Am nächsten Morgen sitze ich vor dem Klassenzimmer und warte auf den Schulbeginn. Ich schwebe immer noch auf Wolke sieben. Der gestrige Tag war einfach schön. Als wir am Nachmittag nach Hause kamen, haben wir gekocht und mit Dad zusammen gegessen. Wie eine richtige Familie. Auch wenn ich immer noch auf der Hut bin, langsam entspanne ich mich etwas.
Jeremy rief gestern Abend noch an, er wollte wissen wie es mir geht und ob ich am nächsten Tag wieder zu Schule kommen würde. Caleb und Sam hatten den ganzen Tag kein Wort miteinander gewechselt. Ihm würde so langsam der Geduldsfaden reißen. Ob ich da viel ändern kann, bezweifle ich aber stark.
Caleb lässt sich rechts neben mir nieder.
„Guten Morgen“, sagt er mit einem fetten Grinsen auf den Lippen.
„Guten Morgen“, gebe ich zurück. Er mustert mein Gesicht und runzelt die Stirn.
„Was ist das?“
„Du meinst das?“ Ich zeige auf mein Piercing. „Wie sieht es denn aus?“
„Warum hast du das gemacht?“ Er macht ein entsetztes Gesicht.
„Was gemacht?“ Links neben mir steht mit einem Mal Sam und sieht auf mich herunter. Ich sehe in sein strenges Gesicht. Als er mein Piercing sieht, reißt er die Augen auf.
„Morgen“, Jeremy taucht gutgelaunt hinter Sam auf. Er schaut ebenfalls auf meine Braue, kommentiert es aber nicht. „Hier drinnen ist es kälter als draußen. Wisst ihr das?“ Ich sehe wieder zu Sam.
„Ich kann machen, was ich will“, fauche ich ihn an.
„Aber es sieht scheiße aus!“ Calebs Stimme ist anzuhören, dass er alles andere als begeistert ist.
„So schwer es mir fällt“, jetzt ergreift Sam wieder das Wort. „Aber ich muss ihm zustimmen.“
„Donnerwetter“, entfährt es Jeremy. Er sieht mich anerkennend an. „Ich habe es dir ja gesagt!“ Sam und Caleb sehen sich einen kurzen Moment verwirrt an, aber keiner sagt ein Wort.
„Cal!“, ruft jemand. Ich sehe in die Richtung aus der die Stimme kommt. Ein rothaariges Mädchen mit Sommersprossen kommt auf uns zu, geht vor Caleb auf die Knie und küsst ihn. „Ich habe dich ja so vermisst“, sagt sie zuckersüß zu ihm. Ich sehe Sam und Jeremy an, die die Unbekannte auch nur anstarren, ohne etwas zu sagen.
„Hallo“, spreche ich sie an. „Ich glaube, wir kennen uns noch nicht?“
„Oh, Sorry“, sagt Caleb. „Das ist Sally.“ Ich warte darauf, dass er weiterspricht.
„Ich bin seine Freundin. Wir sind seit zwei Tagen zusammen.“ Sie beugt sich wieder vor und küsst ihn wieder. Er sieht keinen von uns an. Sally zieht ihn hoch und sie laufen zusammen den Gang runter. Hand in Hand.
„Wann wolltet ihr mir denn das erzählen?“ Sam beobachtet Caleb und geht nicht auf meine Frage ein.
„Das wussten wir auch nicht“, Jeremy sieht Sam fragend an. „Oder hast du davon gewusst? Ihr teilt euch schließlich ein Zimmer.“ Unser Lehrer kommt und wir gehen in unser Klassenzimmer, ohne dass Sam nur ein Wort von sich gibt. In der ersten Stunde haben wir Mathe, welch eine Freude am frühen Morgen.
„Woher kennst du sie?“, flüstert Jeremy Caleb zu. Ich kann sehen wie Sams Kiefer arbeiten. Da er zwischen den beiden sitzt, kann er gar nicht anders, als ihnen zuzuhören.
„Sie ist eine Klasse über uns. Ich habe sie letzte Woche im Park kennengelernt. Ihr beiden hattet ja was Besseres zu tun.“
„Also schlenderst du allein im Park herum?“, fragt ihn Sam ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Calebs Augen verengen sich.
