Bernsteinlegende

Vor vielen Millionen Jahren, als es die Menschheit noch nicht gab und Meer und Wald einander berührt hätten, würden die üppigen Sträucher des Waldes sich nicht auf einer sehr viel höheren, zum Wasser hin steil abfallenden Küste angesiedelt haben, war – in zahllosen warmen Tagen und Nächten – eine einst kleine und unauffällige Tanne zu solcher Schönheit herangewachsen, dass sie mit ihrem grünen Nadelkleid und ihrem ebenmäßigen Wuchs alle anderen Bäume um sie herum in Anmut und Lieblichkeit weit übertraf.
Nur wenige Schritte vor ihr, wo fast schon der steile Abgrund begann und Wind und Wogen deutlicher zu hören waren, wenn in den herbstlichen, kälteren Wochen des Jahres der Sturm sich die Wellen nahm und sie mit Wucht und mit Macht unbändiger Kräfte küstenwärts schleuderte, stach aus wild rankendem Gebüsch und flauschigem Farn eine gar ansehnliche weitausladende Eiche mit einer mächtigen Krone hervor, welche sie mit Stolz und nicht ohne Eitelkeit jedes Jahr im Frühling erneuerte und sich dann freute, wenn diese abermals ein Stückchen größer geworden war.
Die ansonsten stolze Eiche war manchmal aber ein bisschen neidisch, wenn sie daran dachte, dass die schlanke Tanne das ganze Jahr über ihr hübsches Nadelkleidchen tragen durfte, wo hingegen sie doch alljährlich ihr Laubkleid abzulegen hatte, wonach sie sich dann immer ein wenig kahl und schäbig vorkam.
Eines Morgens, als die Tanne sich gerade ihr allerschönstes Gewand angelegt und es über und über mit kleinen Zapfen geschmückt hatte, die wie Kerzen leuchteten, war die mächtige Eiche von diesem Anblick so bezaubert, dass sie den Blick gar nicht mehr von ihr ließ und einfach nicht umhin konnte, der reizenden Nachbarin freundlich lächelnd einen „Guten Morgen“ zu wünschen, wobei der sanfte Wind mithalf, der Eiche das Haupt leicht zu neigen, so dass daraus sogar eine ordentliche Verbeugung wurde.
Die kleine Tanne staunte zunächst über so viel Freundlichkeit, erwiderte dann jedoch artig den Gruß, denn insgeheim freute sie sich, dass sie die Aufmerksamkeit der prächtigen Eiche erweckt hatte.
Von jetzt an begrüßten die Eiche und die Tanne einander jeden Tag, tauschten gegenseitig allerlei höfliche Worte aus, gerieten bisweilen ins Plaudern und waren dem anderen jeweils herzlich zugeneigt, wenn dieser aus der Vergangenheit, aus seinem Leben erzählte, hatte doch die stämmige Eiche viel mehr schon gesehen und erlebt, weil sie ja dem Meer so viel näher stand, war doch die hübsche Tanne so wohlgesittet, so anders erzogen worden.
Je mehr sie nun miteinander sprachen und scherzten, desto häufiger überkam die große Eiche ein Gefühl, der hübschen Tanne in ihrem Frühlingskostüm ein Stück näher sein zu wollen, sie einmal leicht und wie zufällig zu berühren, einmal ihr grünes Nadelhaar zu spüren, das so fremd und anziehend war wie ihre Stimme, die wie zärtlicher Gesang klang, wenn sie sich, lange nachdem die Sonne untergegangen war, leise flüsternd von der Eiche verabschiedete und alle anderen Bäume des Waldes längst schliefen.
In solchen Nächten fiel es der Eiche schwer einzuschlafen, und der mächtige Baum überlegte lange hin und her, wie er zu seiner geliebten, kleinen Tanne gelangen könnte; doch so viel Mühe er sich auch gab, die kräftigen Wurzeln hielten ihn an seinem Platz, und so gewaltig er sich auch anstrengte, seine belaubten Arme zum Streicheln auszustrecken, es lagen immer noch einige Handspannen zwischen ihnen, weshalb er manchmal so laut seufzte, dass die zarten Farne unter ihm aus dem Schlaf gerissen wurden.
