Mareens Herz pumpt bis zum Anschlag auf der Rückbank. Ihr Leben hatte sich in den vergangenen Monaten, um gefühlte 180 Grad gedreht.
Die letzten Wochen nach dem Abschluss von der Universität waren ein einziges Chaos, die Jobsuche eine Katastrophe und alle ihre Freunde haben die Stadt verlassen. Ihre Jugendliebe hatte sie nicht einmal in ihre Planung mit eingeschlossen, als sie kurzerhand ein Stellenangebot von einer Kanzlei in Berlin annahm. Nach Wochen des Selbstmitleids war es Zeit für einige Veränderungen. Sie kündigte ihr Zimmer und packte ihren großen Rucksack mit ein paar persönlichen Klamotten und Campingutensilien. Den Rest ihrer Sachen verteilte sie in Umzugskartons, die sie bei ihrer Schwester unterstellte.
Ein früherer Mitbewohner hatte ein Heft mit den „Schönsten Wanderwegen Deutschlands“ zurückgelassen. Da Helena weder ein festes Ziel hatte, noch unter Zeitdruck stand, suchte sie nach einem Startpunkt für ihr neues Leben. Nur wenige Kilometer von ihrer Heimatstadt verlief die "Route der deutschen Einheit“.
Protestierend lieferte ihre Schwester sie in der Nähe der Strecke ab und Mareen schlug ihren Weg in Richtung Westen ein. Selbst die Schmerzen in den Füßen trübten Mareens Freiheitsgefühl nicht. Am Abend des fünften Tages sah sie zum ersten Mal eine andere Wanderin. Sie grüßte sie freundlich, als sie sich ins Unterholz aufmachte, wahrscheinlich um einen Zeltplatz zu suchen. Mareen lief noch eine gute halbe Stunde weiter. Was sie am aller wenigsten wollte, war Gesellschaft in der Phase ihres neuen Lebens.
Am nächsten Tag sah sie so gut wie keine Menschenseele, doch gerade, als sie einen kleinen Bach gefunden hatte, an dem sie ihr Zelt aufschlug, raschelte es im Gebüsch. Das Geräusch machte sie nervös und sie zog ihr kleines Taschenmesser, das früher immer an ihrem Schlüsselbund baumelte. „Wer auch immer du bist, hau ab, ich bin bewaffnet!“ Das Geräusch stoppte sofort. Einige Minuten später hörte sie wieder einige Hölzer brechen, doch bevor sie ihre Drohung wiederholen konnte, schimmerte etwas Weißes zwischen den Ästen her. Ein Slip, aufgespießt an einem dünnen Ast, schwenkte in ihre Richtung.
„Ich komme in Frieden“, ertönte eine weibliche Stimme, die schnell in Lachen umschlug als der Blick auf Mareen und ihre „Waffe“ fiel. Auch Mareen konnte beim Anblick der improvisierten Friedensflaggenicht mehr Ernst bleiben.
„Hey, ich bin Lucy, wir haben uns gestern schon gesehen. Ich wollte dich nicht stören, aber ich brauche ein Lager, an dem ich meine Wasserreserven wieder auffüllen kann. Hast du was gegen Gesellschaft?“
Eigentlich schon, dachte sie, aber sie schüttelte mit dem Kopf. Es wäre nicht fair, jemanden nach einem ganzen Tag laufen weiterzuschicken.
Nach einer Stunde des Schweigens stellten beide ihren Wasserkessel ins Feuer und holten ihr Pulveressen hervor.
„Scheint als hätten wir den gleichen Geschmack“, bemerkte Mareen, als sie Lucys Kartoffelpüreegericht sah.
Es stellte sich heraus, dass sie mehr Gemeinsamkeiten hatten. Neben Essen und Wandern gab es noch die gleiche Leidenschaft für Tanzen. Sie redeten bis spät in die Nacht.
Da keiner die Zweisamkeit beenden wollte, zogen sie am nächsten Morgen zusammen los. Lucy wohnte in der Mitte des Einheitsweges und ist letztes Jahr den Weg von Aachen bis zu ihrem Ort gelaufen und nun wanderte sie die Osthälfte. Mareen erzählte, dass sie gerade offiziell heimatlos war. Ihre plötzlichen Schmetterlinge im Bauch verdrängten den Wunsch des alleine Laufens. Auch Lucy machte keinerlei Anmerkungen, die Situation zu ändern.
Als sie nach einigen Tagen Lucys Heimatstadt erreichten, kam die Einladung, Mareen könne sich ein paar Tage bei ihr wie zu Hause fühlen, für beide völlig natürlich. Die erste Nacht bei ihr war auch die erste Nacht, in der sie sich küssten.
Dieser erste Tag ist nun sieben Monate her. Vor drei Monaten kam Lucys Antrag.
Als der Wagen vor dem Rathaus hält, wartet Mareen schon mit einem riesen Lächeln im Gesicht. Im weißem Brautkleidern und ihren Wanderschuhen schreiten sie gemeinsam in die Kirche.


© by Inaxx


7 Lesern gefällt dieser Text.

Unregistrierter Besucher

Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der Wanderweg in das neue Leben"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Der Wanderweg in das neue Leben"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.