Ich betrete die Schule. Viel zu spät. Meine Mutter wollte einfach nicht wach werden. Und als ich sie dann soweit hatte, hat sie einfach nicht verstanden, was ich von ihr wollte. Nach langem hin und her ist sie wieder ins Bett und sofort eingeschlafen. Ich laufe schnell die Treppen hoch und nehme zwei Stufen auf einmal. Nach der Schule muss ich sofort nach Hau-se. Ich habe sie einfach liegen gelassen. Hoffentlich passiert in den nächsten vier Stunden nichts. Gestern ist sie ja schon einmal gestolpert. Vor dem Klassenzimmer halte ich kurz inne und atme tief durch bevor ich klopfe. Ich öffne die Tür und schaue in die neugierigen Gesichter meiner Klassenkameraden. Caleb, Jeremy und Sam sehen mich ebenfalls an, aber eher besorgt.
„Tut mir leid. Ich habe verschlafen.“ Mein Lehrer nickt mir zu und ich gehe zu meinem Platz neben Jeremy.
„Ist alles OK?“, fragt er besorgt. Ich nicke ihm hastig zu und hole meine Schulsachen aus der Tasche. Bevor er noch etwas sagen kann, gibt uns der Lehrer eine Aufgabe, die wir alleine lösen sollen. Mathe! Ausgerechnet. Hät-te ich nicht in eine andere Stunde platzen können. Ich schlage das Buch auf und suche nach der entsprechenden Aufgabe.
„Morgan“, höre ich meinen Lehrer sagen. Ich sehe hoch. „Kommst du bit-te einen Augenblick mit mir nach draußen!“ Das Adrenalin schießt mir in die Adern. Was will er denn? Ich muss schwer schlucken, stehe auf und folge ihm auf den Flur. Den besorgten Blicken meiner Freunde versuche ich aus dem Weg zu gehen.
„Ja?“, frage ich als wir draußen sind. Ich kann mir denken was kommt und bin vorbereitet.
„Du hast verschlafen? Wirklich?“ Seine Stimme ist sanft aber seine Augen sagen mir etwas anderes. Er hat keine Lust mehr, sich mit mir herumzu-schlagen. Und er wird mir nicht glauben, egal was ich sage.
„Meine Mutter hat die Grippe. Sie hat gestern Abend etwas gegen das Fieber genommen und hat heute Morgen den Wecker nicht gehört“, erklä-re ich ihm.
„Und wenn ich deine Mutter anrufe, würde sie mir das bestätigen.“ Das ist keine Frage. Ich zucke mit den Schultern.
„Ja. Aber sie wollte zum Arzt. Ich weiß nicht, ob sie zu Hause ist oder wann sie einen Termin bekommen hat.“ Er nickt mir zu.
„OK. Ich werde heute Mittag anrufen. Dann sollte sie zu Hause sein.“ Jetzt nicke ich. Oh, Herr im Himmel, lass es ihn vergessen. „Gehen wir wieder rein.“ Er läuft mir voraus ins Klassenzimmer und ich setze mich wieder auf meinen Platz und versuche mich wieder auf die Aufgabe zu konzentrieren. Vielleicht schaffe ich es, meine Mutter bis heute Mittag fit zu bekommen.
„Morgan?“, diesmal ist es Sam der mich leise anspricht. Ich schüttle nur den Kopf, ich will jetzt nicht darüber sprechen.
„Morgan! Ich würde gerne deine Hausaufgaben von gestern sehen. Gibst du sie mir bitte!“ Schon wieder der Lehrer. Hausaufgaben? Nein. Die habe ich gestern nicht mehr geschafft. Meine Mutter ist mir dazwischengekom-men. Ich durchsuche meinen Block und Ordner und versuche so Zeit zu gewinnen. Was soll ich ihm sagen? Leichte Panik steigt in mir hoch.
„Du hast sie doch nicht bei uns liegen lassen!?“, wirft Caleb ein. Er sieht mich eindringlich an, dass ich mitspielen soll.
„Ähm“, mehr fällt mir nicht ein.
„Sie hat mir gestern bei den Aufgaben geholfen“, erklärt er unserem Leh-rer, den ich entschuldigend anlächle. Er sieht auf mich herunter und einen Moment kann ich pure Verachtung in seinem Blick erkennen.
