Fortwährend konsterniert betrachte ich mich, nur in einer Unterhose bekleidet, im Badezimmerspiegel. Meine glasigen Augen, ein flaues Gefühl im Magen und einzelne Erinnerungsbruchstücke sind alles, was mir vom gestrigen Abend noch geblieben ist. Der Blick durch das kleine Dachfenster des Badezimmers bestätigt das, was der Wecker bereits impliziert hatte. 5:55Uhr. Es herrscht stockfinstere Nacht, nicht einmal ein Restlichtverstärker hätte bei einem Blick aus dem Fenster etwas anderes verraten, als dieses tiefe bedrückende schwarz. Ich muss mich einen Moment setzen, um die Übelkeit, die der Alkoholkonsum des letzten Abends in mir generiert, zu überspielen. In diesem Moment spricht nichts, aber auch gar nichts dafür jetzt in die Uni zu gehen, gestehe ich mir ein. Also gehe ich zurück in mein Bett, das mich herzlich mit Wärme und Geborgenheit begrüßt. Fast noch ehe ich die Augen schließen kann, falle ich in einen tiefen Schlaf.
Ich wache erneut auf, als die ins Zimmer einfallende Sonne mit Unterstützung der Heizung mich daran erinnert welch schrecklichen Durst ich eigentlich haben sollte. Innerhalb weniger Sekunden wird diese Erinnerung erfolgreich von meinem Organismus verarbeitet und ich bekomme Durst. Ich liebe mich dafür, dass ich mir gestern Nachmittag in weiser Voraussicht eine Flasche neben das Bett gestellt habe, die ich nun in zwei Zügen leere. Neben der Durstlöschenden Wirkung bewirkt das trinken des Wassers auch, dass mein Kopf wach wird. Dieser Prozess wird noch von der Tatsache beschleunigt, dass das große moderne Ziffernblatt meiner Schlafzimmeruhr mir signalisiert, dass es noch nicht zu spät ist der Uni heute doch noch einen Besuch abzustatten. Also quäle ich mich, von Kopfschmerzen geplagt, in fast provokant langsam wirkender Gelassenheit, in eine frische Calvin Klein Unterhose, eine graue Hose und ein hellblaues Hemd und mache mich auf in die Küche. Im vorbei gehen schnappe ich mir Tasche und Mantel, sowie einen Strickpullover, den ich noch auf der Treppe in Richtung Küche überstülpe. „Ordentlich sieht zwar anders aus, aber...“, denke ich mir. Ganz oben auf der Prioritäten-Liste, die ich noch abarbeiten sollte, bevor ich schon in sechs Minuten zur S-Bahn aufbrechen muss, steht die Einnahme von Aspirin. Dessen langsamer Lösegeschwindigkeit geschuldet streiche ich Punkte wie Frühstück zubereiten oder Zähne putzen von der Liste. Ich leere auch dieses Glas in zwei Zügen, schüttle mich wegen des Geschmacks kurz, ziehe den Mantel über und verlasse das Haus, nach der obligatorischen, kurzen Anwesenheitskontrolle von Handy, Schlüssel und Geldbeutel in meinen Hosentaschen. Letzterer zaubert mir jetzt auf dem Weg zur Bahn das erste Mal heute ein Lächeln auf das Gesicht, anders als man es kennt, scheine ich gestern erfreulicherweise nahezu kein Geld ausgegeben zu haben. So laufe ich mit versöhnlicher Mimik einem neuen Tag entgegen.


© derGeschichtenDalaiLama


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Beschreibung des Autors zu "Der Letzte, der sie lebend gesehen hat?"

Das ist der erste kurze Teil einer etwas umfangreicheren Geschichte, die ich falls gewünscht kapitel-weise veröffentlichen werde.

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Kommentare zu "Der Letzte, der sie lebend gesehen hat?"

Re: Der Letzte, der sie lebend gesehen hat?

Autor: Seelenschreiberin   Datum: 07.10.2017 21:51 Uhr

Kommentar: ja bitter mehr davon

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