Es gab einmal eine Zeit, da erzählten Mütter ihren Töchtern vor dem Schlafengehen eine Geschichten von Giselle. Das Mädchen hatte ein schwaches Herz, tanzte jedoch so leidenschaftlich gern, dass sie bereits in jungen Jahren daran starb und in das Reich der Wilis ging. Dort darf es all die Mädchen, die tanzend gestorben waren, noch bevor sie vor den Traualtar geführt werden konnten. Die Wilis zeigten sich nur zwischen Mitternacht und Morgengrauen, und die Menschen verwechseln die Gestalten leicht mit Nebelschwaden, die tief zwischen den Bäumen hängen. Doch wer ganz still und lauschte, kann auch heute manchmal hören, wie Giselle den anderen Mädchen ihre traurige Geschichte erzählt: „Ich lebte mit meiner Mutter in einem kleinen Dorf am Rhein. Eines Tages, es war der Tag der Weinlese, klopfte es überraschend an unsere Tür. Als ich öffnete, konnte ich draußen niemanden entdecken. Aber ich nutzte die Gelegenheit, eine kleine Pause von der Hausarbeit zu machen, lief hinaus in den Garten und tanzte dort fröhlich umher. Da trat plötzlich Albrecht, mein Verlobter, hinter der Haushecke hervor. Er hatte sich dort versteckt, um mich zu erschrecken. Ich tat als wäre ich deshalb gekränkt, wand mich aus seinem Armen und tanzte ihm davon. Schließlich gelang es ihm doch, mich einzufangen, und wir tanzten durch den Garten. Wir waren beide so ausgelassen, dass wir gar nicht gemerkt, dass Hilarion, der Wildhüter, die ganze Zeit eifersüchtig hinter einem Busch kauert und alles mit ansah. Plötzlich stürzte er sich wütend zwischen uns. In diesem Moment kam meine Mutter aus dem Haus. Sie sah es ungern, wenn ich tanzte, denn wegen meines schwachen Herzens durfte ich mich nicht anstrengen. So begleitete ich sie folgsam zurück ins Haus. Wenig später klopfte es wider an der Tür. Eine Jagdgesellschaft stand im Garten und bat um eine Erfrischung. Unter ihnen war auch Prinzessin Bathilde, die von meiner großen Tanzleidenschaft wußte. Sie bat mich, ihr meinen Lieblingstanz vorzuführen. Meine Mutter hatte Prinzessin gleich in ihr Herz geschlossen und lud sie zusammen mit ihrem Vater, dem Prinz von Kurland, in unser Haus ein. Inzwischen kamen meine Freundinnen von der Weinlese zurück. Ich bat sie in unseren Garten. Wir hatten uns gerade zum Tanz aufgestellt, da trat Albrecht in unsere Mitte, und wir tanzten. So bemerkten wir beide nicht, dass Hilarion in unseren Garten drängte. Er trug einen wertvollen Degen, den er mir wortlos gab. Ich sah ihn fragend an. Da erklärte er mir, Albrecht sei der Besitzer des Degens. Albrecht bestritt dies jedoch lautstark. Durch den Lärm herbeigerufen, kamen Bathilde und ihr Vater aus dem Haus. Albrecht ging auf die Prinzessin zu und kniete vor ihr nieder. Ich war sehr verwirrt und versuchte Prinzessin Bathilde zu erklären, dass Albrecht mein Bräutigam sei. Da zeigte sie mir den Ring an ihrem Finger, den sie von Albrecht bekommen hatte. Voller Wut und Enttäuschung lief ich mich an den Walzer, bei dem Albrecht mich eben noch so liebevoll und vertraut in den Armen gehalten hatte. Ich versuchte ein paar Schritte zu tanzen, um mich aufzuheitern. Doch meine Arme und Beine waren schwer wie Blei, trotzdem tanzte ich und tanzte ... Es war eher ein Taumeln als ein Tanzen; meine Wut und Enttäuschung verwandelten sich in besinnungslose Erschöpfung. Schließlich fiel ich schwankend in Albrechts Albrechts Arme. In diesem Moment brach mein Herz, und ich sank tot vor seine Füßen nieder. Da weinte Albrecht bittere Tränen und gestand, dass er nur aus Angst vor seiner herzoglichen Familie und dem Verlust seiner Ehre die Verlobung die Verlobung mit Bathilde aufrechterhalten hatte. In Wahrheit habe er immer nur mich geliebt. Und er schwor mir ewig Treue über den Tod hinaus.