Ihre Schritte lassen dein Blut schneller fließen. Du hältst den Atem an. Hoffst, dass sie stehen bleibt. Nur einmal Ihren Duft durch mein Fenster, willst du sagen und verharrst unsichtbar hinter dem zitternden Vorhangstoff. Würde die qualmende Stadt sie nicht verschlucken, stiegen die Gerüche der Nacht aus ihrem Haar. Dem nassen, das ungezählte Stundenschläge zuvor mit ihr, zur Verführung frisiert, in ein Taxi gestiegen war.

Du hast die Nachbarinnen darüber reden hören. Als diese im Treppenhaus einander begegnet waren. Auf der Höhe deiner Tür. Dabei hattest du nur horchen wollen, wann sie die Treppe herunter kommt. Wie an den anderen Tagen hätte der Hauch ihres Vorbeigehens deine Nase kitzeln sollen, wenn er sich durch die Messingbeschläge deiner Tür kräuselt und du deine Stirn gegen den zersplitterten Lack des Holzes presst. Doch diesmal warst du zu spät. Hattest stattdessen auf allen Vieren unter dem Tisch Scherben gesammelt, mit den Händen über den von Cola klebrigen Boden getastet und das zersprungene Glas auf die Kehrschaufel sortiert. Es war der Schreck, der dich durchfahren hatte, als Krallen sich urplötzlich in deinen Waden verfingen. "Louis, du sollst doch nicht ... sieh nur, was wir angerichtet haben."

"Wie hübsch sie sich wieder zurecht gemacht hat. Hat wohl jetzt einen Freund. Das ist ihr ja auch wirklich zu wünschen. Dieses Unglück mit ihrem Mann", hatten die Nachbarinnen einander zugeflüstert, als du endlich hinter der Tür standest. Mit noch klebrigen Fingern und schnurrendem Fell, das sich um deine Beine schlängelte, den Kopf dagegen drängte, als würde es um Verzeihung bitten.
Die alte Knüttel aus dem dritten Stock und die Maier aus dem Hochparterre hatten mit ihren Worten deinem Herzen Stiche versetzt. Schmerzverzerrt war dein Gesicht zur Brust gesunken, und deine Finger hatten sich in die hundertjährigen Holzfacetten gekrallt, denn du weißt, dass es nicht so ist. Du weißt es, weil du aufmerksam genug bist, ihr Geheimnis zu kennen. Du hast dich gegen das Holz gedrängt, als könntest du so im Nachhinein noch etwas von deinem Ritual vollziehen. Du wolltest mit der Wonne, die sie mit ihrem Gang an deiner Tür vorbei in dir hinterlässt, gesättigt und erfüllt am Klavier sitzen. Die Tasten streicheln, als wären es die zarten Glieder ihrer Finger. Die du manchmal spürst, wenn sie dir Geld in deine Hand legt.

Moon River. Henry Mancini hat dir die Noten geschenkt, die sich jeden Abend salzig auf deine Wangen legen, wenn sie das Haus verlassen hat, und deren Klänge durch den Abend tanzen. Dann geben sich seine Melodie und ihr Duft, den du aus dem Treppenhaus gerettet hast, die Hände und erfüllen deine dunklen Stunden mit bittersüßem Glanz. Jeder angeschlagene Ton fliegt hinaus und sinkt schaukelnd auf den Asphalt. Jedes gespielte Lied leert den Bordeaux und deinen Kopf.

Die Flasche wird hohl klingen, wenn du sie zu den anderen räumst, und wenn der Nachtbus später angehalten hat, wird sie unter deinem Fenster ihre Füße auf die gefallenen Töne setzen und dein Herz wird im Takt ihrer Schritte schlagen und dein Blut schneller fließen lassen. Der Vorhangstoff wird zittern und das Shampoo des Stundenhotels würde ihre Unschuld verklären. Doch die Stadt saugt alles auf. Der Nachtbus fährt lärmend vorbei.

Du ahnst den Regen, der aus ihren Augen tropft. Wütender Glanz würde darin zu sehen sein. Du ahnst das Knistern der Scheine in ihren Taschen und hebst das letzte Glas zum Mund. Schwer fällt die Eingangstür zum Haus ins Schloss. Das weiche Fell liegt schnurrend auf dem Klavierhocker. Du streichst darüber und lässt dich in den Sessel fallen. Ihre Schritte entfernen sich im Treppenhaus bis sie im Dachgeschoss verklingen. Sanft schließt sich dort ihre Tür. Das Kind schläft. Du stellst dir vor, wie sie leise ihre Kleider abstreifen wird, nachdem sie einen prüfenden Blick auf das friedlich schlafende Gesicht geworfen hat, das dem schwarz umrahmten Bild auf ihrem Nachttisch immer ähnlicher wird. Du hast es die Nachbarinnen sagen hören.

Das Kind ist begabt. Du magst sein Talent und sein sanftes Lachen, wenn du es lobst. Du magst seine Neugier. Die offene Art, mit der es dich fragte, was denn passiert sei. Seit dem kaufst du extra diese Pfefferminzkissen, die es so gerne nascht. Rosa und weiß sind die. Das weißt du. Du stellst das Schälchen auf den kleinen runden Rauchertisch, in dessen Messingplatte Jagdmotive kleine Hände zum Berühren verführen. Das Kind setzt sich zuerst ein paar Minuten an den Tisch, wenn es kommt. Lutscht Pfefferminzkissen. Rosa mag es am liebsten. Dabei fahren seine Finger gemeinsam mit deinen über die Geweihe der Hirsche und die Gewehre der Jäger. Und du erzählst deine Geschichte. Weil das Kind dich danach fragt. Bis das schnurrende Fellknäuel dazwischen springt und sich auf die Wipfel der Bäume und die auffliegenden Enten und den gesamten Himmel legt. Dann erklingt wieder dieses sanfte Lachen und der Platz auf dem Klavierhocker ist frei. Das Kind zeigt dir stolz, was es geübt hat. Die Töne reihen sich wie ein Verband aneinander und legen sich auf deine Seele. Und du spürst, dass es nur für dich spielt. Moon River.

