„Was ist Cinderella? Verwandelt sich deine Kutsche bald in einen Kürbis?“, neckte mich Charlotte und ich vernahm ihr leises Kichern. Mein Blick fiel auf sie und ich stellte fest, dass sie im Sternenlicht besonders hübsch aussah. Prompt hackte sie sich bei mir ein. „…denn ich habe Hunger und wollte noch etwas essen gehen.“

„In Ordnung.“, hörte ich mich selber sagen. Schließlich konnte ich Charlotte nichts abschlagen. Also liefen wir dicht nebeneinander die Alleé du Zénith hinauf, was mir sehr entgegenkam, da ich langsam zu frösteln begann. Durch meine Lederjacke spürte ich die Wärme, die von Charlotte ausging. Auf eine eigenartige Art und Weise fühlte ich mich mit ihr verbunden, was auch daran lag, dass sie neben Pierre der einzige Mensch war, deren Gesellschaft ich länger als ein paar Minuten genoss. Unter anderen Umständen wären wir bereits beste Freunde, doch war ich mir der Beziehung in der ich zu Charlotte ihrer Meinung nach stand nicht sicher. Ich traute mich nicht einmal zu ihr hinzublicken, aus Angst ihr zu nahe zu treten und in ihre Privatsphäre einzudringen. Jedenfalls hatte ich keinen triftigen Grund, um auch nur in ihre Richtung zu schauen. Dabei hätte ich sie zu gern angesehen, wie sie unmittelbar nah neben mir her lief, wie ihre Haare im Laternenlicht leuchteten und….

„Burger oder Chicken McNuggets?“, ertönte es neben mir. Ruckartig starrte ich Charlotte an. Ihre Frage kam wie aus dem Nichts und ich war mir nicht mal sicher ob es als eine vollständige Frage zählte. „Wie bitte?“, sagte ich direkt in ihre Ohrmuschel.
„Na, was magst du lieber?“, versuchte Charlotte ihre Frage zu verdeutlichen. „Burger oder Chicken McNuggets? Wir sind fast da.“
Erst jetzt verstand ich, dass sich ihre Frage auf Essen bezog und ich erinnerte mich, wie Charlotte sagte, dass sie Hunger hatte.
„Nunja…. was hat weniger Fleisch?“, meine Frage kam mir nicht sonderlich geschickt vor.

„Hmmm“, überlegte sie. „Vielleicht bist du dann eher der McWrap-Typ… oder du bestellst dir einen Salat….. oder einen Veggie Burger. Ja, ich denke, da wird auch was für dich dabei sein.“ Sie lächelte ohne mich anzusehen und schien sich auf ihr Nachtmahl zu freuen und wie ich sie so sah, verspürte ich auch ein leichtes Hungergefühl.

Bald darauf standen wir wieder in der Avenue Jean Jaurés vor McDonald’s, welches sich nur zwei Gebäude vom Local Rock befand. Zu meinem Erstaunen hatte es sogar um diese späte Uhrzeit noch auf und eine Gruppe von Jugendlichen, die mit uns das Konzert verlassen hatten und vor uns die Alleé du Zénith hinauf gelaufen waren, tummelte sich an den Tresen.

„Oh, möchtest du auch eine Cola oder lieber was anderes?“, fragte mich Charlotte während wir eintraten. Eigentlich war ich es nicht gewohnt, überzuckerte diabeteserregende Getränke in solchem Maß zu konsumieren, gleichzeitig war ich mir aber auch nicht sicher, ob McDonald’s irgendetwas Gesundes oder zumindest nicht Gesundheitsvernichtendes anbot. „Gibt es hier Wasser? … Es kann auch Leitungswasser sein, wenn es ihnen nichts ausmacht.“, versuchte ich meine Erwartungen nicht zu hoch klingen zu lassen, um nicht fordernd rüberzukommen.