“ Schluchzend beendet Giselle ihr Traurige Geschichte. Doch eigentlich ist Giselles Geschichte hier noch gar nicht zu Ende. Wie sie weitergeht, wissen allerdings nur die Willis und Albrecht. Aber der hat sie niemand verraten ... Noch in derselben Nacht, als Giselle unter einer kleinen Baumgruppen nahe eines Sees zu Grabe getragen worden war, kam Albrecht in den Wald, um die letzte Ruhestätte seiner Liebsten zu besuchen. Eine Gruppe von Jägern kreuzte seine Weg, unter ihnen befand sich Hilarion. Plötzlich schienen zwischen den Bäumen geheimnisvolle Lichter auf. Die Jäger erschraken und ergriffen panisch die Flucht. Doch eine totenbleiche, fast durchsichtige Gestalt in wehendem Gewand schwebte über den Fliehenden und zog Hilarion auf wundersame Weise zurück zur Baumgruppe. Albrecht hatte sich hinter einem Baum versteckt und die Szene klopfend Herzens beobachtet. Er erinnerte sich an die Geschichte von den Wilis, die die Mutter seine Schwestern jeden Abend vor dem Schlafengehen erzählt hatte. Die Gestalt in dem weißen Gewand musste Myrtha, die Königin der Wilis, sein!
Hilarion war in ihren magischen Kreis geraten, und seine einzige Möglichkeit, dem Zauber zu entkommen, war zu tanzen, bis die Sonne aufging. Denn mit dem Morgengrauen brach die Macht der Wilis. Doch Hilarion war zu schwach, um so lang durchzuhalten, und schon nach kurzer Zeit trieben ihn die Wilis in den Tod. Myrtha befahl ihren Mädchen, in die Tiefe des Waldes zurückzukehren, und sie entfernten sich vom See wie Nebelschwaden, die durch die ersten Sonnenstrahl verdunsten. Nur Giselle blieb heimlich zurück, denn im Licht des Mondscheins hatte sie Albrecht zwischen den Bäumen entdeckt. Leise schlich sie sich an ihn heran und legte ihm liebevoll die Hände über die Augen. In diesem Moment kamen die andern Wilis zurück und entdeckten Albrecht. Myrtha verlangte von Giselle, ihn in den Tod zu tanzen. Verzweifelt beschwor Giselle die Königin, ihren Geliebten zu schonen. Aber ihr flehen war vergebens, Albrecht musste tanzen. Und er tanzte so kraftvoll und energisch wie nie zuvor. Aber die Zeit war noch lang bis zum Morgengrau, und Albrecht wurde immer schwächer. Unerbittlich trieben ihn die Wilis an weiter zu tanzen, bis zur völligen Erschöpfung. Doch da, genau im rechten Augenblicklich, ertönt der rettende Glockenschlag einer fernen Kirchturmuhr, der den anbrechenden Morgen verkündet, und die Wilis verloren mit einmal ihre Macht. Wie Morgennebel lösten sie sich auf und verschwanden zwischen den Bäumen. Albrecht war in Sicherheit. Als er die Augen aufschlug, kniet er vor Giselles Grab, ihm war, als erwachte er gerade aus einem tiefen Traum. Da erschien Bathilde und Wilfried in der Waldlichtung. Sie hatten Albrecht die ganze Nacht lang gesucht und waren froh, ihn endlich gefunden zu haben. Heutzutage sind die Wilis fast vergessen. Nur wenige Mütter erzählen ihren Töchtern vor dem Schlafengehen die Geschichte von dem Mädchen Giselle. Doch wenn in der Zeit zwischen Mitternacht und Morgengrauen Nebelschleier in den Wäldern hängen, kann man, wenn man genau hinschaut, auch heute noch Giselle und ihre Gefährtinnen tanzend sehen.


© Camille


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Beschreibung des Autors zu "Giselle"

Manchmal, kann die Liebe zum Tod fürhren. Aber die Liebe kann auch über den Tod hinausfürheren.

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