach Herbst.


© mychrissie


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Beschreibung des Autors zu "Frühlingsende"

Rückerinnerung an ein lang zurückliegendes Erlebnis als Student

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