„Eigentlich geht es dich nichts an, aber ich habe mich mit Todd getroffen.“ Wer ist Todd? Ich kann leider nicht nachfragen, da der Unterricht unsere Aufmerksamkeit fordert. Wir bringen den Unterricht halbwegs hinter uns, ohne dass sich Caleb und Sam an die Gurgel gehen. Jeden Moment, in dem wir keinen Unterricht haben, nutzt Caleb um zu Sally zu gehen. Aufs Abstellgleis geschoben zu werden kenne ich ja schon von Sam und Jeremy. Als die beiden zusammenkamen habe ich dort sehr viel Zeit verbracht. Mich wundert es nur, dass Caleb es jetzt genauso macht. Er hat sich damals mehr als einmal lautstark darüber beschwert, von den beiden links liegen gelassen zu werden. Damals hat er mir hoch und heilig geschworen, er würde mich nie so behandeln. Bei Sam und Jeremy sei es ihm aber egal. Ich möchte mich auch nicht beschweren, mir war klar, dass das früher oder später passieren würde. Und wahrscheinlich werde ich mich genauso verhalten. Nur hätte er den Mund nicht so voll nehmen sollen.
Nach dem Unterricht warten wir vor der Schule noch einem Moment, aber er kommt nicht. Es hat ihn auch keiner mehr zu Gesicht bekommen. Jeremy räuspert sich.
„Ihr werdet ohne mich nach Hause laufen müssen“, er verzieht das Gesicht. „Ich muss zum Zahnarzt.“
„Hast du Schmerzen?“, frage ich ihn. Ich habe gar nichts mitbekommen.
„Nein, nein. Nur ein Kontrolltermin. Meine Mum nimmt so etwas sehr ernst.“
„Na, denn. Viel Glück, der er nichts findet“, sage ich. Sam und Jeremy sehen sich an. Keiner sagt etwas. Jeremy unterbricht als erstes den Blickkontakt und geht wortlos weg.
„Du hättest ihn gerne zum Abschied geküsst oder?“ Er zuckt mit den Achseln.
„Jap. Aber wir bekommen nicht immer was wir wollen“, Sams Blick fällt auf mein Piercing. „Gefällt dir das wirklich?“
„Warum sollte ich es sonst haben?“
„Ich weiß nicht. Hat deine Mutter dich dazu überredet? Ich weiß ja gerade nicht, in welchem Film sie ist.“
„In keinem Film. Seit sie am Montag nach Hause gekommen ist, ist sie in der Realität. Sie wollte mir einen Wunsch erfüllen“, ich deute auf mein Gesicht. „Und das war er.“ Er atmet resigniert ein.
„Na denn. Muss ich mich wohl daran gewöhnen.“ Sam dreht sich um und wir laufen zusammen los. Mir fällt wieder etwas ein.
„Wer ist Todd?“
„Todd?“, wiederholt er meine Frage. „Hmm, niemand besonderes. Du musst ihn nicht kennen. Ein Bekannter.“
„Kann ich mit dir über Caleb sprechen, ohne dass du mich anfauchst.“
„Vielleicht. Er nervt!“
„Wieso?“
„Er treibt mich in den Wahnsinn! Reicht das?“, ich kann hören, wie genervt er ist, und dass nur, weil er darüber spricht.
„Womit?“ Er bleibt stehen und sieht auf mich runter. Seine Augen sehen so traurig aus. Es zerreißt mir fast das Herz.
„Das bleibt unter uns?!“
„Ähm, ja, natürlich.“ Dann schüttelt er den Kopf.
„Nein, vergiss es! Es geht nicht.“ Er lässt den Kopf hängen. Ich möchte ihm so gerne helfen, aber ich weiß nicht wie. Schweigend laufe ich ein paar Minuten hinter ihm her. Hole ihn dann aber ein und hake mich bei ihm unter.
„Du weißt, dass ich mich nicht so schnell geschlagen gebe“, ohne Vorwarnung bleibt er auf einmal stehen, dreht sich zu mir, so dass er direkt vor mir steht. Ich bin perplex und sehe ihm tief in die Augen. Die Traurigkeit ist aus seinen Augen verschwunden. Er sagt nichts und erwidert nur meinen Blick. Ich will etwas sagen, öffne den Mund, bekomme aber kein Wort heraus. Seine Augen wandern zu meinem Mund und dann wieder zu meinen Augen. Dann küsst er mich. Ich schließe die Augen, als sich unsere Lippen berühren. Es sind nur einige Sekunden, aber ich habe das Gefühl, die Welt hört auf, sich zu drehen. Er hebt wieder den Kopf und seine Augen bekommen wieder diesen traurigen Ausdruck.
„Was ist, wenn ich für Caleb das gleiche empfinde, wie für Jeremy?“, sagt er. Was? Mir ist, als würde mir die Luft abgeschnitten. Sam dreht sich um und geht weg. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.


© Emilia Hunter


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