Gelbes Laub säumte die Wege rund um die in den Jahren 1856-1879 erbaute Votivkirche in Wien. Nach einem langen und heißen Sommer war endlich der Herbst eingekehrt und bettete die Natur allmählich in ihren Winterschlaf. Gabriel liebte diese Jahreszeit. Die bunten Farben, den Nebel, der ihn wie ein Schleier in die Gegenwart Gottes hüllte, und den herrlichen Herbstwind. Oh, wie liebte er den Herbstwind! Ausdruck für die unbändige Allmacht Gottes war er für ihn, welche sanft in Gottes heiligem Geist zu den Menschen wehte, um in ihren Herzen Heimat zu finden.

In seiner schwarzen Kutte gekleidet spazierte Gabriel im Park hinter der Kirche umher und wartete auf eine Frau namens Sarah. Zu einem Gespräch hatten die beiden sich bei der letzten Liturgie am Sonntag verabredet, doch sollte es kein gewöhnliches Gespräch zwischen Priester und einem Gemeindemitglied werden, so wie es Gabriel regelmäßig erlebte. Gabriel liebte Sarah. Liebte sie von ganzem Herzen und wusste doch, dass es ihm verboten war.

„Hallo, Gabriel!“ Mit einem Lächeln strahlend wie die Sonne begrüßte Sarah Gabriel und Gabriel wurde es warm ums Herz. Eine Rose. Eine weiße Rose war Sarahs Geschenk für ihn. Zeichen der heimlichen Liebe. Zeichen dafür, dass sie für ihn ebenso empfand wie er für sie.
„Ist es nicht absurd“, sann sie über die Situation des Priesters wie auch über die ihrige nach, „Liebe, das höchste Gut. Und doch einem Gottesmann wie dir nicht vergönnt.“
Sanft umfasste Sarah Gabriels Hand und drückte sie. Keineswegs behagte es ihr, den Priester in Schwierigkeiten zu bringen, doch sehnte sie sich nach ihm. Sehnte sich nach seiner Nähe.
„Absurd ist“, führte Gabriel ihren Gedanken betrübt fort, „dass selbst ein Gottesmann wie ich nicht davor bewahrt bleibt, zu lieben.“
Leise rauschte der Wind durch das Laubwerk der Bäume und flüsterte den beiden Liebenden Mut zu. Himmlisch war das Geschenk der Liebe. Göttlich, wenn sie aus reinem Herzen stammte.

Auf einer Bank nahmen Gabriel und Sarah Platz und Gabriel bewunderte die Rose. Umwerfend war ihr über alles erhabener Duft, bezaubernd ihr leuchtendes Weiß.
„Ich kann mich nicht erinnern, je eine so schöne Rose gesehen zu haben“, dachte Gabriel laut vor sich hin, „oder so ein hübsches Mädchen wie dich.“
Er wagte Sarah kaum anzusehen, behielt seinen Blick starr auf die Rose gerichtet.
„Und ich kann mich nicht erinnern, je einen Mann so geliebt zu haben wie dich.“
Zaghaft rückte Sarah näher an Gabriel heran und wollte sich an ihn lehnen, doch erhob er sich in diesem Moment prompt von der Bank.
„Ich kann nicht! Ich kann es einfach nicht“, schimpfte er in einem verzweifelten Tonfall, „Gott, warum nur?“
Sarah stand auf und umarmte den Priester, doch wich er von ihr zurück.
„Bitte geh!“, forderte Gabriel sie auf und wandte sich von ihr ab, damit sie seine Tränen nicht sah. „Bitte geh und komm nicht wieder!“
Sarah spürte, dass es ihm ernst war, trotzdem blieb sie. Einen großen Fehler beging er, wenn er von Menschen gemachten Gesetzen folgte anstatt der Weisung seines Herzens. Einen Fehler, den er früher oder später bitter bereuen würde. Einen Fehler beginge ebenso auch sie, wenn sie tat, was er von ihr verlangte.

Die Glocken der Kirche erklangen und Tauben flogen über die beiden Liebenden hinweg. Mitleid erfüllte sie angesichts der großen Not und sogleich sandten sie gurrend ihre Gebete zum Himmel empor. Zwei zärtliche Seelen getrennt von der Torheit dieser Welt – wie hätte es ihnen gleichgültig sein können?

Füreinander bestimmt hatte Gott Sarah und Gabriel, es mit goldenen Buchstaben in sein Buch des Lebens eingraviert. Umso trauriger stimmte es ihn, dass ausgerechnet einer seiner treuesten Söhne das Kostbarste ablehnte, was er ihm auf Erden geben konnte. Verschlossen war Gabriels Herz aus Angst vor den Menschen und brauchte seinen Beistand, um sich wieder zu öffnen. Verloren hatte es in seiner Verwirrung den Schlüssel des Vertrauens und säumte Gott nicht, den Riegel zu durchbrechen.

In einem lauen Schauer aus heiterem Himmel ergoss Gott seine Tränen der Liebe über Sarah und Gabriel und erweichte ihre Seelen bis in ihr tiefstes Inneres. Verwundert waren die beiden Liebenden über den plötzlichen Regen und flüchteten in die Kirche. Schutz bot sie ihnen vor der überraschenden Nässe, doch nicht nur vor ihr. Allein waren sie hier und niemand konnte sie beobachten. Eine Gelegenheit, die Sarah nicht ungenützt verstreichen ließ. Ehe Gabriel wusste, wie um ihn geschah, küsste sie ihn, und Gabriel ließ es geschehen. Zu stark wirkte Gottes Macht der Liebe in seinem Herzen, als dass seine Zweifel sie hätten bändigen können. Mächtig war der Geist der Zärtlichkeit, der ihn durchflutete und mit ihm auch Sarah. Rot färbte Gott die Rose in der Hand seines Priesters, denn nicht im Geheimen sollte ihre innige Verbundenheit leuchten. Als Zeichen und Mahnung für jene sollte sie gelten, die seine Flamme auszulöschen versuchten, weswegen er jeden scheitern ließ, der gegen sie Böses im Sinne hegte. Gabriel und Sarah hingegen behütete er stets in seiner Gegenwart und schenkte ihnen schon bald Nachwuchs. Einen Sohn ließ er Sarah Gabriel gebären. Einen Knaben, bildhübsch wie seine Eltern.


© Anita Zöhrer


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