Kapitel 1 –Charlotte-

Mit einem schrillen, von mir so gehassten Alarm, des Weckers, schreckte ich aus meinem geliebten Schlaf. Erschrocken riss ich meine Augen auf, die unmittelbar danach wieder zufielen. Mein Herz verkrampfte sich leicht, da ich wusste, dass ich aufstehen musste. „Mhmmmmmmmm…“, ich zog den Laut extra lang, als würde er irgendwas bewirken.

Leicht blinzelnd öffnete ich die Augen. Der Raum wurde durch die geschlossenen Rollläden stark abgedunkelt, was den Eindruck weckte, es sei mitten in der Nacht. Lustlos setze ich mich auf und rieb mir mit den Handballen die Augen. Als ich die Bettdecke zur Seite schlug und mich die wollig flauschige Wärme des Stoffes ruckartig verließ, lief ein Schauer über meinen Körper – eisige Kälte.

Die Füße in meine plüschigen Tiger Pantoffeln gebettet, schlurfte ich nach und nach zu allen Fenstern und zog die Rollläden hoch. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch die Wolkendecke. Sie legten sich wie ein goldenes Tuch über die Dächer, als ich mein Appartement verließ und aus der Rue Audran trat.

Nach der Schule hatte ich mir vorgenommen ein Jahr zu arbeiten, bevor ich mich dem Studium widmen würde. Ich erzählte allen, dass ich es nicht eilig hatte und stattdessen was erleben wollte, bevor ich mich für ein paar Jahre in eine Bücherei verschanzen würde, aber die Wahrheit war, dass ich nicht genug Geld für das Studium hatte.

Das Café des deux Moulins, das sich an der Kreuzung zur Rue Lepic und Rue Cauchois befand, öffnete mir zwar keine besonderen Türen, verschloss jedoch auch keine. Ich sparte für mein Studium und stand, mehr oder minder selbstständig auf den Beinen. Außerdem hatte ich genug Zeit für meine Schmetterlinge, die jeden Augenblick aus ihrem Raupendasein ausbrechen würden.

Wie jeden Morgen, betrat ich das Café und steuerte direkt auf die hinteren, für Kunden unzugänglichen, Räumlichkeiten zu. Zügig zog ich meine Arbeitskleidung an und gab mich dem alltäglichen Arbeitsleben hin. Eine andere Wahl hatte ich nicht.

„Wie sieht’s heute Abend aus?“, Pierre, der nur den halben Tag arbeitete, hatte nun Feierabend und lehnte an der Theke. „Was ist mit heute Abend?“, ich hatte zuvor einen Berg Geschirr gespült und räumte die Gläser zurück ins Regal.
„Na du weißt schon. Rausgehen. Spaß haben. Das Leben genießen.“, er war das Nachtleben gewohnt und versuchte mich immer wieder zu überreden. Bisher hatte ich mich jedes Mal gut rausreden können. „Komm schon!“
„Ich hab schon was vor!“, log ich nicht überzeugend. „Was denn? Schmetterlinge aus der Haut pulen? Komm schon, Antoine! Seit jeher meidest du soziale Kontakte…“, Pierre war schon immer sehr hartnäckig. „Ich meide nichts, ich bin nur zufrieden, wie es jetzt ist. Warum sollte ich daran was ändern?“ „Die einzigen ‚Freunde‘ die du hast sind Raupen!! Ich biete dir mehr, weitaus mehr. Wann bist du das letzte Mal mit einer Frau ausgegangen?“, mein bester Freund hatte einen wunden Punkt bei mir erwischt. Er kannte mich nur zu gut. „Ausgegangen? Du meinst…. So richtig?“, fragte ich, um Zeit zu gewinnen, obwohl es nichts brachte. Innerlich hoffte ich, dass sich ein Erdloch öffnen und einen von uns beiden verschlucken würde.
„Nein, falsch!“, meine Frage war dumm, das ist leider auch Pierre aufgefallen. „Wann bist du ÜBERHAUPT mal mit einer Frau ausgegangen? Hattest du schon mal ein Date?“
„Najaaa, also….“, ich schämte mich. Ich dachte an meine Schulzeit zurück, als ich von Monsieur Bertrand an die Tafel geholt wurde. Wie er mich gnadenlos immer und immer wieder mit seinen Fragen bohrte, wie ich dahin stotterte, wie mich meine Mitschüler auslachten. Es war keine schöne Zeit. Ich erinnerte mich ungern, doch genau so fühlte ich mich gerade, außer, dass Pierre keinen guten Lehrer abgeben würde. „…. du hast recht! Genauer genommen bin ich noch nie mit einer Frau richtig ausgegangen. Ich weiß nicht…. wie man mit ihnen umgeht.“, es hätte keinen Sinn gehabt zu lügen. Ich war kein Womanizer, ich war ein Spätzünder – und was für einer.
„Warst du schon mal verliebt?“, fragte mich der Mann, der immer mehrere Frauen gleichzeitig im Arm hatte und sich selbst nicht fest binden wollte. „Nein“, antwortete ich, „aber ich bin nicht schwul!“, setzte ich schnell an, als mir bewusst wurde, wie es sich anhörte. „Das weißt du doch gar nicht.“, grinste Pierre. „Doch! Ich….. weiß es einfach.“, ich schaute zu Boden. Die ganze Situation war mir mehr als peinlich. „Beweis es mir!“, Pierre beugte sich leicht nach vorne und schaute mich erwartungsvoll an. „Komm heute Abend mit! Wir gehen in einen Club. Ich stell dir ein paar Leute vor…. und ein paar Frauen!“, er zwinkerte mir zu. Mein Seufzer reichte ihm als Antwort und er wandte sich dem Gehen zu. „Ich hole dich halb elf ab… und lass die Schmetterlinge zu Hause!“, dann ging er fort.