Unterdessen schlummerte die edle Tanne anmutig im Mondlicht und träumte gar sonderbare Träume wie noch nie zuvor, sah im Traum immer wieder die prächtige Eiche vor sich, hörte ihre ruhigen überlegten Worte und fühlte sich dem Baum gegenüber so hingezogen, dass sie plötzlich, all ihren Mut zusammennehmend, auf ihren Freund zuschritt, ihn streichelte und liebkoste und sich dabei ganz dicht an seinen festen Stamm schmiegte, um schließlich in seinen starken, laubbedeckten Armen sanft einzuschlafen.
So lebten beide viele Woche mit quälender Sehnsucht und schwerem Herzen nebeneinander, bis eines Tages, die Eiche trug bereits ihren farbenprächtigen Herbstanzug, ein kräftiger Wind die Bäume des Waldes gehörig durchschüttelte, sie schaukelnd hin und her wiegte und ihre Häupter bodenwärts senkte, so dass auch die schöne Tanne mächtig ins Wanken geriet und sich dabei zeitweilig so weit vornüber neigte, dass sie die Eiche wie im Traum erstmals berühren, sich an sie schmiegen und liebevoll streicheln konnte.
Noch nie hatten die beiden so etwas Schönes erlebt, noch nie so ein wundervolles Gefühl gekannt, wie es dieses enge Beisammensein hervorrief; und die Eiche hätte ihre Liebste ewig so festhalten wollen, hätte sie der Wind nicht immer wieder gnadenlos getrennt. Da schworen sie, wenn sie einmal größer und umfangreicher sein würden und ihre Äste und Zweige einander berührten, nie mehr voneinander zu lassen und auf ewig und immer miteinander verschlungen zu bleiben bis an ihr Lebensende.
Doch der Wind, eben noch beider Freund, wuchs und wuchs, wurde mächtiger, wurde Sturm, bohrte Löcher ins Meer, schuf riesige Wasserberge, warf diese gegen die Küste, hieß sie nagen, fressen, wühlen, ließ sie Sand, Geröll, rutschendes Erdreich verschlingen, wurde zum Feind: noch in dieser Nacht stürzte die stolze Eiche ins Meer.
Als die schöne Tanne am anderen Morgen erwachte und das schreckliche Unglück sah, brach ihr das Herz; sie fing laut zu jammern und zu klagen an und wünschte sich, es wäre finstere Nacht, dabei hatte der Wind sich längst gelegt und die Sonne stand strahlend am Himmel, als sei nichts geschehen. All das sah die verbitterte Tanne aber nicht, wollte es auch nicht sehen; sie wollte nur eines, ihren Geliebten bei sich haben, den die Wellen für immer von ihr gerissen hatten; und bei dem Gedanken weinte sie Stunde um Stunde aus Verzweiflung und Kummer so herzergreifend, dass auch die anderen Tannen in ihrer Nähe alle aus Mitleid an zu weinen fingen.
Viele, viele Tausend Tränen weinten die Tannen, die an ihren schlanken Körpern herunterflossen und dabei für manch einen dort weilenden Käfer oder eine Fliege zum gläsernen Sarg wurden, der langsam in die Tiefe glitt, dem Meer entgegen.
Das Meer aber verzauberte diese Tränen, fügte ihnen den kostbarsten Meeresschmuck bei, den es hatte, bemalte sie mit den herrlichsten und leuchtendsten Farben und machte sie so fest und hart, dass ihre Schönheit alle Zeiten überdauert.

So kommt es, dass sich noch heute die Menschen diese seltenen, edlen Bernsteine schenken, die einst die Tränen der ersten großen Liebe waren, lange bevor es eine Menschheit gab.


© Wagrier


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