Pünktlich fährt die S-Bahn der Linie Eins in den Bahnhof ein und, der fortgeschrittenen Uhrzeit geschuldet, finde ich unmittelbar einen Sitzplatz. Direkt neben einer älteren Dame nehme ich Platz und stelle meine Tasche in den Fußraum zwischen meinen Beinen ab. Auch Pünktlichkeit der Bahn und erfolgreiche Sitzplatzsuche trösten mich nicht über meinen Ärger hinweg, der mich durchfährt, als ich feststelle, dass der Akkustand meiner Bluetooth-Kopfhörer niedrig ist. Das Einzige, was meine alltägliche halbstündige Bahnfahrt morgens in der Frühe erträglich macht, ist für mich die Tatsache, dass ich zur Beruhigung meiner selbst den Klängen meiner Lieblingsmusik lauschen kann. Doch statt dem gewünschten deutschem Hip-Hop erreichen nun plötzlich schiefe Töne eines Akkordeons mein Trommelfell. Ich rolle mit den Augen, schließe sie daraufhin und lehne mich entnervt zurück. Parallel dazu richtet sich meine Nebensitzerin auf, sie scheint die Akkordeon-Adaption eines Klassikers von Simon and Garfunkel doch anscheinend tatsächlich zu genießen. Ich seufze. Gerade als ich begonnen hatte die Musik auszublenden und mich gedanklich auf die anstehenden, anstrengenden Stunden einzustellen, verstummte sie auch wieder. Ein schäbig gekleideter Mann mit Akkordeon bewaffnet betritt, den Teilabschnitt des Zuges, indem die pelztragende Dame und ich unseren Platz haben. „Bitte, für die schöne Musik, danke“, gibt er in äußerst gebrochenem Deutsch zum Besten. Er hat eine viel zu große Jacke an und eine Cordhose, die am rechten Knie ein beträchtliches Loch hat. Seine Haare sind filzig, fettig, schlicht ungepflegt, doch auf den ersten Blick ist sein Kiefer noch mit allen Zähnen ausgestattet. Der scheinbar tadellose Zustand seines Gebisses trübt den Schein eines authentisch Bedürftigen. Zumindest kann ich mir damit sein extremes nuscheln erklären, bei dem er die Lippen kaum öffnet. Obwohl seine Bitte jegliches Verb vermissen lässt und er den Dank schon präventiv anfügt, kramt meine Nachbarin in ihrer ledernen Geldbörse die eine oder andere große Münze heraus und lässt sie in den dafür bestimmten Kaffeebecher aus Pappe plumpsen. Ich seufze tief und rolle erneut mit den Augen. Der Mann verkneift sich ein Lächeln auch als die Frau ihre Hand auf seine legt, die noch immer den mittlerweile bestimmt über fünf Euro schwereren Kelch hält. Im Zuge dieser Aktion rutscht sein Jackenärmel einige Zentimeter nach oben, wobei ein weiteres trügerisches Detail seiner Existenz zu Tage tritt. „Schöne Uhr tragen sie da, war bestimmt teuer.“, partizipiere ich mich am sich hier abspielenden Szenario. Während die Dame mich verdutzt anblickt, hat der Musiker längst Lunte gerochen geht schnell weiter und profitiert davon, dass wir gerade angehalten haben und er durch Verlassen des Zuges der peinlichen Situation entfliehen kann. Sie blickt mich fragend an, doch ich lehne mich wieder zurück und lege meinen Kopf auf die Kopfstütze: „Wenn er ihnen noch öfters begegnet kann er sich bestimmt bald noch eine IWC kaufen.“ Ich lache kurz abfällig und schließe die Augen, allerdings kann ich mir gut vorstellen, wie es in der Dame brodelt, wie ihre braunen Augen Feuer gefangen haben, dass sie nur die richtigen Worte sucht um diesem kleinen aufmüpfigen Bengel neben sich die passende Antwort an den Kopf zu werfen. Ich jedoch reagiere schnell genug und ziehe meine Kopfhörer über. Zwar kann ich keine Musik hören, entgehe mit diesem Schachzug, aber zumindest jedweder Konversation. Ich fahre schweigend damit fort mich die verbleibende Dauer der Fahrt auf die heutigen Vorlesungen vorzubereiten, was mir zugegebenermaßen, vor dem Hintergrund des gestrigen Abends, schwer fällt. Also bin ich einfach froh, als Esslingen, der Name meines Zielbahnhofs, durch die Lautsprecher ertönt, da ich nunmehr fast angekommen bin, endlich.


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Hier ist der zweite Teil der Geschichte. Viel Spaß

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