Um kurz vor elf öffnete ich Pierre die Tür und er prustete drauf los. „WAS?!“, fragte ich und merkte, wie ich stark nervös wurde. „zu elegant?“, ich hatte meinen schwarzen Hosenanzug mit Krawatte an, die ich mir sorgfältig mühevoll gebunden hatte. „Alter, wir gehen auf ‘ne Party, nicht auf ‘ne Beerdigung“, sagte Pierre immer noch stark belustigt. „Ich war noch nie auf einer Party.“, gab ich zu, während ich meine Krawatte löste und auf meinen Schrank zusteuerte. „Was trägt man da denn so?“, ich stand ratlos vor meiner mageren Auswahl an Kleidung. Mit nur einem Blick und einem gezielten Griff holte Pierre mir ein schlichtes T-Shirt und eine Jeans raus. „Verwaschen und mit ein paar Löchern würde sie zwar besser aussehen, aber…. Tu mir einfach einen Gefallen und zieh sie dir nicht bis zum Bauchnabel hoch.“, dafür hätte ich ihm eine reinhauen können, wenn ich ihn nicht kennen würde.

Eine Stunde später stiegen wir Franklin D Roosevelt aus und schlenderten die Avenue des Champs-Elysées hinauf. Die Dunkelheit war schon längst hereingebrochen und die Straßen zu den Clubs füllten sich mit jungen Leuten in Partylaune. Wir mischten uns unter sie und erreichten schon bald den Queen Club. Eine lange Menschenschlange navigierte sich an der Wand entlang und wurde von der gläsernen Pforte verschluckt. Der Bass der Musik ließ den Club wie ein Herz pochen. Früher war das der Ort der Zusammenkunft für Homosexuelle, heute wird seine Stilrichtung als „chic“ bezeichnet. Im Inneren war es sehr laut. Die rhythmischen Klänge der Musik verleitete die Mehrheit der Gäste zum Tanzen, was vom flackernden Discolicht begleitet wurde. Pierre schlängelte sich gezielt durch die Menge und, wie durch unsichtbare Ketten angebunden, folgte ich ihm. Am Rande der Tanzfläche in der Nähe der Bar stand eine Gruppe von Leuten, die sich von allen anderen unterschieden. Zumindest sahen sie aus, als seien sie unter sich und würden keinen anderen in ihrer Runde dulden. Pierre steuerte geradewegs auf sie zu. „Piiiieeeeeerre“, rief einer von ihnen und alle anderen schauten zu uns rüber. Pierre trat zu ihnen und sofort unterhielten sie sich angeregt über etwas, was ich nicht hören konnte, obwohl sie gegen die Musik förmlich anschrien. Ich stellte mich wie selbstverständlich hinzu, blickte jedoch um mich, ob sie nicht gleich über mich herfallen würden. Der Kerl, der bei unserer Ankunft Pierre zu sich gerufen hat, flüsterte nun diesem etwas zu, wobei er mich die ganze Zeit ansah. Daraufhin rief Pierre in die Runde: „Hey, jo, Leute, das ist mein Kumpel Antoine. … Er sucht grad ‘ne Freundin.“, beim letzten Satz zwinkerte er mir zu. „Hey, WAS?!“, rief ich ihm zu, doch durch den Lärm der Musik, hörte es sich nach nicht mehr als einem Flüstern an. „Das war so nicht abgemacht, Pierre.“ „Relax.“, meinte Pierre, „hier bist du unter Freunden.“

