Schon auf dem Weg ins Studio geht es los. Ich durch die Fußgängerzone. Zu Fuß. Mir kommt eine Frau entgegen. Damit es nicht knallt, weiche ich nach rechts aus. Sie scheint das nicht zu bemerken und schlägt ebenfalls rechts ein. Also von ihr aus links. Ich navigiere wieder nach links. Sie guckt und macht es mir nach. Wir sind uns mittlerweile sehr nahe. Ich bleibe stehen, will sie vorüberziehen lassen. Sie hat dasselbe vor. Wir schauen uns in die Augen. Ich gucke böse, denke, blöde Ziege. Sie lächelt. Ich lächle zurück. Sie nimmt Geschwindigkeit auf und zieht links an mir vorbei. Mein Lächeln versiegt. Ich ärgere mich über sie und habe gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, mich über sie zu ärgern. Ich gehe weiter und ärgere mich, ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich verlasse die Fußgängerzone und ärgere mich, mich überhaupt zu ärgern. Wegen ihr. Der Frau, die nicht gucken kann.

Am Studio angekommen habe ich die Wahl. Treppe oder Fahrstuhl. Die meisten nehmen den Fahrstuhl. Viele von denen kommen sogar mit dem Auto. Wohnen zwar um die Ecke, aber nehmen das Auto. Und dann den Fahrstuhl. Und danach ab aufs Laufband. Sich mal so richtig auspowern. Ich nehme immer die Treppe. Alles andere wäre Selbstverarsche. Ich gucke spöttisch Richtung Fahrstuhl. Zwei Mädchen steigen gerade ein. Kichernd und selbstverliebt. Sie tragen Leggings. Ein Blick auf die Oberschenkel verrät mir, dass sie noch nicht so lange hier sind. Oder sie sind schon lange hier, aber kichern zu viel während des Trainings. Sie sollten keine Leggings tragen, denke ich mir. Oder wenigstens noch nicht.

Oben angekommen werde ich von der Thekenkraft freundlich begrüßt. Ich nicke ihr zu. Draußen auf der Straße würde sie mich keines Blickes würdigen. Aber als Job, wenn man dafür Geld kriegt, ist das natürlich was anderes. Da kann man auch ruhig mal freundlich sein. Andere verkaufen ihren Körper und sie muss mich halt nur freundlich begrüßen.

Umziehen muss ich mich nicht. Am Anfang habe ich immer noch die Umkleidekabinen benutzt. Aber das mache ich schon lange nicht mehr. Es ist eklig. Es ist dreckig. Es stinkt widerlich nach Schweiß. Achselschweiß durchzogen mit verbrauchtem Deodorant. Unzählige Geruchspartikel schwirren durch den Raum. Lösen sich von den schweißdurchtränkten Achseln und finden direkt den Weg in meine Nase. Seitdem ich darüber nachgedacht habe, ziehe ich mich zu Hause um.

Die beiden Mädchen aus dem Fahrstuhl sind scheinbar genauso geruchsempfindlich, denn auch sie haben ihre Sportbekleidung bereits an. Ich gucke ihnen zu, wie sie die beiden letzten Laufbänder belegen. 30€ zahle ich im Monat und immer sind die Laufbänder besetzt. Also stelle ich mich an und warte. Ein etwas älterer Herr ist bereits ganz außer Atem. Lange hält er nicht mehr durch, denke ich mir, und bewege mich schon einmal langsam in seine Richtung. Es ist wie auf dem Parkplatz. Wer die Parklücke zuerst entdeckt, darf rein. Der Mann atmet schwer. Doch sein Wille ist ungebrochen. Von weiter hinten höre ich das vertraute Kichern. Die beiden Mädchen haben schon wieder genug. Dahinter freuen sich zwei Jungs, so schnell an der Reihe zu sein. Der Herr vor mir keucht und hechelt. Weitere 5 Minuten vergehen, bis er dann endlich aufgibt. Ich merke ihm an, dass er gerne noch weiter laufen würde, aber sein Körper ist völlig am Ende. Ich male mir aus, wie die Jahre vergehen und er immer weniger Meter zurücklegen wird, bis er dann irgendwann seinen letzten Meter macht. Vielleicht würde er kämpfen, noch ein paar Meter mehr zu schaffen, aber so sehr er sich auch anstrengt, der letzte Meter würde kommen.

Ich nicke ihm beim Absteigen zu. Fordere ihn mit Blicken auf, die Griffe mit dem dafür bereitstehenden Desinfektionsmittel zu reinigen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber den Unbelehrbaren ist das scheißegal. Er gehört zu den Anständigen und wischt bereitwillig die Griffe ab. Ich warte, bis er fertig ist und ein wenig länger, damit das Desinfektionsmittel einwirken kann. Dann besteige ich das Laufband. Keine 5 Minuten vergehen, da nähert sich mir eine Frau. Ungefähr mein Alter, vielleicht etwas jünger. Bildhübsch. Sie lächelt mich an. Ich lächle zurück. „Sag mal, wie lange brauchst du ungefähr noch?“ Meine Miene versteinert sich. Innerlich. Nach außen lächle ich sie immer noch an „Nicht mehr so lange“, sage ich, „vielleicht so 10 Minuten.“ „Gut, dann warte ich solange“, erwidert sie freundlich. Verpiss dich, denke ich. „Klar, mach das!“ sage ich. Sie lächelt. Ich lächle zurück.