Doch Charlotte schien daran nichts Eigenartiges zu sehen. Sie marschierte zielsicher zur Theke und ließ ihre Bestellung aufnehmen, während ich noch unsicher am Ausgang stand, als sei ich jeder Zeit zur Flucht bereit. Ich sah hinüber zu ihr und sah, wie sie über die Theke gelehnt mit dem jungen Mann in Arbeitskleidung sprach, wie er sie angrinste, wie sie eine ihrer blonden Strähnen spielerisch hinter ihr Ohr klemmte und lachte, während er ihr etwas erklärte. Sie war so selbstbewusst und sicher, als wäre sie überall in der Welt zu Hause. Ich dachte daran zu ihr rüber zu gehen und auch etwas zu sagen, sie zum Lachen zu bringen oder damit sie mich zumindest ansah, doch ich fühle mich wieder wie ein Fremder, der nicht in die Szene passte.

Als sie wieder auf mich zu gelaufen kam, trug sie zwei große Tüten, die ziemlich schwer aussahen. Ich eilte ihr entgegen, um ihr diese abzunehmen, doch sie manövrierte diese geschickt unter meinem Griff hindurch und steuerte direkt auf die Tür zu.
„Neeeein, nicht hier.“, sagte sie und grinste immer noch guter Laune.

Also folgte ich ihr über die Straße, bis wir auf ein paar breiten, jedoch sehr unbequemen Fahrradständerpfosten Platz nahmen. Diese boten keine geeignete Sitzgelegenheit, weshalb wir uns nur mit unserem Gesäß daran anlehnten. Wir packten unseren Imbiss aus, als wäre es ein Weihnachtsgeschenk, auf das wir schon lange gespannt waren und tatsächlich hatte es Charlotte geschafft mein Menü weitestgehend fleisch- und zuckerarm zu halten. Und so langte sie bei ihrem Doppel-Cheeseburger, den Chicken McNuggets und einer großen Cola Light zu, während ich vergnügt meinen Quinoa Honig-Senf Wrap und einen Snack Salat mampte und beides mit Mineralwasser runterspülte. Dazu gab es für jeden eine Apfeltasche.

Gerade als ich die Ecke meines Nachtischs abbiss und den Mürbeteig etwas andrückte, sodass der Apfelmus mir entgegen quoll, beendete Charlotte ihre Mahlzeit. Wieder einmal war sie schneller als ich und zündete sich bereits eine Zigarette an. Nachdem sie einen kräftigen Zug nahm und eine Qualmwolke auspustete, richtete sie die zwei Finger, mit denen sie ihre Zigarette hielt, auf das Gebäude schräg links von uns.
„Weißt du, was das ist?“, fragte sie in einem Ton, als würde sie es mir schon gleich selbst verraten.
Ich schüttelte meinen Kopf, während ich ein „mh mh“ von mir gab, mit der Sorgfalt, den Mund dabei nicht zu öffnen.
„Das ist die Conservatoire de Paris. Meine beste Freundin Anna möchte dort aufgenommen werden.“ Charlotte schaute zu Boden und wurde etwas ernster als ich es von ihr gewohnt war. Ich konnte nicht deuten, ob es daran lag, was die Conservatoire de Paris darstellte oder ob es etwas mit der unbekannten Anna zu tun hatte. Gleichzeitig wusste ich nicht, was ich sagen sollte, daher entschied ich mich stumm zu bleiben, auch wenn ich mir dabei blöd vorkam und mich in Gedanken verfluchte.
„Sie macht Ballet und trainiert fast jeden Tag wie bekloppt…. Talente fordern eben viel!“, sie grinste etwas zu überheblich als sie mich wieder anschaute, „Komm wir gehen.“

Charlotte beugte sich vor und drückte ihre Zigarette an einer der McDonald’s Schachteln aus. Die Tüte hob sie auf und knüllte sie weitestgehend zusammen, während sie auf einen der Mülleimer zusteuerte. Ich tat es ihr gleich und folgte ihr.

Als ich meine Begleiterin endlich einholte, in dem ich ein kleines Stück rannte, blickte sie kurz zu mir. Ihre Mundwinkel glitten dabei für einen Moment wieder auseinander und sie nahm noch einmal meine Hand. Diesmal war ich mehr darauf vorbereitet und genoss es sehr. Stolz erfüllte mich, dass ein Mädchen wie Charly (wie Bernard sie nannte) Hand in Hand mit mir durch die Gegend spazierte.