‚Unter Freunden‘, das war groß gesagt. Ich kannte niemanden und wusste auch nicht wie ich mich hätte in ein Gespräch integrieren sollen. Außerdem empfand ich es als unhöflich sich einfach in ein Gespräch zu mischen. So stand ich da, mitten drin und doch allein. Als sich ein Teil der Gruppe ablöst, um zu tanzen, wurde die Clique übersichtlicher und ich fühlte mich fast schon wohler. Ich bestellte mir eine Cola und stellte mich neben eine Gruppe, die aus zwei Kerlen und einer Frau bestand. Ich stand schon eine Weile dort, als die blonde Frau sich zu mir umdrehte. „Bist du öfter hier?“, ihre weibliche, von Natur aus hohe Stimme ging in der enormen Lautstärke der Musik fast komplett unter. „Waas?!“, fragte ich, wobei ich mich näher zu ihr beugte. „Ich sagte, bist du öfter hier?“ „Ich? Nein, das erste Mal.“ „Bist du alleine hier?“, ich betrachtete sie, während sie zu mir sprach. Sie hatte blondes, mittellanges, stufiges Haar, welches zu allen Seiten stand und vermutlich hatte sie helle Augen. Im grellen, sich ständig bewegenden Licht konnte ich die Farbe nicht genau erkennen. Sie war hübsch. „Ich bin mit meinem Kumpel hier“, ich zeigte in die Menge auf den tanzenden Pierre, an dem sich zwei freizügig gekleidete Mädels rieben. „Pierre, heißt er.“, sagte ich, um zu verdeutlichen, wen ich meinte. „Ach so, Pierre“, wiederholte sie und nickte wissend. „Und wie heißt du?“, fragte sie darauf hin. „Ähm… Antoine… und du?“ „Sehr erfreut, Antoine. Ich bin Charlotte.“, sie lächelte mich leicht verschmitzt an, dabei wirkte sie noch hübscher und irgendwie fühle ich mich zu ihr hingezogen.

Es war schwer sich bei den lebhaften Geräuschen, die die Partynacht von sich gab, zu unterhalten. Doch Charlotte hörte nicht auf mich mit Fragen zu bohren. Sie schien alles über mich wissen zu wollen. Für sie war ich der mysteriöse Kerl, den sie noch nie beim Feiern gesehen hat – der Fremde.
Ich erzählte ihr über meinen Job und über meinen größten Wunsch Lepidopterologie zu studieren. Sie hörte sogar gespannt zu, als ich ihr offenbarte, dass ich Schmetterlinge züchtete.
Als Gegenzug erzählte sie mir von sich. Sie ging auf das Lycée Janson de Sailly. Ihre erste Fremdsprache war Englisch und ihre zweite war Deutsch. Jeden zweiten Abend ging sie feiern. Nach der Schule wollte sie nach Amerika. Mit ein paar Freunden, sagte sie mir, wollte sie für einen alten VW Bus sparen, mit dem sie dann quer durch die USA reisen würden.

Ich war fasziniert von Charlotte! Für ihr Alter war sie sehr selbstbewusst. Sie wusste genau was sie wollte und gab sich nie zufrieden, bis sie es bekam. Sie war der Innenbegriff eines Freigeistes!

Es war kurz nach eins als Charlotte sagte: „Ich will eine rauchen. Kommst du mit raus?“ „Ja, gern“, sagte ich. Ein Gefühl des Stolzes überkam mich. Mir ist aufgefallen, wie die Kerle sie ansahen. Jeder wollte mit Charlotte befreundet sein. Sie war cool. Doch nun wollte sie mit mir raus – mit mir! Auf dem Weg aus dem Club lief ich an Pierre vorbei. Er wirkte leicht betrunken und erzählte den Grazien in seinen Armen scheinbar etwas Witziges, denn nachdem er aufgehört hatte zu sprechen, prusteten sie drauf los und eine von ihnen gab ihm sogar einen Kuss auf die Wange. Ich tippte seine Schulter an:“Pierre... Pierre….PIERRE!“ „Haa?“, mein bester Freund drehte sich, etwas wackelig auf den Beinen, zu mir um. Dabei drehte er auch seine Begleiterinnen mit, da diese ihn von beiden Seiten stützten. „Oh, ANTOOOIIIIINE“, rief er in feierlicher Laune. „Was geeeht, mein Freund?“ „Pierre, wir gehen raus…. Charlotte und ich gehen nach draußen.“, teilte ich ihm mit. Ich tat es nicht der Prahlerei wegen. Ich wollte mich nur bei meinem besten Freund abmelden bevor ich gehe. „Whooooou“, rief Pierre aus, so dass sich auch weitere aus der Clique zu uns drehten, „Charlotte und du? Na, dann mal viel Spaß“. Er grinste mich breit an und ich wurde nervös. Ich wollte nicht, dass es die Anderen mitbekommen. Aber vor allem bemerkte ich erst jetzt, was mir bevorstand – ich wäre das erste Mal alleine mit einer Frau.