Weil ich es hasse, wenn jemand hinter mir steht, verkürze ich die 10 Minuten auf 5 Minuten. „Schon fertig?“ fragt sie. Leck mich, denke ich. „Ich mach noch schnell die Griffe sauber“, sage ich. Sie lächelt. Ich lächle. Ich mache mich auf den Weg Richtung Fitnessmatten.

Wie immer beginne ich mit Liegestützen. 30 am Stück, mehr schaffe ich nicht. Ich bin bei 27, bei 28, bei 29, da höre ich hinter mir Frauenstimmen, die laut mitzählen. 30, 31, 32. Ich spüre, wie die Kraft auf einmal zurückkommt. Ich nehme die 40. Ich gehe auf die 50 zu. Irgendwann ist Schluss. Ich sacke in mich zusammen. Liege wie bewusstlos auf dem Boden. Hinter mir höre ich, wie weiter gezählt wird. 70,71,72. Ich blicke auf. Hinüber zu den Mädchen. Ich sehe einen durchtrainierten jungen Mann Liegestützen machen. Dahinter drei Frauen, die ihn lauthals anfeuern.

Der junge Mann hat eine Wollmütze auf. Er ist nicht der Einzige. Viele junge Männer laufen herum, die eine Wollmütze aufhaben. Ich verstehe das nicht. Warum hat man beim Sport eine Wollmütze auf? Wollmützen trägt man im Winter, wenn es kalt ist. Aber doch nicht beim Sport. Sehen und gesehen werden, denke ich mir. In jeder Lebenslage eine gute Figur machen. Ich schaue hinunter zu den Füßen. Die Männer tragen vornehmlich Nike. Die Frauen Asics. Eine mit Stöckelschuhen ist nicht dabei.

Der Raum mit den Hantelbänken ist wie immer gut gefüllt. Ein Raum voller Mützenträger. Die meisten kennen sich. Abseits der Herde picke ich mir das schwächste Glied heraus, um seine Hantelbank zu übernehmen. Ich nehme ihn ins Visier. Ebenfalls ein Mützenträger. Arme wie Bindfäden. Keine 20kg auf der Langhantel. „Hallo, können wir uns abwechseln?“, frage ich höflich. „Klar!“ sagt er. Wir wechseln uns ab. Während er dran ist, beobachte ich ihn. Nike Schuhe, Muskelshirt, Halskette. Seine Angepasstheit ist mir zuwider. „Ganz schön warm hier, was?“ bemerke ich. „Das kann man wohl sagen!“, erwidert er mit ungetrübter Freundlichkeit. Während er redet, kratzt er sich an der Mütze. Ein letztes Mal stemmt er die Langhantel, dann verabschiedet er sich Richtung Umkleidekabine.

Ich schaue ihm nach, froh, nun die Bank für mich zu haben. Jemand tickt mir von hinten auf die Schulter. „Können wir uns abwechseln?“, höre ich ihn fragen. „Ich bin sowieso gerade fertig“, sage ich betont genervt. Ohne ihn anzugucken nehme ich mein Handtuch und ziehe von dannen.

Die Blase drückt. Auch das noch, denke ich, denn um zu den Toiletten zu gelangen, muss man durch die Umkleidekabine hindurch. Schon beim Öffnen der Tür kommt mir dieser strenge Schweißgeruch entgegen. Ich versuche, nicht zu atmen. Beim Vorübergehen sehe ich die Mütze des Jungen mit der Langhantel auf der Umkleidebank liegen. Ich schaue mich um. Der Raum ist leer, nur aus der Dusche dringen Geräusche. Irgendetwas überkommt mich. Ich greife hastig nach der Mütze und schmeiße sie bei den Toiletten in den Mülleimer. Mit erleichterter Blase kehre ich zurück. Der Junge steht vor mir. Etwas Trauriges liegt in seinen Augen. „Hi“, sagt er, „hast du zufällig irgendwo meine Mütze gesehen?“ Ich verneine und ziehe eilig an ihm vorüber. An der Tür angelangt, fällt mein Blick noch einmal nach hinten. Dem Jungen direkt auf die Glatze. Auf seinem Hinterkopf prangt ein riesiger Blutschwamm.


© AB


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Kommentare zu "Denkmord an der Langhantel"

Re: Denkmord an der Langhantel

Autor: noé   Datum: 21.06.2014 5:46 Uhr

Kommentar: Tolle Geschichte und auch toll erzählt. Sehr lebendig und nicht ohne unterschwellige Selbstkritik.
Gelungen.
noé

Re: Denkmord an der Langhantel

Autor: Evia   Datum: 24.08.2015 9:05 Uhr

Kommentar: Schön dich zu lesen ...

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