Um halb fünf kommt die Katze nach Hause. Du lässt sie in die Nacht, sobald die Tür sich oben geschlossen hat. Wenn du zurück kehrst, läuft meist Wasser durch die Fallrohre, die in der Ecke deiner Küche alle übereinander liegenden Wohnungen miteinander verbinden. Manchmal legst du deine Hand darauf. Spürst die Vibrationen, die die Spülvorrichtung hinterlässt.
Dann weißt du, dass sie für den Rest der Nacht fertig macht. Und du fragst dich, woran sie beim Einschlafen denkt. Ihre Abscheu muss sie auf dem Asphalt liegen lassen, auf dem du ihr jede Nacht deinen Notenteppich legst. Denn wenn sie das Haus betritt und am frühen Morgen zu ihrer Arbeitsstelle verlässt, hat sie das unschuldige Wesen eines Engels. Sie geht zum ersten mal durch die schwere Eingangstür hinaus, wenn die Katze nach Hause kommt.

Sie weiß nichts von deiner Sehnsucht. Manchmal reden die beiden Nachbarinnen auch über dich. Die alte Knüttel und Frau Maier, "Wie er das nur macht, der Arme. Dass er immer noch so schön Klavier spielen kann. Ein Wunder möchte man sagen. Nicht wahr? Ein richtiges Wunder"

Bei ihr hast du das Gefühl, dass es ihr egal ist. Wenn du mit dem Stock leise gegen die erste Stufe schlägst, dich am Geländer hältst und das rechte Bein über die Steine ziehst, hörst du schon ihr "Guten Morgen" und das sanfte Lachen, das du so magst.
Sie lässt ihrer Stimme nichts anmerken. Vielleicht hat sie sich einfach an deinen Anblick gewöhnt.
Gestern wollte das Kind dein Gesicht berühren. Es hat so gar keine Angst. Hat deiner Geschichte gelauscht, die du nur langsam erzählen kannst, weil die Haut so spannt. Hat die Seite deines Kopfes berührt, auf der kein Haar mehr wächst. So sanft, wie es seine Finger auf die Tasten des Klaviers legt, oder gemeinsam mit dir über die Geweihe der Hirsche streicht. So sanft ist es über die Furchen deiner Narben gefahren.

Das Rauchen hast du aufgehört. Der Tisch ist Erinnerung an eine vergangene Zeit. Die Bilder, die an den Wänden hängen und dich auf Konzerten zeigen, siehst du nur in deiner ewigen Nacht. Das Kind betrachtet sie oft. Sagt dir, wie schön du warst und dass es auch einmal so schön an einem Flügel sitzen will.

Am Vormittag wird sie dich wieder anlächeln. Du wirst es spüren, in ihren Worten. Sie wird die Musikschule für das Kind bezahlen und dir dein Brot verkaufen. Du wirst ihre zarten Finger spüren, wenn sie deinen Handrücken in ihre Hand nimmt, ihn hält und das Geld hineinlegt. Dann wird sie dir helfen wollen, den Einkauf zu verstauen. Du wirst es beschämt annehmen, deinen Hut zum Abschied heben und dir leise klappernd den Weg hinaus und die Stufen hinab suchen. Erst draußen wirst du wieder tief durchatmen und deinen Herzschlag beruhigen können.

Wovon du nichts weißt, ist die Liebe, mit der sie jeden Tag durch deine Narben hindurch und dir anschließend hinterher sieht. Und du ahnst nicht, wie sehr sie sich jede Nacht wünscht, dass die Melodien, die aus deinem Fenster auf den Asphalt tropfen, für sie bestimmt sind. Jedes mal, wenn sie sich dem Haus nähert, verstummt deine Musik, und wenn sie mit vor Wut glänzenden Augen in ihrer Manteltasche nach den Scheinen tastet und sich dem Eingang des Wohnhauses nähert, hört sie nur den Motor des Nachtbusses.

Um halb fünf kommt die Katze nach Hause. Sie wird durch die schwere Eingangstür in den Tag hinaus treten, das Fellknäuel hinein lassen und nichts ahnen von deiner Sehnsucht, die dich durch den Tag trägt. Sie dankt für die zarten Bande, die das Kind zu dir geknüpft hat und lässt ihre Abscheu vor sich selbst nachts auf dem Asphalt. Und dir bleibt nur das Rauschen des Blutes bei Nacht. Wenn du ihre Schritte hörst und die qualmende Stadt ihren Duft verschlingt.


© Jo Lenz


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Beschreibung des Autors zu "Um halb fünf kommt die Katze nach Hause"

Manchmal ergeben Tweets eine Geschichte. Sie entsteht einfach so. Dem ersten folgen drei oder vier weitere, ohne Plan. Der vorstehende Text ist aus so einer Tweet-Geschichten-Idee entstanden. Viel Spaß beim Lesen und ich freue mich über Feedback ;-)

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