„Wenn du anderen bei den Aufgaben helfen kannst, ist es kein Problem, wenn du ein paar Fleißaufgaben zusätzlich machst. Und morgen will ich alles zusammen sehen. Ich sage dir später, welche das sind.“ Ich nicke ihm zu. Da die Stunde fast zu Ende ist, sagt er uns noch die heutigen Aufgaben. Wunderbar! Die Hausaufgaben von gestern, Fleißaufgaben, wie er sie nennt, und die Hausaufgaben von heute. Mein Nachmittag ist gerettet. In der darauffolgenden Doppelstunde Französisch, bekommen wir mitgeteilt, dass wir morgen einen Vokabeltest schreiben. Und zwar nicht nur das letz-te Kapitel, sondern alle, die wir seit Beginn des Schuljahres können sollten. Ich hätte gar nicht erst aufstehen sollen. Das letzte Klingeln des Schultages ist zu hören. Ich packe so schnell ich kann meine Sachen und versuche vor Caleb, Jeremy und Sam aus der Schule zu kommen. Fast habe ich es ge-schafft, als mich jemand am Arm festhält. Innerlich fluche ich, drehe mich aber um. Jeremy steht vor mir. Caleb und Sam kommen gerade aus dem Gebäude.
„Kommst du mit zu uns? Es gibt Spaghetti.“ Er will mich nicht bedrängen. Ich sehe wieder meine Mutter vor mir, wie sie gestern Abend im Flur auf dem Boden gesessen hat.
„Ich kann wirklich nicht. Ich muss nach Hause.“
„Gut, dann kommen wir mit.“ Ich habe ihm schon den Rücken zugekehrt als ich ihn sprechen höre. „Und wir müssen für den Test morgen lernen!“ Der Test? Den habe ich schon wieder vergessen. Caleb und Sam sind mitt-lerweile bei uns angekommen und ich weiß, gegen alle drei komme ich nicht an. Ohne mich umzudrehen, nicke ich und laufe los.

Ich öffne die Haustür und bete. Aber für was? Das sie schläft? Das sie wach und bei Verstand ist? Auf dem Weg hat keiner ein Wort gesprochen. Sie liefen schweigend hinter mir her. Ich betrete das Haus und meine Freunde folgen mir. Mir bleibt fast das Herz stehen als ich mich umsehe. Schock. Frustration. Wut. Verzweiflung. Verlegenheit. Im Wohnzimmer sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Die Bücher wurden aus den Regalen gerissen und sind im ganzen Zimmer verteilt. Ebenso wie die Polster und Kissen der Couch. Vasen liegen zersplittert auf dem Boden.
„Ist jemand eingebrochen?“, flüstert Caleb, aus Angst, die Einbrecher könnten noch im Haus sein. Ich drehe mich um und schüttle den Kopf.
„Nein“, antworte ich ihm schwach. „Ich glaube nicht.“ Aus der Küche ist ein klappern zu hören. Wir sehen uns verwirrt an. Langsam mache ich ei-nen Schritt nach vorne. Es hört sich an, als würde mit Kochtöpfen hantiert. Ich laufe los und kann meinen Augen nicht trauen, als ich sie sehe.
„Mum?“ Sie sieht mich an. Sie ist angezogen, hat saubere Kleider an, ist geschminkt und frisiert. Und allem Anschein nach kocht sie. Ich spüre, wie Jeremy hinter mir auftaucht.
„Hallo mein Schatz. Hallo Jeremy. Sind Caleb und Sam auch da? Ich dach-te ich koche uns etwas. Vielleicht wollen deine Freunde ja mitessen?“ Auf der Anrichte stehen Lebensmittel. Einkaufen war sie anscheinend auch. Meine aufkeimende Freude wird aber schnell wieder unterdrückt, als ich an das Wohnzimmer denke.
„Was ist im Wohnzimmer passiert?“, frage ich sie. Sie antwortet nicht, sondern sortiert die Lebensmittel. „Mum?!“
„Schatz? Was ist mit dem Wohnzimmer? Was sollte denn sein?“ Ich sehe sie perplex an, aber sie beachtet mich nicht. Mein Blick wandert zu Jeremy. Caleb und Sam stehen im Türrahmen. Sie sehen mich ratlos an. Irgendwo hatte ich gelesen, dass es möglich war, dass sie mit den schon bestehenden Depressionen auch Wahnvorstellungen entwickeln könnte. Ich habe im-mer gebetet, dass das nicht passiert und wollte den Teufel nicht an die Wand malen. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
„Es ist verwüstet“, versuche ich ihr vorsichtig zu erklären. Sie sieht mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank, dann lacht sie auf ein-mal los. Ein Lachen das ich nicht kenne. Ein Lachen, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
„Das war Max!“ Hinter mir höre ich jemanden scharf die Luft einziehen. Meine Mutter füllt einen der Töpfe mit Wasser. Ich mache einen Schritt auf sie zu.
„Max?“, frage ich sie ganz vorsichtig. Sie nickt. „OK.“ Nein. Ich kann es ihr nicht sagen. Ich weiß, was dann passiert. Sie klappt zusammen und ich bin den ganzen Tag damit beschäftigt den Scherbenhaufen aufzuräumen. Ich drehe mich um, ziehe Jeremy hinter mir her und gehe in mein Zimmer. Ich versuche es zumindest. Als wir in meinem Zimmer angekommen, möchte ich nur noch heulen. Schlucke es aber herunter. Ich möchte nicht, dass mich jemand so sieht. Die Bombe, die das Wohnzimmer verwüstet hat, hat mein Zimmer auch erwischt. Langsam setze ich einen Fuß vor den ande-ren. Jeremy, Caleb und Sam folgen mir.