Ich stellte mir dabei vor, wie wir zusammen eine Parade entlang schritten, wie uns die Menschenmenge links und rechts von uns zujubelte, wie sie Rosenblätter auf uns herab warfen und wie sie sich mit mir freuten…. Die Romantik meiner Vorstellung wurde einzig und allein dadurch zerstört, dass wir in eine metró einstiegen. Schon seit meiner Kindheit fand ich metrós etwas unheimlich. Sie waren grell und unvorteilhaft beleuchtet und ließen alle Menschen wie Zombies aussehen, aber es waren vor allem die geisterhaften Reflexionen die in den Fenstern erschienen, sobald man durch einen Tunnel fuhr, die mich erschauern ließen.

Tatsächlich hatte diese Fahrt nichts Magisches an sich und konnte mit dem bisherigen Abend nicht mithalten, dennoch lag Charlottes Hand in meiner. Ihre Finger mit den schwarz lackierten Fingernägeln bewegten sich selten. Sie saß lässig und entspannt dar und schien vor sich hin zu träumen.

Nur gerne hätte ich durch ein Schlüsselloch in ihren Kopf geschaut und einen Blick auf ihre Gedanken erhascht. So viel an ihr schien unergründet zu sein, was mich sowohl faszinierte und gleichzeitig verschreckte. Sie war so viel, was ich niemals sein konnte. Ihre Art, ihre Einstellung, ihr Mut und ihre Unternehmensfreudigkeit waren so ansteckend, dass man so wie sie sein wollte. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich eine Energie, die nie zuvor da war. Ich spürte, wie in mir der Hunger nach etwas Neuem aufkam, nach etwas noch nie zuvor Dagewesenem. Ich wollte Neues ausprobieren, die Welt erkunden, mutig sein, etwas erleben. Mit Charlotte würde ich Hand in Hand die Welt erobern.

Es stand fest: Ab morgen würde ich mein Leben umkrempeln und meine Lebensroutine ein für alle Mal über Bord werfen!

„Bei der Nächsten musst du aussteigen….“, verkündete mir Charlotte sicher. Sie schien alles zu wissen und in allem sicher zu sein. So wollte ich auch werden!
„… also machen wir Folgendes:“, setze sie an und lächelte mir verschmitzt zu, als hätte sie einen hinterlistigen Plan geschmiedet.
„Ich habe eine kleine Übung für dich.“, sie löste ihre Hand von meiner und griff nach meinem anderen Arm, den sie zu sich zog. Flink schob sie den Ärmel meiner Jacke etwas hoch und ehe ich mich versah hielt sie einen Stift in der Hand und war dabei, mir Zahlen auf meinen Arm zu malen. „Das ist meine Nummer. Wenn du mich sehen willst - und das willst du - rufst du an.“

Mein Brustkorb verengte sich und ich begann leicht zu frösteln. Die Tatsache, dass Charlotte mir geschickt die Zügel in die Hand drückte, überforderte mich und ich hatte Angst, mich versehentlich an ihnen zu erhängen. Zu meinem Bedauern gab meine Kehle auch noch keinen Laut her, sodass ich nicht widersprechen und ihr die Zügel zurückgeben konnte. Ich fühlte mich eindeutig nicht bereit für diese große Aufgabe.

Zusätzlich hielt die Bahn auch schon an meiner Station, jedoch waren meine Knie weich und die plötzlich eingetretene Angst, die diese unerwartete Situation hervorgerufen hatte, ließ mich etwas erstarren, sodass es mir schwer fiel aufzustehen und die metró zu verlassen. Charlotte zog mich förmlich am Arm hoch und geleitete mich zum Ausgang.

„Ich würde mich freuen!“, sagte sie mir zum Abschied, als sie mich durch die Tür schob. Die Türen schlossen sich hinter mir und die Bahn setzte sich in Bewegung.


© Ronia Tading


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