Ich schlängelte mich durch die Menge und erreichte schon bald Charlotte am Ausgang. „Hast du alles?“, fragte sie. „Ähm … ja…. Ja, ich denke schon“, entgegnete ich. „Du denkst??“, grinste Charlotte mich an. Wir liefen gerade hinaus.

Draußen war es sehr kühl geworden. Ich zog den Reisverschluss meiner Jacke hoch. Doch Charlotte, die ein weit geschnittenes Top trug, welches ihr lässig von einer Schulter hing, schien kein bisschen zu frieren. Sie zündete sich sofort eine Zigarette an. „Phuuu, was ‘ne Nacht“, sie pustete den Rauch aus. Ganz plötzlich fühlte ich mich dämlich. Mir fiel nicht ein, was ich sagen sollte. Ich war nicht wie Pierre, ich konnte nicht mit lustigen oder gar interessanten Geschichten punkten. Im Grunde hatte ich Charlotte im Club mein ganzes Leben erzählt. Sehr viel mehr gab es da nicht. Langsam verfluchte ich mich dafür, als Charlotte meine Gedanken unterbrach: „Warst du schon mal im Ausland?“ „Najaa“, ich musste überlegen. Auf die Frage war ich nicht gefasst. „Ich war mal mit meinen Eltern in Griechenland und….“ „Du gehst nicht oft raus, kann das sein?“, Charlotte sah mich an und zum ersten Mal sah ich, dass ich ihre Augen grünlich waren. Sofern man es im Laternenlicht erkennen konnte. „Nun, Reisen kostet Geld und…“ „Nein, ich meinte an sich… raus aus dem Haus.“, sie hatte ihre Zigarette fast zu Ende geraucht. „Nein. Ich bin’s nicht gewohnt….. Ich fühle mich wohler, wenn ich allein bin. Findest du das…. doof?“
„Nein“, sie lächelte mich wieder an, „bringst du mich Heim?“
Ich habe nicht erwartet, dass sie mich drum bitten würde. „Selbstverständlich“, erwiderte ich und verbeugte mich leicht vor ihr.

Der Weg zu dem Appartement ihrer Eltern erwies sich als kurz. In nur zehn Minuten standen wir vor ihrer Haustür. Sie holte den Schlüssel raus und stieg bereits die Stufe hoch, doch sie drehte sich noch einmal zu mir. „Wir können das mit deinem Alleinsein ändern.“, sie grinste mich selbstbewusst an, „was hast du morgen nach deiner Arbeit vor?“ „Ich? Nichts“, ich zuckte mit den Schulter. „Gut! Das war auch eine ironische Frage. Dann machen wir morgen was zusammen.“ Sie lächelte zufrieden. Sie wusste ich würde ihr nicht widersprechen. „Ok, gut.“ „Nach der Arbeit hol ich dich ab und dann schauen wir, was der Abend für uns bereithält. Wann hast du Feierabend?“
„Um sechs“, ich merkte, wie ich wieder nervös wurde. Ich war geistig schon beim morgigen Abend.
„Also dann, bis morgen. Gute Nacht“, Charlotte stieg noch einmal zu mir hinunter und zog mich in eine Umarmung zu sich heran. Sie war einen Kopf kleiner als ich, weshalb ich mich zu ihr hinunter beugen musste. „Guten Nacht, Charlotte“, flüsterte ich ihr ins Ohr.
Schließlich drehte sie sich um und verschwand hinter der Tür. Ich stand noch einige Zeit da und starrte auf den Fleck wo sie zuvor gestanden hat. Noch immer konnte ich nicht so recht einsehen, dass dieser Abend real war, dass ich in einem Club war, dass ich Charlotte kennengelernt hatte und dass ich nun mit ihr verabredet war.

Charlotte hatte etwas Magisches an sich. Meine Gedanken spielten verrückt als ich zur nächsten métro lief. Ich war zum ersten Mal mit einer Frau verabredet. Mochte sie mich? Ich mochte Charlotte. Sie war schön, klug, interessant, lustig…. War das ein Date? Was unterscheidet ein Treffen von einem Date? Was zieht man an, zu so einem Anlass? Ich war aufgeregt. Ich würde Pierre um Rat fragen müssen. Es schien, als verspürte ich das erste Mal seit langem so etwas wie Freude. Ja, ich freute mich sehr auf das Treffen mit Charlotte.

Morgen würde ich sie wiedersehen….


© Ronia Tading


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