„Morgan? Was meint sie damit, Max hätte das Wohnzimmer verwüstet?“, fragt Sam. Ich sehe ihn an.
„Keine Ahnung. Im Moment denkt sie wohl, er wäre noch am Leben. Das kommt vor.“
„Warum sagst du ihr nicht, dass er tot ist?“, kommt aus Calebs Richtung.
„Warum?“, ich muss auflachen. „Ja, warum sage ich ihr es nicht einfach?“, überlege ich laut. „Ich würde ihr Leben zerstören! Mal wieder.“ Ich erzähle ihnen die Kurzfassung der letzten Tage. Bisher habe ich ihnen nicht gesagt, wie sehr meine Mutter unter Max` Tod leidet. Es war mir peinlich. Aber nun hatte ich keine andere Wahl.
„OK. Und was hast du jetzt vor?“, will Sam wissen. In meinem Zimmer herrscht das reinste Chaos, hierbleiben möchte ich im Moment nicht.
„Können wir bei euch lernen?“, frage ich leicht zerknirscht. In dem Au-genblick betritt meine Mutter den Raum.
„Du willst gehen?“ In ihrer Stimme schwingt ein gefährlicher Ton mit und ich wappne mich auf das Schlimmste. „Mit diesen Jungs etwa? Mit ihm?“ Sie mustert Sam verächtlich von oben bis unten. Was ist denn jetzt los?
„Hmm, wir müssen lernen“, mein Blick fällt auf das Chaos in meinem Zimmer. „Hier geht das nicht.“
„Ich weiß schon, was du willst. Was er will!“ Wieder dieser Blick zu Sam. „Ich habe dein Tagebuch gefunden! Deine Kondome!“, ihre Stimme wird lauter und ich laufe knallrot an.
„Was“, versuche ich zu sagen, bekomme aber nur ein Stammeln heraus. Ich weiß auch nicht, was mich mehr verstört, dass sie mein Zimmer ausei-nandergenommen hat, oder das Tagebuch, oder die Kondome. Ich sehe peinlich berührt auf den Boden und überlege mir meine nächsten Worte genau.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, faucht sie mich an.
„Nein“, um meine Worte zu verstärken schüttle ich den Kopf. „Du hast mein Tagebuch gelesen?“
„Ja!“
„Kannst du es mir zeigen!“, verlange ich vorsichtig. Sie schluckt.
„Ich habe es weggeworfen.“ Natürlich hat sie das. „Und, dass du nicht auf falsche Ideen kommst, die Kondome habe ich ebenfalls weggeworfen! So-bald Max nach Hause kommt, wird er mit dir reden.“
„Hör auf!“, schreie ich. Jetzt reicht es! „Max ist tot! Mum! Er ist seit vier Jahren tot!“ Ihr Gesicht bleibt regungslos, dann kommt sie auf mich zu und dann passiert das, womit ich niemals gerechnet habe. Sie schlägt mich. Meine Wange brennt an der Stelle, die sie mit ihrer Hand berührt hat.
„Pass auf, wie du mit mir redest! Und jetzt verschwinde aus meinem Haus! Und nimm diese verzogenen Bengel mit!“ Sie dreht sich um und ver-lässt mein Zimmer. Meine Tränen laufen mir über die Wange. Jemand nimmt mich in den Arm und ich lege meinen Kopf auf seine Brust. Ich weiß nicht, wer es ist und es ist mir egal. Ich möchte nicht mehr in meiner Haut stecken. Ich möchte ein anderes Leben. Eine andere Mutter. Einen Bruder, der lebt. Einen Vater, der für mich da ist, wenn ich ihn brauche.
„Schsch. Es wird alles wieder gut“, sagt Jeremy ganz sanft zu mir. Bei den Worten kann ich nicht anders und muss einfach lachen. Ich hebe den Kopf und sehe ihm in die Augen.
„Ich dachte Caleb wäre der Komiker?“ Als er seinen Namen hört lacht er auf.
„Er versucht mich zu kopieren.“ Er kommt zu uns rüber, Jeremy lässt mich los und Caleb klopft ihm aufmuntern auf die Schulter. „Wenn du ge-nug übst, schaffst du es vielleicht irgendwann.“ Dann fällt sein Blick auf mich und er zwinkert mir zu.
„Wir gehen!“, sagt Sam streng von der Tür aus. Er hat meine Schultasche in der Hand und man sieht ihm an, dass er nicht mit sich diskutieren lässt. Ich möchte nur noch aus diesem Haus. Der Rest ist mir im Moment herz-lich egal.


© Emilia Hunter


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