Unaussprechlich (Eine Sequenz)

Ralf wusste, dass er viel riskierte, als er wagte Chiara offen zu sagen, was er empfand:
„Geliebte … Schmerz und Enttäuschung verdunkeln nicht nur deine Seele … auch meine verkümmert in ihren Schatten.“
Er sah die Betroffenheit in ihren Augen.
„Ich weiß“, flüsterte sie und senkte den Blick.
„Bitte, sag‘ mir endlich, was ich tun kann. Ich ertrage dein widersprüchliches Verhalten nicht mehr. Ich will nicht, dass wir gemeinsam daran zerbrechen. Also, erkläre es mir, rede mit mir … sprich!!“
Sein energischer Ton ließ sie zusammenfahren.
„Du kannst nichts tun! Gar nichts! Außerdem fühle ich mich dadurch unter Druck gesetzt …“
Verständnislos schüttelte er den Kopf.
„Du machst es dir zu leicht. Was m…?!“
„Zu leicht?!“, unterbrach sie ihn harsch, „du hast keine Ahnung, was ich durchmache!“ Panik stieg in ihr auf. Sie hatte sich zu früh verliebt. Sie war noch nicht so weit. Niemals würde sie ihm auch nur ein Sterbenswort davon erzählen! „Lass‘ es uns hier beenden. Ich will das alles nicht mehr, ich kann mich nicht auch noch um deinen Seelenfrieden kümmern. Das schaffe ich nicht. Bitte … lass‘ uns hier und jetzt leb‘ wohl sagen, Ralf.“
Ralf glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. Er baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf. Er wollte keine Schwäche mehr zeigen.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“
„Doch“, kam es tonlos aus ihrem Mund.
„Natürlich! Ich sagte doch, dass du es dir zu einfach machst! Bloß nicht vertrauen, bloß keine Offenheit, bloß nichts riskieren – es könnte ja alles noch schlimmer werden … Gratuliere zu deinem Entschluss, Chiara!“
Sein sarkastischer Unterton bohrte sich in ihr Herz.
„Noch schlimmer geht es kaum, aber noch mehr von diesem Schlimmen … das ist mir zu viel“, entgegnete sie müde.
„Und unsere Liebe?!“ Ralf bemühte sich um Fassung.
„Vielleicht können wir sie bewahren, bis ich mich aus dem Dunkel befreit habe? Bis ich Antworten gefunden habe und zur Ruhe gekommen bin?“ Ihre versöhnlichen Fragen erreichten ihn nicht.
Ralf war verbittert – sie hatte ihn nie wirklich geliebt, dessen war er sich in diesem Moment sicher.
„Ich verspreche dir nichts – ich kann es nicht.“ Er atmete hörbar ein und aus, um Kraft zu sammeln. „Also dann … wenn du mir nicht vertrauen kannst … lebe wohl, Chiara.“
Ihre Liebe war noch zu frisch und neu, als dass sie die notwendige Tragfähigkeit gehabt hätte.
Seine Rechte strich zum Abschied über ihren Oberarm. Bedauern zeigte sich deutlich in dieser letzten Geste. Dann wandte er sich entschlossen um und ging.
Die untergehende Sonne ließ Chiaras rot gelocktes Haar wie Feuerflammen aufleuchten, als sie still dastand und ihm nachschaute. Sie wusste, dass dies das Ende gewesen war – sie hatte es nicht abwenden können.


© Corinna Herntier


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